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Ewige Jugend unerwünscht

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Ewige Jugend unerwünscht
Ewige Jugend Forscher verstehen die Hintergründe des Alterns immer besser: Die Prozesse sind komplexer als sie bislang dachten. Altern und Tod scheinen demnach ein zwangsläufiger „Betriebsunfall“ des Lebens zu sein.

Zunächst schien alles bestens. Tithonos hatte sich in Eos verliebt. Und die Göttin der Morgenröte erwiderte seine Gefühle. Doch sie konnte es nicht ertragen, dass ihr Geliebter eines Tages würde sterben müssen. So bat sie Zeus, Tithonos Unsterblichkeit zu verleihen. Zeus war milde gestimmt und gewährte Eos Begehr. Tithonos wurde unsterblich – aber trotzdem mit jedem Tag älter. Welch bitteres Schicksal! Eos hatte vergessen, für ihn auch ewige Jugend zu erbitten. Ohne göttliche Hilfe sind Menschen sterblich, und bevor der Tod sie ereilt, altern sie. Seit der Antike suchen sie nach Wegen, diesen Prozess zu stoppen oder seine Folgen zu mäßigen – bisher mit wenig Erfolg. Dafür sind die Grundlagenforscher umso erfolgreicher. Sie entdecken immer mehr beteiligte Gene und Biomoleküle. Viele davon sind Mitspieler bei einem gnadenlosen biologischen Handeln und Schachern. Das Ziel dieses Geschäftemachens ist die sichere Fortpflanzung. „Für mich gibt es nur eine Erklärung“, sagt Prof. Leonhard Hayflick, der 75-jährige Altmeister der Alternsforschung von der University of California in San Francisco. „Altern ist die nachlassende Funktionstüchtigkeit der Moleküle eines Organismus, und das beginnt bei Tieren nach der Reproduktionsphase. Die natürliche Selektion fördert die Entwicklung von Prozessen, die einen Organismus fit halten, nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sich normalerweise erfolgreich fortgepflanzt hat. Danach kümmert sich die Natur nicht mehr darum, was mit dem Organismus passiert. Deshalb altert er.“ Ein Sterblichkeitsgesetz, das der Versicherungsmathematiker Benjamin Gompertz schon 1825 entdeckte, unterstützt heute diese These über den biologischen Grund des Alterns. Danach hat die Sterblichkeit des Menschen um den Eintritt der Geschlechtsreife ihren Tiefstpunkt, und anschließend steigt sie exponentiell an. Jay Olshansky und Bruce Carnes von der Universität Chicago nahmen sich vor kurzem das Gompertz-Gesetz noch einmal vor und stellten fest, dass es nicht nur für Menschen, sondern auch für Hunde und Mäuse gilt – natürlich nur, wenn sie nicht durch Unfälle, Hunger oder Feinde ums Leben kommen. Bei allen Tierarten besteht ein Zusammenhang mit der Dauer der fortpflanzungsfähigen Phase: Arten, die erst spät in die Pubertät kommen und sich lange fortpflanzen, leben länger. Dieses Phänomen kann man sogar im Experiment künstlich herbeiführen. Je mehr man bei Labortieren die Fortpflanzungsphase nach hinten verschiebt, desto älter werden sie. Auch in der Natur gibt es Beispiele dafür: So werden Oppossums und Guppies älter, wenn sie in einem Territorium ohne Fressfeinde leben. Und in Zoos sowie an Haustieren kann man diesen Prozess ebenfalls beobachten. Der Biologe Thomas Kirkwood von der britischen Universität Newcastle upon Tyne sieht daher in den Alternsprozessen das evolutionäre Resultat eines lebenslangen Feilschens um limitierte Ressourcen. Seinen Überlegungen zufolge wird die Energie, die einem Organismus im Laufe seines Lebens zur Verfügung steht, auf zwei Prozesse verteilt: auf die Fortpflanzung und auf den Erhalt der Gesundheit. Ein Beispiel: 90 Prozent aller in der freien Natur lebenden Mäuse sind schon nach 10 Monaten tot, die meisten davon durch Erfrieren. Von jeder Investition in Überlebensprogramme für eine längere Zeitspanne könnten also nur 10 Prozent der Population profitieren. „Für die Maus, die nur kurz lebt, wäre es erheblich günstiger, sie steckte alle Ressourcen in die Reproduktion als in die Verbesserung der DNA-Reparatur“, sagt Kirkwood. Indes sollten Organismen, deren Sterblichkeit aufgrund äußerer Einflüsse gering ist, eher Mechanismen entwickeln, die die Funktion der Zellen und die Gesundheit des Organismus langfristig erhalten. „Disposable Soma“ (Wegwerf-Körper) nennt Kirkwood sein Konzept. In der Natur findet er dafür viele Belege. So betreiben Tiere, die natürlicherweise lange leben – wie Fledermäuse, Schildkröten und auch Menschen – einen großen Aufwand, um ihr Leben effektiv zu schützen. Zum Beispiel haben sie schützende Körpermerkmale: Flügel, Panzer oder ein großes, leistungsfähiges Gehirn – und sie werden spät geschlechtsreif. Auch diese Kosten/Nutzen-Abwägung lässt sich im Labor rekonstruieren: Wenn man Taufliegen auf Langlebigkeit züchtet, werden die Tiere erst später fruchtbar. Der britische Evolutionsbiologe George Williams sieht die Zusammenhänge zwischen Altern und Fortpflanzung noch drastischer. Für ihn betreiben die „Alterungs-Gene“ ein perfides Doppelspiel. Seine These: Die Evolution nimmt es nicht nur billigend in Kauf, dass die Lebewesen nach ihrer Fortpflanzungsphase verfallen, sie fördert es sogar. Sie lässt aggressive Gene, die im Alter schaden, das Überleben in der jungen und sexuell aktiven Lebenszeit fördern. Inzwischen haben die Forscher einige Beispiele für solche Alterungs-Gene gefunden: etwa das Selbstmord- und Krebsschutz-Gen p53. Als Sicherheitsbeauftragter registriert p53 Schäden an der Erbinformation oder oxidativen Stress in der Zelle – und schickt die Zellen in den Selbstmord, wenn sie zu stark geschädigt sind. Neuen Untersuchungen zufolge muss die Aktivität des Sicherheitsbeauftragten fein ausbalanciert sein. Bilden Ratten oder Mäuse mehr p53 als gewöhnlich, dann schützt sie das zwar effektiv vor Krebs, aber es lässt sie auch schneller altern. Zu wenig p53 dagegen unterstützt das Entstehen von Tumoren und lässt die Tiere früh an Krebs sterben. Die Evolution scheint also keinen besonderen Wert auf Langlebigkeit oder gar Gesundheit im hohen Alter zu legen. Trotzdem gibt es Menschen, die diesen Kampf der Gene um Fortpflanzung und Energieressourcen besser und länger überstehen als andere. Den Rekord hält die Französin Jeanne Calment – sie wurde 122 Jahre alt. Langlebige Menschen scheinen selbst unter widrigen Bedingungen sehr robust zu sein. Bei einer Studie mit Amerikanern, die 90 Jahre oder älter waren, stellte Prof. Thomas Perls von der Harvard University fest, dass die meisten der befragten Hochbetagten nur in Ausnahmefällen Bekanntschaft mit Krankenhäusern gemacht hatten. Und das, obwohl sie in einer Zeit aufgewachsen waren, als Kinderlähmung und Grippe grassierten, mangelhafte Ernährung und starkes Rauchen üblich waren. Auch im Alter erwiesen sie sich als widerstandsfähig und fit. Diese robusten Menschen haben es den Populationsgenetikern und Alternsforschern angetan. In den Genomen von hochbetagten Menschen aus ausgewählten japanischen und amerikanischen Bevölkerungsgruppen suchen sie zurzeit nach Genen, die hohes Alter begünstigen. Die erste, vor kurzem abgeschlossene Studie aus diesem Projekt führte Thomas Perls von der Harvard University auf die Spur eines Gens auf Chromosom 4. Ein anderes Gen namens „ Klotho“, das vermutlich am Kalzium-Stoffwechsel beteiligt ist, hat dagegen das Interesse von Forschern der Hopkins University in Baltimore geweckt. Sie entdeckten, dass bestimmte Klotho-Varianten fast nur bei alten Menschen vorkommen. Warum das so ist und warum Mäuse ohne Klotho schnell altern, wissen sie noch nicht. Insgesamt rund 70 Gene, die die Geschwindigkeit des Alterns beeinflussen, haben verschiedene Forschergruppen bei der Hefe, bei Nematoden, Taufliegen, Mäusen und Menschen gefunden. Aber nur bei wenigen Genen gibt es bis jetzt Hinweise, wie sie den Alterungsprozess beeinflussen. Ein Beispiel ist die Kontrolle des Energiestoffwechsels. Die Forscher wissen schon seit Jahren, dass Hefe, Fadenwürmer und Nagetiere länger leben, wenn man sie auf Diät setzt. George Roth und seine Kollegen vom National Aging Institute in Baltimore fanden jetzt heraus, dass auch Affen bei magerer Kost länger leben. Bei diesen Tieren entdeckten sie drei typische biologische Merkmale, die auf ein langes Leben hindeuten: eine reduzierte Körpertemperatur, ein niedriger Insulinspiegel im Blut, ein niedriger Spiegel des Hormons DHEA. Auch bei Mäusen, die auf kalorienarme Diät gesetzt wurden, gibt es solche „Biomarker“. Als die Forscher nach eben diesen Biomarkern bei 700 Männern fahndeten, die an einer Langzeitstudie teilgenommen hatten, erlebten sie eine Überraschung: Männer, die mit ihnen ausgestattet waren, wurden älter, auch wenn sie keine Diät gehalten hatten. Die Forscher vermuten, dass es Mechanismen gibt, die eine Diät auf molekularer Ebene simulieren können. Andere Forscher haben bei Fruchtfliegen bereits solche Moleküle entdeckt: In den Energiestoffwechsel-Genen INDY und Sir2 verändern Mutationen die Lebensdauer. Das Gen INDY („I’m not dead yet“) stellt den Bauplan für ein Transportmolekül dar. Ohne diesen INDY-Transporter können energiereiche Nahrungsbestandteile nicht in die Zellen gebracht werden. Eine Mutation in INDY wirkt daher wie eine Diät. Sir2 dagegen scheint Organismen das Überstehen von Hungerperioden zu erleichtern. Der Zellbiologe Prof. Jan Hoeijmakers von der Erasmus-Universität in Rotterdam ist allerdings überzeugt, dass der Schlüssel zum Verständnis des Alterns allein in den DNA-Reparatur-Genen liegt. „Altern bedeutet, dass die zellulären DNA-Reparatursysteme nicht effizient genug arbeiten. Entweder haben früh alternde Menschen durch Zufall eine Mixtur schlecht funktionierender Reparatur-Enzyme von ihrem Eltern mitbekommen, oder deren Effizienz nimmt mit zunehmendem Alter ab.“ Tatsächlich sind DNA-Reparatur- Systeme extrem wichtig. So wichtig, dass die meisten Lebewesen gleich mehrere voneinander unabhängige Systeme haben. Außerdem ist die DNA und die von ihr gebildete Erbinformation das einzige Biomolekül, das repariert wird. Alle anderen Moleküle – wie die Eiweiße – werden zerstört, wenn sie einen Fehler haben, und ersetzt. Ausfälle in den Reparatur-Genen führen zu Krankheiten, bei denen die Patienten früher altern. Man hat bis jetzt 13 solcher Gene identifiziert. Eines davon ist das XPD-Gen, das eine so genannte Helikase produziert. Sie wickelt den spiralförmigen DNA-Doppelstrang ab, damit die dort liegenden Gene abgelesen werden können. Funktioniert das Gen nicht, entwickelt sich beim Menschen die Krankheit Trichothiodystrophie. Schon im Kindesalter bekommen die Patienten graue Haare, ihre Knochen werden dünn und schwach, und sie sterben früh. Eine Analyse von mutierten Mäusen brachte an den Tag: Je besser die Helikase funktioniert, desto älter werden die Tiere. In den letzten zehn Jahren haben die Alternsforscher eine Fülle solcher Daten gesammelt. Der Alterns- und Immunforscher Prof. Graham Pawelec der Universität Tübingen ist deshalb überzeugt: „Es gibt nicht nur eine Ursache des Alterns, sondern es sind komplexe Interaktionen, die verschiedene Ursachen generieren.“ Wie komplex das Alterungsgeschehen ist, zeigten schon Versuche zur Lebensverlängerung Anfang der neunziger Jahre. Der Evolutionsbiologe Michael Rose züchtete damals langlebige Fliegen, indem er in jeder Generation die am längsten lebenden Tiere heraussuchte und sich vermehren ließ. Am Ende hatte er durch die Auswahl eine Fliegenpopulation produziert, die sich genetisch von der Ausgangspopulation unterschied. Dies erreichte er nur mit züchterischen Methoden, ohne Eingriffe in die Gene der Fliegen – die Lizenz zur Langlebigkeit muss also in deren Genen stecken. Allerdings zeigte sich auch die Kehrseite vom hohen Alter. Die Tiere, die im Labor sehr alt wurden, überlebten in der freien Natur nicht lange. Trotz solcher Misserfolge und dem offensichtlich komplexen Wechselspiel von Genen untereinander und mit der Umwelt haben ein paar Wissenschaftler – unter ihnen der Gentherapie-Papst Gregory Stock (siehe bild der wissenschaft 10/2000, „Der perfekte Mensch“) – eine Diskussion darüber losgetreten, ob man das Altern mit genetischen und biochemischen Tricks beeinflussen oder sogar rückgängig machen kann oder soll. „ Engineered Negligible Senescence“, zu Deutsch „geringfügige künstliche Alterung“, nennen sie ihr Konzept. Sie glauben sogar, dass die Umkehr des Alterungsprozesses nicht unbedingt schwieriger ist, als das Altern zu verschieben. Die Forscher sehen etliche Möglichkeiten: Hormone könnten Muskeln, Immunsystem und Gehirnzellen wieder aufbauen. Neuronale Stammzellen könnten dem Abbau von motorischen Nerven entgegenwirken. Gentherapie könnte die Teilbarkeit der Chromosomen verlängern und Schäden in der DNA von Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen, beheben. Die Wissenschaftler um Stock behaupten sogar, es wäre denkbar, dass man innerhalb der nächsten zehn Jahre eine zweijährige Labormaus um ein Jahr verjüngen könnte. Weil sie kein vernünftiges Argument sehen, dass dieses Ziel unerreichbar macht, plädieren sie in provokanten Aufsätzen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften dafür, die gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft des Alterns – oder vielmehr des Nicht-Alterns – schon jetzt zu beginnen. „Wir kennen zwar nicht alle, aber immerhin viele Schlüsselelemente des Alterungsprozesses“, meint Stock. Deshalb müsste eine Umkehr des Alterns „im Prinzip“ möglich sein. Graham Pawelec bleibt skeptisch: „ ,Im Prinzip‘ – das ist weit weg von der Praxis.“

Kompakt

Altern scheint der Preis für sexuelle Fortpflanzung zu sein. Über 70 „Alterungs“-Gene haben Forscher bis heute entdeckt. Trotzdem gibt es kein genetisch festgelegtes Todesprogramm. Forscher streiten erbittert: Wie groß ist die absolute Lebenserwartung? Was hält wirklich jung? Ewige Jugend und langes Leben durch Salben, Pillen, Tropfen und Spritzen – das verspricht die Werbung. Die Empfehlungen der Alternswissenschaftler sehen dagegen etwas mühsamer aus: kein Tabak, wenig Alkohol gesundes Gewicht regelmäßiger Sport solide Partnerschaft gute Ausbildung vernünftiger Umgang mit Stress und Konflikten Für den boomenden Markt mit Anti-Aging-Produkten, die angeblich das Altern stoppen oder zumindest verlangsamen können, finden die ernsthaft forschenden Wissenschaftler nur harte Worte: „Absoluter Unsinn“ (Austad), „Scharlatanerie“ (Hayflick), „Quacksalberei“ (Olshansky).

Kein Todesprogramm, keine tickende Zell-Uhr

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Lange Zeit dachten viele Forscher, dass Altern und Sterben ein biologisch festgelegtes Programm sei. Es sollte dafür sorgen, dass die Erde nicht voll mit alten Tieren ist, die den Jungen keinen Platz zum Leben lassen. In den Zellen sollten nach dieser Hypothese molekulare Uhren ticken – darunter so genannte Telomere –, die zu einem bestimmten Zeitpunkt unweigerlich den Tod einläuten. Doch die Forschungen der letzten Jahren zeigen: Dieses Programm gibt es nicht, die Natur hat den Prozess des Alterns nicht „eingeplant“. „Altern ist ein Artefakt der Zivilisation. Wir verdanken dieses Phänomen nur den Verbesserungen in Hygiene, Medizin, Ernährung, Bildung und Wohlstand“, sagt Leonhard Hayflick von der University of California in San Francisco. In der Natur ist Altern tatsächlich ein seltenes Phänomen. Die meisten Tiere sterben früh durch äußere Einflüsse. Sie enden als Beute in den Klauen eines Feindes, sterben an Hunger, Kälte oder Infektionen oder fallen von Bäumen oder Klippen. Altern können Wildtiere nur in „paradiesischen“ Gegenden, zum Beispiel wenn sie in einer raubtierfreien Zone leben. So beobachtete der Biologe Steven Austad von der University of Idaho, dass Opossums, die ohne Feinde auf einer Insel leben, viel älter als ihre Verwandten auf dem amerikanischen Kontinent werden. Evolutionsbiologisch hat die Programm-Theorie damit keinen Sinn. Denn die Gene dieses Todesprogramms können keinen Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil bieten, wenn die meisten Tiere jung sterben. Die Hypothese von den unbarmherzig schlagenden Zelluhren, den Telomeren als Lebensbegrenzern, hat sich inzwischen ebenfalls als falsch erwiesen. Telomere sind die Endstücke der Chromosomen, der großen Einheiten der Erbinformation. Sie bestehen aus sich ständig wiederholenden DNA-Sequenzen und sind für die Verdopplung der Chromosonen vor einer Zellteilung unverzichtbar. Da aber bei diesem Prozess jedes Mal ein Stück der Telomere verloren geht, vermuteten Biologen in den neunziger Jahren, dass in diesen Strukturen unsere Lebensuhr tickt: Wenn alle Telomere aufgebraucht sind, stirbt der Mensch. Für Zellen, die sich stark vermehren – beispielsweise Hautzellen, Zellen der Darmschleimhaut, Zellen des Immunsystems und Leberzellen – stimmt dies auch. Sie sterben, wenn ihre Chromosomen-Enden aufgebraucht sind, und werden durch andere Zellen ersetzt. Aber dass Telomere damit die Lebensspanne eines höheren Organismus wie des Menschen bestimmen, ist inzwischen widerlegt. „Schauen Sie sich Mäuse an. Sie haben zwar wesentlich längere Telomere als Menschen, aber gleichzeitig eine kürzere Lebensspanne“, sagt Lenhard Rudolph, Telomer-Experte von der Medizinischen Hochschule in Hannover.

Obergrenze offen – Eine skurrile Wette

„Im Jahr 2150 wird der Altersrekord bei mindestens 150 Jahren liegen“, glaubt der Biologe Steven Austad von der University of Idaho. In den letzten 160 Jahren ist die Lebenserwartung um etwa 3 Monate pro Jahr angestiegen. Frauen werden in Deutschland heute im Durchschnitt 80 Jahre, Männer 74 Jahre alt. Andere Wissenschaftler bezweifeln Austads Vorhersage. Sie sind überzeugt, dass die Steigerung der Lebenserwartung abflachen wird. So etwa der Chicagoer Demograph Jay Olshansky: Er wettete mit Austad, dass im Jahr 2150 der älteste Mensch höchstens 130 Jahre alt sein wird. Gemeinsam zahlen sie monatlich 10 Dollar in einen Fond ein. Das Vermögen – es könnte auf einen dreistelligen Millionenbetrag wachsen, meint Olshansky – wird an die Nachkommen desjenigen ausgezahlt, der Recht hatte. Die skurrile Wette ist nicht nur ein wissenschaftlicher Spaß, sondern sie spiegelt auch einen Experten-Streit wider, der fast erbittert geführt wird. Von der Antwort hängen viele politische Entscheidungen ab, etwa über die Lebensarbeitszeit und die Rentenversicherung. Viele Biologen glauben, dass die Lebenserwartung jeder Spezies eine Obergrenze hat. Olshansky rechnete vor, dass selbst, wenn die wichtigsten Todesursachen – Krebs, Schlaganfall und Herz-Kreislauf-Erkrankungen – beseitigen wären, die Menschen im Durchschnitt 15 Jahre länger leben würden. Wenn also Menschen letztlich nicht an Krankheiten, sondern am Altern selber sterben und diesen Prozess nicht beeinflussen, dann müsste die rapide angestiegene durchschnittliche Lebenserwartung bald ein Plateau erreichen. Andere Forscher wie James Vaupel vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock, halten die Proklamation einer Altersgrenze schlichtweg für Unsinn. Er wettert für einen Forscher ungewohnt polemisch: „ Entscheidende wissenschaftliche Fragestellungen werden ignoriert“ , und Lebensspannen-Maxima seien ein „schädliches Gerücht“. Tatsächlich mussten sämtliche Grenzen der Lebensalters, die seit 1926 aufgestellt wurden, nach oben korrigiert werden. Wenn man den Trend der letzten 160 Jahre mathematisch fortschreibt, würde in knapp 60 Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung bei 90 (Männer) und 95 (Frauen) Jahren liegen. Vaupels Mitarbeiter Heiner Maier: „Solange ich keine biologische Begründung für eine Altersgrenze kenne, glaube ich nicht, dass wir sie schon erreicht haben.“ Altern – Mathematisch Gesehen

Nicht mit begrenzter Energie oder Fortpflanzungsstrategien, sondern mit Back-up-Systemen versucht das Forscher-Ehepaar Natalia Gavrilova und Leonid Gavrilov von der University of Chicago das Altern zu erklären. „Wir arbeiten auf der Basis der Wahrscheinlichkeitstheorie, die Aussagen über das Versagen von Systemen macht“, sagt Natalia Gavrilova. Diese aus der Technik stammende Theorie besagt, dass Systeme bei einer konstanten Fehlerrate mit zunehmendem Alter immer häufiger versagen, selbst wenn wichtige Elemente mehrfach vorhanden sind und die Systeme komplett aus nicht-alternden Elementen bestehen. Je mehr solcher redundanter Elemente vorhanden sind, desto später tritt demzufolge das endgültige Versagen ein. „Das ist doch nichts anderes als Altern. Kurzlebige Organismen müssten demnach wenige Back-up-Systeme haben, langlebige Organismen mehr“, argumentiert Natalia Gavrilova. „Irgendwann aber kommen wir an einen Punkt, an dem alle Back-up-Systeme aufgebraucht sind. Dann bedeutet der nächste schädliche Treffer das Aus.“ Damit diese Theorie aufgeht, müssen die Gavrilovs annehmen, dass Organismen im Gegensatz zu technischen Geräten ohne Qualitätskontrolle, also schon voller Fehler auf die Welt kommen. Genau an diesem Punkt setzt die Kritik mancher Biologen an. Sie fragen, wie denn diese Fehler in den Molekülen und Zellen aussehen sollen.

Karin Hollricher

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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