Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Falschspieler im Hormonhaushalt

Allgemein

Falschspieler im Hormonhaushalt
Bedrohen Umweltchemikalien den Menschen? Nach gewaltigem Rummel um sinkende Spermienzahlen bei Männern ist es still geworden um die „Pseudohormone“ – Umweltchemikalien mit unerwünschten hormonähnlichen Wirkungen. bild der wissenschaft wollte wissen, was Sache ist.

Kronenverschlüsse sind, jeder Biertrinker weiß es, innen mit einer Dichtung versehen. Solche Plastikplättchen, berichtete „Der Spiegel“ im Herbst 1997, sollen Bisphenol A enthalten. Diese Chemikalie ist probates Ausgangsprodukt für viele Kunststoffe. Und sie steht – zusammen mit Dutzenden anderer Chemikalien – in Verdacht, den Menschen an sehr sensibler Stelle zu treffen: in seinem Hormonhaushalt.

Natur- und Umweltschützer alarmieren die Öffentlichkeit schon seit längerem, angesichts massenhafter, teils grotesker sexueller Fehlentwicklungen im Tierreich. Da gibt es Meeresschnekkenweibchen mit komplettem männlichen Fortpflanzungsapparat, lustlose Fischadler, Alligatoren mit arg reduzierter Penisgröße. Die Phänomene häufen sich – zumindest in der Berichterstattung.

„Männliche Forellen produzieren Eidotter“, faßt „Der Spiegel“ etwa die Befunde von John Sumpter zusammen, Biochemiker an der Brunel University im britischen Uxbridge. Er hat in englischen Flüssen Forellenkäfige vor die Abflußrohre von Kläranlagen gehängt und festgestellt, daß die männlichen Tiere danach übermäßig viel Vitellogenin produzierten – einen Eidotter-Eiweißstoff, den normalerweise nur Weibchen benötigen.

Die Fortpflanzung ganzer Tierpopulationen scheint gefährdet, vor allem durch den Verlust der Männlichkeit. Und es fragt sich, ob und inwieweit auch der Mensch bereits Schaden genommen hat. Einige Studien stellten Zusammenhänge her zwischen einem Rückgang der männlichen Fertilität, bewertet vor allem anhand der Spermiendichte im Ejakulat, und dem Vorkommen sogenannter Pseudohormone, fachdeutsch: „endokriner Disruptoren“. Andere Forschergruppen erkannten keinerlei Anstieg von Fruchtbarkeitsstörungen (bild der wissenschaft 2/1997, „Tiefschlag der Hormone“).

Anzeige

Mit Hingabe widmeten sich immer wieder die Medien dem Thema, und nicht in allen Fällen mit der notwendigen Sorgfalt. Bisphenol A beispielsweise ist keineswegs in Kronenkorken enthalten, weiß das Umweltbundesamt, wohl aber – als Ausgangsstoff für den Kunststoff Polykarbonat – spurenweise in anderen Dingen, die uns täglich umgeben: in Compact Discs etwa, in Colaflaschen aus Plastik und in Konservendosen, die innen mit Kunststoff ausgekleidet sind.

Doch gleich, welcher – behauptete oder tatsächliche – Pseudohormon-Fall gerade „dran“ ist: Für das Interesse von Medien und Öffentlichkeit ist das Thema „männliche Fruchtbarkeit das beliebteste Lockmittel“, schreibt die Chemikerin Martina Schmid in ihrer jüngst an der Technischen Universität Berlin vorgelegten Magisterarbeit.

Schmid hat sich eingehend mit der „Themenkarriere in Wissenschaft, Politik und Medien“ der Pseudohormone befaßt. Eines ihrer Ergebnisse: Es erschauert vor allem der männliche Teil der Leserschaft – konfrontiert mit einer Urangst, dem Verlust der Manneskraft -, so irrational es auch ist, wenn ausschließlich die Spermienzahl als Indiz herhalten muß. Trotzdem: „Chemisch kastriert“, „Entmannt durch Gift“, „Halbe Männer ohne Zukunft“, „Spermakrise“ lauteten Schlagzeilen.

Eine kritische Sichtung der Fachliteratur läßt solche Schlüsse vorläufig nicht zu. Das Umweltbundesamt (UBA) hat in der Studie „Substanzen mit endokriner Wirkung in Oberflächengewässern“ das verfügbare Material, gut 300 Studien, bewerten lassen. Eine der Fragen lautete: Reichen die bisherigen Daten aus, um die Gefahr, die von den hormonähnlich wirksamen Umweltchemikalien ausgeht, zu beurteilen?

Mitautor Dr. Hasso Seibert, Toxikologe an der Universität Kiel, zieht das Fazit: „Für die meisten bisher bekannten Substanzen muß diese Frage mit ,nein` beantwortet werden.“

Inzwischen haben weltweit konzentrierte Arbeiten begonnen, um die Methoden zu standardisieren, mit denen das hormonelle Potential der verdächtigen Substanzen künftig vergleichbar und sicher geprüft werden kann. In Deutschland finanzieren das Bundesumwelt- und das Bundesforschungsministerium ein wissenschaftliches Programm im Umfang von sechs Millionen Mark. Die Liste der in der UBA-Literaturstudie aufgeführten Stoffe mit östrogener beziehungsweise potentiell östrogener Aktivität ist lang. Darauf stehen selbst dem Nichtfachmann einschlägig Bekannte wie DDT und die Biphenyle (chloriert und nichtchloriert). Hinzu kommen weniger bekannte Namen wie Alkylphenole, Naphthole, Phthalate sowie Bis(hydroxyphenyl)methane, zu denen auch das Bisphenol A gehört.

Der Verdacht ist schnell ausgesprochen – doch bis zur Überführung der hormonellen Falschspieler ist es ein weiter Weg. Das zeigt sich beispielhaft am Vitellogenin-Problem der Forellenmännchen.

Sumpter hatte das Phänomen zunächst auf künstliche Östrogene zurückgeführt, wie sie in der Antibaby-Pille vorkommen und über kommunale Abwässer in die Umwelt gelangen. Später benannte er Nonylphenol als möglichen Verursacher. Das ist eine vor allem in Industriereinigern und als Emulgator in Pflanzenschutzmitteln verwendete Substanz aus der Gruppe der Alkylphenole, die häufig im Umfeld von Kläranlagen anzutreffen ist und, wie Sumpter aus der Fachliteratur entnommen hatte, hormonähnlich wirksam sein soll.

Inzwischen hat John Sumpter aus dem Flußwasser herausdestilliert, was tatsächlich drin ist. Er fand hauptsächlich natürliche Hormone wie das 17-Beta-Estradiol, das sowohl Männer als auch Frauen produzieren und ausscheiden. „Alkylphenole scheinen als Pseudohormone eine weniger wichtige Rolle zu spielen als angenommen“, bestätigt auch Dr. Ludwig Karbe vom Institut für Hydrobiologie und Fischereiwissenschaft der Universität Hamburg.

Karbes Gruppe wies als erste das Vitellogenin-Problem der Fische in Deutschland nach – in der Elbe: in einem „Brasse“ oder „Blei“ genannten, karpfenähnlichen Fisch. Entsprechende Proben aus Elbewasser zeigten ein deutliches östrogenes Wirkungspotential und erlaubten die Vermutung, es könnte sich auch hier um 17-Beta-Estradiol handeln. Mögliche Mittäter sind halogenierte Ether, Nebenprodukte aus der Herstellung etwa von Epoxydharzen und Glyzerin. Eine bekannte Quelle solcher Substanzen in der Elbe ist der Betrieb Spolchemie im tschechischen Usti nad Labem.

Im Labor zeigten die Forscher, daß halogenierte Ether sich an Rezeptoren – Andockstellen für Moleküle im Gewebe – für körpereigene Östrogene anlagern. Doch es wäre voreilig, sagt Ludwig Karbe, sie allein deswegen als Pseudohormon-verdächtige Stoffklasse dingfest zu machen.

Vor allem mangelt es an aussagefähigen Testverfahren. Die Labors arbeiten überwiegend mit Zellkulturen, in die sie die fraglichen Substanzen geben. Gemessen wird das Zellwachstum – ein Hinweis auf die Neigung einer Substanz, sich an die Rezeptoren für Östrogene zu binden. Diese Methode stammt aus den dreißiger Jahren, als die Suche nach synthetischen Substanzen zur Schwangerschaftsverhütung begann. Deshalb kennen die Wissenschaftler auch meist nur Pseudohormone mit östrogener Wirkung.

Gentechnologen führten die Tests zur Perfektion: Heute werden Hefezellen mit einem Östrogen-Rezeptor versehen, wie er auch in menschlichen Zellen vorkommt – zusätzlich mit einem „Reporter-Gen“, beispielsweise dem Gen für die Leuchtsubstanz Luziferase im Glühwürmchen. Wenn nun eine fremde Substanz an den Rezeptor andockt, wird das Luziferase-Gen aktiv, und in der Glasschale erscheint ein Lichtpunkt.

Mancher Forscher, vor allem in Übersee, schwört auf diese Tests – ihrer Eleganz und hohen Empfindlichkeit wegen. Und trotzdem sind sie offenbar nicht das Non-plus-ultra: „Sie mögen taugen, eine ganze Reihe von Chemikalien auszutesten, um Prioritäten festzulegen. Aber sie sind unfähig, die Toxikokinetik zu erfassen“, sagt Dr. Andreas Gies vom Umweltbundesamt, Biologe und Experte für Pseudohormone.

Mit Toxikokinetik meinen Chemiker all das, was der Organismus mit einer Substanz anstellt: Er nimmt sie auf, verteilt sie, wandelt sie teilweise in andere Stoffe um und scheidet sie wieder aus. Gies: „In vielen Fällen wirken gar nicht die Originalstoffe, sondern erst deren Stoffwechselprodukte. Deshalb enden Tests mit Östrogen-Rezeptoren nicht nur häufig falsch positiv, sondern auch falsch negativ.“ Das heißt: Die Tests schlagen zu Unrecht Alarm, oder sie geben zu Unrecht Entwarnung.

Ein weiteres Handicap: Im Alltag wirken nicht etwa Reinsubstanzen aus dem Labor auf Mensch und Tier, sondern komplexe Cocktails aus Chemikalien. Insofern ist es sinnvoll, Kombinationseffekte zu prüfen, dachte sich unlängst auch John McLachlan, Hormonforscher an der Tulane University in New Orleans.

Seine Gruppe arbeitete mit Pestiziden: Dieldrin, Toxaphen, Chlordan und Endosulfan. All diese Substanzen, so berichteten die Forscher 1996 in einem Papier für das Fachblatt Science, zeigen einzeln nur eine relativ geringe Neigung, sich an Östrogen-Rezeptoren anzulagern.

In Zweierkombinationen allerdings fand das Team bei Hefezellkulturen eine bis zu 1600fach stärkere Wirkung als erwartet. Sie nannten dies einen synergistischen oder überadditiven Effekt.

Das Ergebnis wäre – bei aller Skepsis gegenüber Reagenzglas-Versuchen – „ein Waterloo für die klassische toxikologische Bewertung“ (Andreas Gies) gewesen. Potenzierende Effekte sind ihm durchaus bekannt, zum Beispiel, wenn der eine Stoff den Abbau eines anderen behindert, „doch die Faktoren, mit denen wir es dabei zu tun haben, betragen das Zwei-, Fünf- oder Zehnfache der Wirkung der Einzelsubstanz. Faktor 1000 hingegen – das hat uns alle ziemlich nervös gemacht.“ Denn sämtliche Risikoabschätzungen für diese Art von Umweltchemikalien wären zur Makulatur verkommen.

Jedoch: Niemand vermochte weltweit das Ergebnis von McLachlans Team zu reproduzieren. Ein Jahr nach der Veröffentlichung hat der international sehr renommierte Forscher das Papier zurückgezogen. Kollegen in aller Welt warten seither auf eine Begründung.

An vier Universitäten wollen Forscher erneut untersuchen, ob möglicherweise Kombinationswirkungen auftreten. Anhand von Säugetierzellen und im Tierversuch werden unter anderem die Chemikalie Bisphenol A und das pflanzliche Östrogen Daidzein getestet. Prof. Gisela Degen, Toxikologin an der Universität Dortmund und Sprecherin dieses Verbundprojekts, geht unvoreingenommen an die Arbeit: „Ich will eine überadditive Wirkung nicht ausschließen. Doch es wäre auch das Gegenteil denkbar: eine Abschwächung der Effekte.“

Daidzein steckt zum Beispiel in Soja, so wie viele unserer Nahrungs- und Genußmittel hormonell aktive Verbindungen enthalten. Wenn schon keine Gefahr im Kronenkorken lauert – womöglich tut sie es im Flascheninhalt? Die Forscher können jedenfalls Schmerbauch und Brustansätze passionierter Biertrinker nicht allein durch die überreichliche Kalorienzufuhr erklären – und Gerstensaft enthält viele hormonartig wirkende Stoffe.

Gisela Degen: „Mit Getreide, Gemüse und Früchten kann eine tägliche Dosis von bis zu hundert Milligramm pflanzlicher Östrogene aufgenommen werden, während man bei chemischen Pseudohormonen im Mikrogrammbereich ist.“ Wie geht es nach alledem weiter? Wie soll die beunruhigte Bevölkerung mit solch unklaren, oft widersprüchlichen Befunden umgehen?

Die Umweltverbände in Deutschland plädieren grundsätzlich für das Vorsorgeprinzip. Die Chemie-Industrie gibt sich einstweilen moderat. Doch sobald die Debatte sich an konkrete Substanzen oder Produkte herantastet, scheiden sich gründlich die Geister – so etwa beim Bisphenol A.

Für Dr. Friedrich Wilhelm Jekat, Toxikologe bei der Bayer AG in Wuppertal und Experte des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), ist das Thema längst erledigt: „Daß Bisphenol A wieder von einschlägigen Listen (hormonell wirkender Substanzen) genommen wird, ist nur eine Frage der Zeit.“ Im Unterschied zu natürlichen Östrogenen habe diese Substanz im Tierversuch weder fruchtschädigende noch kanzerogene Wirkung gezeigt, noch habe sie die Fertilität der Tiere eingeschränkt.

„Das mag stimmen“, gibt Ibrahim Chahoud, Professor für Reproduktionstoxikologie an der Freien Universität Berlin, zu bedenken, „aber das sagt nichts über die Wirkung als Pseudohormon aus. Dieser Frage hat man sich noch gar nicht gestellt.“

Pseudohormone greifen am verheerendsten in einigen besonders sensiblen Entwicklungsphasen des Organismus ein: Chahoud will trächtige und stillende Ratten- und Affenweibchen sowie Jungtiere kurz vor Eintritt in die Pubertät dem fraglichen Stoff aussetzen. Die Nachkommen werden dann untersucht – bei den Männchen Gewicht und Gewebe der Prostata, Hormonstatus, Spermienanzahl und Sexualverhalten.

In der amerikanischen Umweltbehörde EPA und in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD wird derzeit darüber nachgedacht, solche Tests als Routine in die Zulassungsverfahren für neue Substanzen aufzunehmen. VCI-Sprecher Jekat hält das für überzogen: „Bereits unsere bisherigen Testsysteme vermögen derartige Effekte aufzudecken.“ Dennoch investiert die chemische Industrie Forschungsmittel in Projekte auf diesem Gebiet. „Diese Gelder“, zitiert Martina Schmid in ihrer Magisterarbeit frei eine VCI-Mitarbeiterin, „wären nie bereitgestellt worden, wenn es bei dem Thema nicht um einen Angriff auf die Männlichkeit gehen würde.“

Die Diskussion um Pseudohormone berührt aber zweifellos noch ein weiteres sensibles Feld: das Geschäft. Gut 200000 Tonnen Bisphenol A wurden 1995 allein in Deutschland produziert. Als Ausgangsstoff für den Kunststoff Polykarbonat hat die Substanz eine lichte Zukunft: Die Compact Disc entwickelt sich derzeit zum Speichermedium schlechthin. Auch die Karriere als Glasersatz, etwa in Autofenstern, ist noch lange nicht beendet. Die Bayer AG ist im Geschäft mit Polykarbonat weltweit die Nummer zwei, in Europa Nummer eins.

Befunde aus Ibrahim Chahouds Labor werden nicht vor Ende 1998 vorliegen. Wie auch immer sie aussehen – es bleibt die Frage, inwieweit die Resultate an Ratten und Affen auf den Menschen übertragbar sind. Chahoud nennt eine einfache Formel: „In der Pharmaforschung sind wir ohne weiteres bereit, vom Tier auf den Menschen zu schließen.“ Jedes rezeptpflichtige Medikament hat seine Wirkung zunächst am Tier erweisen müssen.

Im Unterschied zum Pharmakologen kann der Toxikologe allerdings die Wirkung einer Substanz nicht am Menschen testen. Den endgültigen Beweis einer Pseudohormon-Wirkung auf den Menschen wird es daher nie geben – allenfalls den Hinweis auf ein Risiko. Chahoud: „Die Gesellschaft muß in jedem einzelnen Fall entscheiden, ob sie das Risiko eingehen will.“

Regine Halentz

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

sub|li|mie|ren  〈V. t.; hat〉 1 ins Erhabene steigern, läutern, verfeinern 2 〈Chem.〉 durch Sublimation trennen u. reinigen … mehr

Mohn|ge|wächs  〈[–ks] n. 11; Bot.〉 meist krautiges Gewächs mit gefiederten od. tief geteilten Blättern u. Milchsaft führenden, gegliederten Milchröhren: Papaveraceae

Ae|ro|sta|tik  〈[ae–] f. 20; unz.〉 Lehre von den Gleichgewichtszuständen der Gase

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige