Kleiner ist feiner – das ist die neue Politik der Europäischen Raumfahrtagentur ESA. Oder auch: Aus eins mach zwei. 1997 wurden in das Programm die sogenannten Flexi-Missionen aufgenommen, um in der Planung mehr Spielraum zu gewinnen. Flexi steht für Flexibilität – und die ist oberstes Gebot im Programm. Kommt eine Mission nicht zustande, dann stehen die Mittel automatisch einer anderen Mission zur Verfügung. Wie schnell das Ende nahen kann, hat die Mission Casimir gezeigt. Dieser Satellit sollte die Eigenschaften des Vakuums erforschen, das nach den Gesetzen der Quantenphysik gar nicht völlig leer ist. Das Aus traf dieses Projekt allerdings schon, bevor Casimir überhaupt in die engere Wahl gekommen ist. Die erste Flexi-Mission wird bereits gebaut: Die Raumsonde Mars-Express soll im Jahr 2003 mit einer Sojus/Fregat-Rakete vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur gestartet werden. Sie besteht aus einem Orbiter, der den Roten Planeten umkreisen wird, und einer kleinen Sonde namens Beagle, die auf dem Mars landen soll. Die zweite und dritte Flexi-Mission sind für die Jahre 2006 bis 2008 geplant. Nicht nur die Wissenschaft gibt dabei den Kurs an, sondern auch der Rotstift: Keine Mission darf mehr als 176 Millionen Euro kosten (Stand von 1999). Dabei wird angestrebt, zwei Flexi-Missionen zum Preis von einer mittelgroßen Mission zu finanzieren. Doch wer die Wahl hat, hat die Qual: Ein reichhaltiges Angebot von Forschungsinstituten erschwert die Entscheidung. Sechs Vorschläge, die von einem Besuch des Planetoidengürtels bis zu hochempfindlichen Lageregelungssystemen reichen, werden in den nächsten Monaten einer genauen Prüfung unterzogen. Erst dann treffen die wissenschaftlichen Berater der ESA ihre Empfehlungen zur endgültigen Auswahl der nächsten Flexi-Missionen. Nach einem Aufruf im Oktober letzten Jahres wurden 49 Vorschläge eingereicht. Sechs davon haben wissenschaftliche Arbeitsgruppen und der beratende Ausschuß für Weltraumwissenschaft der ESA ausgewählt. Bei ihnen geht es vor allem um das Sonnensystem und den erdnahen Weltraum. Zwei aus sechs, heißt es jetzt in der Endrunde. Hinter allen zur Bewertung ausgewählten Vorschlägen stehen multinationale Teams aus Universitäten und Forschungsinstituten in ganz Europa. NGST, das Next Generation Space Telescope, ist als Nachfolger des Hubble-Weltraumteleskops der Favorit der Astronomen. Es wird einen 8-Meter-Spiegel haben und in Wellenlängenbereichen vom Ultraviolett über das sichtbare Licht bis ins Infrarot beobachten können. Doch hier kommt – wie bei Hubble – nur eine Kooperation mit der NASA in Frage. Die Entscheidung wird erst Ende des Jahres fallen. NGST, das im Jahr 2008 starten soll, wartet mit vielen technischen Neuerungen auf. So soll ein Laserstrahl die exakte Ausrichtung des Teleskops ermöglichen. In Europa wurden bereits erhebliche Vorarbeiten für das Projekt geleistet. Dies verschärft den Wettbewerb um die anderen Planungsoptionen. STORMS ist ein Projekt zur Erforschung der Sonneneruptionen – großer Explosionen auf der Sonnenoberfläche – und ihrer Auswirkungen. Der sogenannte Ringstrom energetisch geladener Teilchen kreist in einer Entfernung von mehreren Erdradien um den Äquator. Da seine Intensität stark schwankt, erzeugt er bei Sonnenstürmen magnetische Störungen auf der Erdoberfläche. Eine kleine Satellitenflotte soll diesem Phänomen auf die Spur kommen. Drei baugleiche Geräte, die auf einer rund 50000 Kilometer hohen Bahn gleichmäßig um den Äquator verteilt sind, könnten einige der Geheimnisse des Ringstroms lösen und überdies noch von praktischem Nutzen sein: Warnung in Echtzeit vor entstehenden Magnetstürmen. Master ist eine Raumsonde, die auf der Technik von Mars-Express aufbaut. Sie soll große Planetoiden im Hauptgürtel jenseits des Roten Planeten aus der Nähe erkunden. Wie Mars-Express würde Master ein Landegerät auf dem Planeten absetzen, aber dort nicht in eine Umlaufbahn einschwenken, sondern sich von der Schwerkraft in Richtung Planetoidengürtel katapultieren lassen. Dort würde Masters einen oder mehrere der Felsbrocken mit Geräten erforschen, wie sie für die Kometenmission Rosetta und die Mondmission Smart-1 entwikkelt werden – zwei ESA-Projekte, die unabhängig von Flexi bereits beschlossen worden sind. Die geringen Entwicklungskosten würden den Preis niedrig halten. Mögliche Starttermine wären 2005, 2007 oder 2009. Der Sonnenorbiter würde auf einer langgestreckten Bahn um die Sonne eingesetzt, auf der er ihr zeitweise bis auf 30 Millionen Kilometer nahe käme – näher als der innerste Planet Merkur. Der Orbiter würde unseren Stern so schnell umkreisen, wie dieser rotiert, also stets über der gleichen Stelle der Sonnenoberfläche stehen. Er soll Aufnahmen der solaren Oberfläche machen und die Eigenschaften und Veränderungen des Sonnenwindes messen. HYPER ist in erster Linie eine Technologiemission. Sie soll neue atomare Lageregelungskreisel und Bewegungssensoren erproben, die auf Quanteneffekten basieren. Atome sind nicht nur Teilchen – nach der Quantenphysik haben sie auch Welleneigenschaften, die sich technisch nutzen lassen. Solche Sensoren – so sagen die Befürworter dieses Projekts – wären so revolutionär wie die Atomuhren in der Zeitmessung: 100milliardenmal empfindlicher als die heute verwendeten optischen Kreisel, die nicht auf Atomen, sondern auf Licht basieren. Eddington schließlich soll das Innere von Sternen erkunden und nach Planeten außerhalb des Sonnensystems suchen. Ausgerüstet mit einem 1-Meter-Teleskop und weit von der Erde entfernt stationiert, würde die Raumsonde stellare Seismologie betreiben, das heißt die Schwingungen der Oberfläche anderer Sterne messen. Bei der Sonne haben solche Schallwellen im Plasma bereits zahlreiche Eigenschaften des Sonneninneren enthüllt (siehe auch bild der wissenschaft special „Sonne”). Sie ermöglichen es Astrophysikern, ihre Theorien darüber, wie ein Stern funktioniert, zu untermauern. Eddington soll 50000 Sterne belauschen. Gleichzeitig soll die Sonde 700000 Sterne nach Planeten absuchen. Zieht ein Planet vor seinem Stern vorüber, macht er sich durch eine kurzfristige Abnahme der Sternhelligkeit bemerkbar. Dieser Effekt ist kürzlich erstmals von einem Teleskop auf der Erde entdeckt worden (bild der wissenschaft 5/2000, „ Gasriesen umkreisen fremde Sonnen”). Über das Flexi-Programm hinaus hat der beratende Ausschuß für Weltraumwissenschaft empfohlen, zu prüfen, ob drei weitere Vorschläge auf der Internationalen Raumstation eingesetzt werden können. EUSO soll nach kosmischen Neutrinos suchen. Bislang sind nur Neutrinos von der Sonne und einer Supernova aufgespürt worden. Noch wissen die Physiker nicht genau, ob sie eine Ruhemasse haben oder nicht. Das Röntgenteleskop Lobster könnte den gesamten Himmel durchmustern, und das Projekt Moss würde das physikalische Verhalten hochstabiler supraleitender Mikrowellen-Oszilatoren untersuchen. „ Das ist ein reiches Angebot an interessanten Vorschlägen, die es Europa wieder erlauben würden, an der vordersten Front der Wissenschaft zu arbeiten”, urteilt Prof. Walter Flury vom Europäischen Raumfahrtoperationszentrum ESOC in Darmstadt. Flexi ist beinahe so etwas wie ein europäischer Feinkostladen der Weltraumforschung. Doch vorerst können nur zwei Programme ausgewählt werden. Welches letztlich im Einkaufskorb der ESA landet, ist noch offen.
Gerd Peter Schulze