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Erbgut aus der Retorte

Allgemein

Erbgut aus der Retorte
Amerikanische Gen-Forscher haben künstliche Chromosomen hergestellt, die der Gentherapie zum Durchbruch verhelfen sollen. Doch Kritiker bescheinigen ihnen „ kindliche Euphorie“.

So eine Gelegenheit bekommen John Harrington und seine vier Kollegen kein zweites Mal. Anfang April standen die Forscher von der Case Western Reserve University in Cleveland, USA, tagelang im Scheinwerferlicht der Medien. Ihr Bericht, daß sie erstmals „künstliche menschliche Chromsomen“ hergestellt hätten, sorgte im Nachhall des Klon-Schafs „Dolly“ auch hierzulande für Schlagzeilen.

Harrington hofft, „bis in einem Jahr“ ein Baukastensystem zu entwickeln, mit dem sich beliebige Genmodule zu einem maßgeschneiderten Chromosom zusammensetzen lassen. Und schon „in fünf Jahren“ könnten solche Designer-Chromosomen bei Gentherapieversuchen eingesetzt werden.

Doch ausgerechnet die Gentherapie-Forscher reagierten kühl auf die Ankündigungen aus Cleveland. „Ein klarer Fall von Medienrummel“, meint Thomas Boehm vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, der vor drei Jahren das Konzept des Freiburger Gentherapie-Experiments mit entworfen hat. Was die Forscher in „Nature Genetics“ beschrieben hätten, sei weit entfernt von einer verläßlichen Methode, Erbgut gezielt in menschliche Zellen zu schleusen. Boehm: „Möglicherweise hatten die Amerikaner einfach nur Glück.“ In der Tat ist es den Forschern bislang erst einmal gelungen, ein völlig eigenständiges neues Erbgutpaket in Krebszellen einzuschmuggeln.

Aber immerhin: Obwohl es 10- bis 50mal kleiner war als die 46 eigenen Chromosomen der in Kulturschalen wachsenden Zellen, verhielt sich das künstliche Chromosom wie die Originale. Bei jeder Zellteilung wurde das Stück Erbgut zuerst verdoppelt, dann verteilten sich die beiden Kopien säuberlich auf die beiden Tochterzellen – über ein halbes Jahr und etwa 240 Generationen lang.

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Viele Experten hoffen, daß das Verfahren ihrer amerikanischen Kollegen erklärt, warum es manchmal zu Unfällen wie dem „Down-Syndrom“ kommt, bei dem die Körperzellen 47 statt der normalen 46 Chromosomen enthalten.

Solche Fragen ließen sich bislang wegen der schieren Größe menschlicher Chromosomen praktisch nicht untersuchen. Jedes Erbgutpaket enthält mehrere 1000 bis 10000 der insgesamt etwa 100000 Gene des Menschen. Jedes dieser Gene ist ein kurzer Abschnitt auf dem zentimeterlangen Erbgutfaden, den ein Chromosom enthält. Zwischen diesen Gen-Passagen enthält das Erbgut lange Abschnitte, in denen die „Bedienungsanweisungen“ des Chromosoms untergebracht sind.

Auf den Chromosomen der Bierhefe, deren Herstellung bereits vor über zehn Jahren gelungen ist, haben Forscher drei entscheidende Werkzeuge identifiziert, ohne die ein Chromosom nicht von der Mutter- auf die Tochterzellen vererbt wird:

Auf dem Erbgutfaden muß sich ein sogenannter Ursprung der Replikation befinden. Dort lagern sich die Enzyme an, die von jedem Chromosom zwei identische Abschriften herstellen.

Da diese Verdopplungs-Enzyme an den Enden der Chromosomen nicht funktionieren, sitzen dort „Telomere“, die verhindern, daß die Chromosomen an den Enden zu kurz werden.

Die sogenannte Centromer-Region sorgt dafür, daß die beiden Kopien korrekt verteilt werden. Die Tochterzellen heften dazu einen dünnen Zugfaden an das Centromer und angeln sich eine der beiden Chromosomen-Kopien.

Obwohl Forscher seit Jahren vermuten, daß auch die Weitergabe menschlicher Chromosomen auf diesen drei Elementen beruht, ist der experimentelle Beweis bislang ausgeblieben: Während bei der Hefe ein einziger Zugfaden zur Verteilung genügt, muß das Centromer der bis zu 300mal längeren menschlichen Chromosomen Platz für ein Dutzend dieser Fasern bieten. Und damit die Verdopplung des Erbguts nicht Wochen dauert, sind in menschlichen Chromosomen gleich Hunderte von Startpunkten zum stückchenweisen Kopieren eingestreut.

Die amerikanische Forschergruppe hat in ihren Experimenten nur zwei Elemente – Telomere für die Enden und Centromere für die Anheftung der Zugfasern – in Reinform hergestellt. Um auch eine ausreichende Anzahl von Startpunkten sicherzustellen, haben die Forscher Erbgut aus Blutzellen eines Labor-Mitarbeiters extrahiert und mit den beiden übrigen Zutaten vermischt.

Auch das Problem, diese drei Ingredienzen in der richtigen Abfolge zu einem Chromosom zusammenzufügen, haben die Biotechniker eher umgangen als gelöst, indem sie das Erbgut-Gemisch einfach in einer Plastikschale auf mehrere Millionen Krebszellen träufelten. Neun Zellen setzten aus dem Inhalt der kleinen Erbgutröpfchen ein neues Chromosom zusammen, doch nur bei einer einzigen Zelle schien das neue Miniatur-Chromosom allein aus den drei Zutaten zu bestehen.

Offen ist, ob sich diese eher an Bleigießen erinnernde Technik überhaupt nutzen läßt, um ein Chromosom mit vorhersagbarem Aufbau zu erzeugen. Die Methode ist „absolut nicht reproduzierbar“, glaubt Thomas Boehm. Keine Sicherheitsbehörde würde ein solches Verfahren zur Behandlung von Menschen zulassen.

Burghardt Wittig vom Zentrum Somatische Gentherapie der Freien Universität Berlin bescheinigt seinen amerikanischen Kollegen gar „kindliche Euphorie“. Doch der Blick auf den zweiten Arbeitgeber der amerikanischen Forscher zeigt, daß hinter dem Optimismus keineswegs Naivität steckt. Harrington ist Vizepräsident eines kleinen Biotechnologie-Unternehmens, dem die kommerziellen Rechte an der Methode gehören. So sind seine Ankündigungen wohl weniger an die Fachwelt gerichtet als an die Adresse zahlungskräftiger Investoren.

Klaus Koch

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