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Fragen Sie Ihren Bioinformatiker

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Fragen Sie Ihren Bioinformatiker
Immer mehr Experimente führen Biologen und Pharmaforscher im Computer und nicht mehr in Tieren, Zellen oder Reagenzgläsern durch. Vor allem die Medikamentenforscher nutzen die neuen Möglichkeiten: Sie können im Rechner nicht nur neue Wirkstoffe testen, sondern auch Nebenwirkungen entdecken – und beseitigen.

Wie ein Pharma-Unternehmen sieht der kleine Betrieb wirklich nicht aus. Dafür hat er den Charme einer Garagenfirma. Junge Leute, Turnschuhe, T-Shirts und Computer bestimmen das Bild – und vor allem Computer auf Schreibtischen, Laborbänken und verpackt in Kästen. Die Rechner bestimmen das Arbeiten bei der jungen schottischen Firma Biovation in Aberdeen. Mit ihrer Hilfe suchen die Forscher nach unerwünschten Wirkungen in Medikamenten-Prototypen – und entwerfen unschädlichere Alternativmodelle. Mit ihrer Computer-Strategie liegen die Schotten voll im Trend. Dr. Martin Vingron, Leiter der Abteilung Bioinformatik am MPI für Genetik in Berlin Dahlem nimmt an, dass künftig ein Drittel der biologischen Forschung virtuell in Computern stattfinden wird. Das bietet gute Möglichkeiten Geld zu verdienen. Jason Reed von der New Yorker Investmentberatungsfirma Oscar Gruss & Son schätzt, dass sich vor allem im Pharma-Bereich bereits im Jahr 2005 ein Markt von etwa zwei Milliarden US-Dollar für Bioinformatik-Projekte entwickeln wird. Das Darmstädter Pharma-Unternehmen Merck ist vom Computer-Konzept der kleinen schottischen Firma so überzeugt, dass es gleich das ganze Unternehmen gekauft hat, sowohl um seine eigenen Neuentwicklungen zu testen, als auch in der Hoffnung, später Medikamente anderer Firmen zu testen – gegen entsprechende Bezahlung natürlich. Biovation „behandelt“ im Rechner eine besondere Gruppe von Medikamenten, die immer wichtiger wird: Arzneimittel aus Proteinen. Sie haben den großen Vorteil, dass man sie extrem passgenau gegen ein ganz bestimmtes Zielmolekül im Körper maßschneidern kann, zum Beispiel gegen einen außer Kontrolle geratenen Wachtums-Kontrolleur in Krebszellen. Die zurzeit wichtigste Gruppe der Protein-Medikamente sind die Antikörper. „Proteine werfen jedoch ein großes Problem auf“, sagt Frank Carr, Direktor von Biovation, „der Körper erkennt alle Proteine, die er nicht selbst hergestellt hat.“ Die Folge: Das Immunsystem vernichtet die Fremdlinge – und körperfremd sind die Medikamenten-tauglichen Biomoleküle fast immer. Sie sind entweder synthetisch oder stammen aus Pilzen oder Bakterien oder – wie die meisten Antikörper – aus Mäusezellen. Zwar haben die Gentechniker in den letzten Jahren große Erfolge beim „Humanisieren“ von Mäuse-Antikörpern erzielt. Gentechniker entfernen dabei alles Maustypische aus den Antikörpern und ersetzen es durch entsprechende menschliche Strukturen. Die Ergebnisse sind allerdings noch nicht perfekt. „Selbst bei einem erfolgreichen humanisierten Protein-Medikament wie dem Herceptin gegen Brustkrebs gibt es noch Probleme“, sagt Carr. „Das Immunsystem vernichtet immer noch einen Teil der Antikörper. Das Medikament muss darum höher dosiert werden, und das treibt die Behandlungskosten hoch.“ Außerdem lassen sich Proteine nicht beliebig hoch dosiert spritzen: Ab einer bestimmten Menge reagiert der Körper auch auf menschliche Eiweiße mit einer Immunantwort, und die kann schlimmstenfalls zu einem lebensbedrohenden anaphylaktischen Schock führen. „Das Problem ist, dass auch humanisierte Antikörper nicht vollständig menschlich sind“, sagt Carr, „die entscheidenden Stellen des Moleküls, die die krankmachenden Ziele im Körper angreifen sollen, sind immer noch von der Maus, und beim Zusammenbau von Mensch- und Mausbestandteilen entstehen leicht unbeabsichtigt neue Angriffszellen für das Immunsystem.“ Da diese Protein-Medikamente für den Menschen maßgeschneidert sind, kann man sie nicht im Tierexperiment auf unerwünschte Wirkungen testen. Sie würden bei jedem Versuchstier zu schwersten Nebenwirkungen führen, nur beim Menschen nicht. Frank Carrs Antwort auf dieses bislang ungelöste Problem ist der Computer. Biovation verfügt über die Daten der typischen Proteinstrukturen, gegen die sich das menschliche Immunsystem wehren würde. Die Aberdeener haben damit ein virtuelles Immunsystem, in das sie virtuelle Proteine „injizieren“ können. Sie tun dies, indem sie die Aminosäuresequenz und die Struktur des Eiweißes in den Rechner geben. Der Vorteil des virtuellen Immunsystems: Es zeigt den Forschern genau, wo die gefährlichen Punkte im potenziellen Medikament liegen – also die Stellen, die ein natürliches Immunsystem angreifen würde. Mit diesen Daten entwickeln die „ Proteiningenieure“ bei Biovation mehrere neue Entwürfe für die Proteine und testen sie erneut im Rechner auf Nebenwirkungen. Bei diesem Verfahren müssen die Forscher natürlich darauf achten, dass die Proteine ihre Wirksamkeit nicht verlieren. „ Deimmunisierung“ nennen die Aberdeener ihr patentiertes Verfahren. „Bei einem Antikörper sind es meist 13 bis 16 Veränderungen pro Molekül, die wir vornehmen müssen“, sagt Frank Carr und macht gleich ein bisschen Werbung: „Mit diesem Verfahren kann man auch bestehende Proteinmedikamente verbessern oder Eiweiße von Fröschen oder Viren als Medikamente nutzen.“ Die Pharmafirmen wollen jedoch nicht nur ihre neuen Medikamente am Rechner optimieren, sondern möglichst alle Forschungsschritte erst einmal auf dem Rechner durchführen: Wie sind die möglichen Angriffsziele für Medikamente im Körper aufgebaut, und welche Eigenschaften haben sie? Wie sähe der ideale Arznei-Wirkstoff für dieses Zielmolekül aus? Was könnte dieser Wirkstoff sonst noch alles im Körper anrichten? Vor allem an die letzten beiden Fragen tasten sich die Pharmaunternehmen bisher nach dem Prinzip Versuch und Irrtum heran – mit teuren Folgen. Nach Angaben der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA fallen etwa drei Viertel aller Medikamenten-Kandidaten bei den klinischen Prüfung durch, meist wegen nicht vorhergesehener Nebenwirkungen. Bis zu diesem Fehlschlag haben die Unternehmen aber oft schon mehrere hundert Millionen Dollar in die Erforschung des Wirkstoffs gesteckt. „ Wenn Boeing seine Flugzeuge so entwickeln würde wie die Pharma-Industrie Medikamente, dann würden die Unternehmen zehn verschiedene Flugzeuge entwerfen, sie Probefliegen und das Modell, das nicht runterfällt, an United Airline verkaufen“, lästerte der Bioinformatiker Thomas Paterson von der Firma Entelos in Menlo Park, Kalifornien, in der Fachzeitschrift Technology Review. Die ernüchternden Erfahrungen haben die Pharmafirmen zum Umdenken gebracht. „Wir müssen weg von Trial and Error“, meint Prof. Günther Wess, oberster Forschungsleiter bei Aventis Pharma in Frankfurt (siehe Interview rechts). Um dieses Ziel zu erreichen, setzen die Pharmaunternehmen in allen Forschungsbereichen auf den Computer: In ihrem Auftrag durchforsten spezialisierte Bioinformatik-Firmen wie die Heidelberger Lion Bioscience die Sequenzen des menschlichen Genoms nach krankheitsrelevanten Genen. „In-silico“-Biologen schaffen im Rechner 3-D-Modelle von den Biomolekülen, die bei Erkrankungen eine Rolle spielen. An diesen Modellen suchen sie nach angreifbaren Stellen und entwerfen und erproben dann virtuelle Medikamentenkandidaten gegen diese Ziele. Die Erwartungshaltung der Pharma-Unternehmen ist gewaltig. Die Wirtschaftsberatung PricewaterhouseCoopers schätzt, dass Bioinformatik-Verfahren die Forschungskosten um 200 Millionen US-Dollar für ein neues Medikament senken und die Entwicklungszeit um zwei bis drei Jahre verkürzen können. Bislang kostet die Entwicklung eines neuen Medikaments etwa 500 Millionen Dollar und dauert etwa 15 Jahre bis zur Marktreife. Noch gibt es allerdings Grenzen bei den Vorhersagen aus dem Rechner. Vor allem um die Eiweiße, die wichtigsten Lebensbausteine im Körper, simulieren zu können, ist noch viel Handarbeit nötig. „Die Struktur eines großen Proteins mit Experimenten aufzuklären, kann nach wie vor eine Doktorarbeit von mehreren Jahren Dauer beanspruchen“, sagt Dr. Frank Cordes vom Konrad-Zuse-Institut in Berlin, der an Methoden arbeitet, um die Eigenschaften und die dreidimensionale Struktur von großen Biomolekülen herauszufinden. Ziel der Bioinformatiker ist es darum, aus den Gensequenzen, wie sie das Human-Genom-Projekt liefert, die Gestalt des Proteins vorherzusagen. Doch das ist immer noch ausgesprochen schwierig. Die Gene sind zwar präzise Baupläne der Proteine. In ihnen ist genau aufgelistet, aus welchen Aminosäuren und in welcher Aminosäuren-Reihenfolge das Eiweiß gebaut wird. Aber die Berechnung, zu welchen dreidimensionalen Strukturen sich diese lange Molekülkette zusammenfaltet, überfordert die meisten Computer. „Es gibt extrem viele Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Atomen“, sagt Cordes. „Ein kleines Protein mit 100 Aminosäuren hat etwa 1000 Atome, und in der Zelle ist es mit Wasser umhüllt: Das macht insgesamt 10000 Atome. So ein Eiweiß faltet sich in etwa 0,001 Sekunden und in dieser Zeit sind etwa 1000 Milliarden ,diskrete‘ Molekülbewegungen für jedes der 10000 Atome möglich. Selbst Superrechner bei IBM brauchen für dieses Problem ein ganzes Jahr.“ Da pharmazeutisch interessante Eiweiße zehnmal so groß sind, müssen die Pharma-Unternehmen zurzeit noch mit einfacheren Analysen arbeiten. Die liefern zwar nicht so präzise Protein-Daten, helfen aber, den Kreis möglicher Zielmoleküle einzuschränken. Fragt man Bioinformatiker nach der Zukunft, dann verweisen sie auf Microsoft. Alle wollen Bill Gates‘ Erfolgsgeschichte von der Garagenfirma zum Weltkonzern nachvollziehen und das Computer-System haben, an dem keiner vorbeikommt. Auch Frank Carr: „Wir möchten das Windows der Biotechnologie produzieren. Unser Wunschtraum ist, dass die Zulassungsbehörden bei jedem Antrag die Firma fragen: Habt ihr euer neues Medikament schon deimmunisieren lassen? Nein? Dann macht das mal, und wir sehen weiter.“ Kompakt Bislang fallen etwa drei Viertel aller Medikamente bei der klinischen Prüfung durch – wegen Nebenwirkungen. Computersimulationen sollen helfen, diese Probleme früher zu erkennen und mit weniger Geld bessere Medikamente zu entwickeln. Grenzüberschreitungen „Wir brauchen eine Chemische Biologie“ Prof. Günther Wess, 46, ist Forschungsleiter von Aventis Pharma in Deutschland. Sein Credo: Nur Wissen um die biologische Relevanz chemischer Strukturen kann zu mehr neuen pharmazeutischen Wirkstoffen führen. bdw: Herr Prof. Wess, Sie propagieren die Notwendigkeit, „Chemische Biologie“ zu betreiben, um zu neuen Wirkstoffen für Arzneimittel zu kommen. Chemische Biologie klingt wie Biochemie. Ist der Ansatz von Aventis nur alter Wein, versehen mit einem neuen Etikett? Wess: Ganz und gar nicht. Es ist eine neue Ausrichtung in Ziel und Arbeitsweise. Nicht Biochemiker, sondern Biologen und Chemiker erforschen gemeinsam die Struktur und Funktion biologischer Moleküle, die Angriffspunkte für neue Medikamente sind. Dieses Wissen ermöglicht es dann, kleine Moleküle herzustellen und auszuwählen, die eine gezielte Arzneimittelwirkung entfalten. Als Fachleute sprechen wir davon, dass wir biologische Antwortprofile durch kleine Moleküle erzeugen. Solche neuen Ansätze brauchen neue Namen. Wenn wir wegen der Ähnlichkeit zwischen Biochemie und Chemischer Biologie eine Debatte mit den Traditionalisten anheizen, dann ist das nur gut. bdw: Gerade erst hat die Öffentlichkeit gelernt, dass Kombinatorische Chemie in der Pharmaforschung „der Renner“ ist, eine Methode, bei der Roboter Zehntausende von potenziellen neuen Wirkstoffen auf einmal herstellen. Ist das schon wieder passé? Wess: Das nicht, aber die Euphorie ist abgeklungen, denn die Kombinatorische Chemie hat bisher nicht die erhofften Erfolge gebracht. bdw: Was war der Pferdefuß? Wess: Man war bei der Kombinatorischen Chemie zu ausschließlich darauf aus, eine große Menge von Substanzen herzustellen und hat dabei ihre biologische Relevanz außer Acht gelassen. bdw: Wie lautet die neue Marschrichtung? Wess: Wenn wir die Struktur und die Funktion der Moleküle kennen, die wir mit Medikamenten modulieren wollen, dann können wir gezielt – und nicht blind, wie bisher – in den biologischen Strukturraum hinein synthetisieren. Und an diesem Punkt kann dann auch die Kombinatorische Chemie wieder ins Spiel kommen. Als Instrument, um eine Fülle von Substanzen zu produzieren, die zu den Erkenntnissen passen, die die Chemische Biologie erschlossen hat. Wir haben unser Ziel erreicht, wenn wir den biologischen und den chemischen Strukturraum zur Deckung gebracht haben. bdw: Lernt man so etwas heute im Chemie- oder Biologiestudium? Wess: Eher selten. Chemiker und Biologen müssen die Grenzen zwischen den Disziplinen viel mehr als bisher überschreiten und zusammenarbeiten. Eine Anpassung der Studiengänge an die neuen Anforderungen scheint überfällig.

Thomas Wilke / Thorwald Ewe

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