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Freaks und Vorurteile

Allgemein

Freaks und Vorurteile
Mathe wird geliebt oder gehasst. Dazwischen gibt es nichts. Der Grund: verstaubte Lehrmethoden.

Auf den ersten Blick denkt man an eine Rechtsanwaltspraxis: ein herrschaftlicher Treppenaufgang aus dem 19. Jahrhundert, durch dessen Oberlicht die Sonne hereinscheint, große Räume, Parkettfußboden. Wären da nicht die Plakate an den Wänden: Binomische Formeln, Strahlensätze und Potenzgesetze. Davor sitzen sechs Schülerinnen und Schüler, am Freitagnachmittag um 15 Uhr. Außen sind die Temperaturen winterlich, doch die Schüler schwitzen im Institut „Schülerhilfe“ in Berlin-Pankow bei der Mathe-Nachhilfe: Ein Neuntklässler beschriftet in einem rechtwinkligen Dreieck Hypotenuse und Katheten. Neben ihm versucht ein anderer Schüler, den Satz des Pythagoras auf einen Luftballon anzuwenden, der an einen Pflock festgebunden ist.

Mathematik – ein Hassfach? Die Nachhilfeschülerinnen und -schüler sind anderer Meinung. „Nö, Mathe finde ich gar nicht furchtbar. Das war früher mal“, meint etwa eine Neuntklässlerin, die sich eben die Division von Potenzen erklären lässt. Probleme mit dem Unterrichtsstoff hat sie immer weniger. Sie lehnt sich zurück. „Mathe ist schon okay. Unser Lehrer erklärt nur nicht richtig“, lautet ihr Urteil. „Mathe-Nachhilfe hat eine große Erfolgsquote“, bestätigt Schülerhilfe-Gebietsleiterin Ruth Karst. „Die Kinder und Jugendlichen suchen das Gefühl, individuelle Betreuung und Antworten auf persönliche Fragen zu bekommen, was sie in einer Klasse mit 30 Schülern nicht erwarten können. Die Schüler wollen lernen und Leistung zeigen – und diese Haltung nimmt zu“, sagt sie.

Känguru und Adventskalender

Ist Mathematik also ein Schulfach wie jedes andere? „Ja und nein“, findet Hans-Georg Weigand, Professor und Lehrstuhlinhaber für Didaktik der Mathematik an der Universität Würzburg sowie Vorsitzender der Gesellschaft für Mathematik. „Umfragen zeigen: Mathematik ist gleichzeitig das unbeliebteste und das beliebteste Schulfach. Mathematik polarisiert wie kein anderes Fach.“ Das ist für Weigand der Hauptgrund dafür, warum die Probleme von Schülern mit Mathe häufig im Mittelpunkt von Diskussionen unter Eltern und in der Öffentlichkeit stehen. Da ist auf der einen Seite der Erfolg von Aktionen wie dem „Känguru der Mathematik“ – einem jährlichen freiwilligen europäischen Mathetest für alle Klassenstufen an Gymnasien, der in Deutschland an der Berliner Humboldt-Universität organisiert wird. Über eine halbe Million Schüler aus Deutschland haben im vergangenen Jahr die 30 Testaufgaben für ihre Altersstufe im Mathe-Unterricht gelöst. Oder der mathematische Adventskalender des Berliner DFG-Forschungszentrums „Matheon“. Dessen Türchen geben jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit täglich ab 18 Uhr zum Teil sehr anspruchsvolle Aufgaben preis. Wer die Aufgaben noch am selben Abend löst, bekommt einen Punktevorteil. Für die Punkte kann man Sachpreise wie Laptops, Mobiltelefone und Uhren sowie Reisen gewinnen. Jedes Jahr beschäftigen sich 4000 bis 5000 Schüler mit den Aufgaben – abends, in der Freizeit.

Auf der anderen Seite blamiert man sich als Erwachsener mit dem Satz „In Mathe war ich immer schlecht“ kaum. Nachdenklich streicht der Würzburger Wissenschaftler Weigand durch seinen dichten schwarzen Schnauzbart, wenn er die typischen Wesensarten der Mathefeinde und -freunde in den Schulen klassifizieren soll: „ Da gibt es zum einen Schüler, die keine Probleme damit haben, dass man in der Schulmathe mit wenigen vorgegebenen Regeln und Grundprinzipien auskommt, wenn man sie nur konsequent anwendet.“ Wer etwa die Regeln der Bruchrechnung verinnerlicht hat, der kann Einsen absahnen, ohne je verstanden zu haben, warum es nicht sinnvoll ist, durch Null zu teilen. „Dann gibt es eine Gruppe von Schülern, die lieben das, was man Schönheit der Mathematik nennt“ , so Weigand. „Die knobeln gerne und schätzen Probleme im überschaubaren Raum der Mathematik.“ Ganz anders die dritte Gruppe von Schülern, die Weigand ausmacht: „Sie sieht in den Symbolen und der speziellen mathematischen Sprache nur willkürliche Regeln ohne Bezug zur Lebenswelt. Diesen Schülern werden Fehler nachgewiesen, und sie wissen gar nicht, was sie falsch gemacht haben.“

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Nicht nur im Zugang zur Mathematik, auch in der allgemeinen Leistung unterscheiden sich die Schüler. Allerdings: Die Unterschiede werden gerne auf die Mathematik fokussiert – das Fach, in dem die Leistung scheinbar leichter zu messen ist als in vielen anderen Fächern. Aber Mathematik ist keineswegs ein Fach, an dem besonders viele scheitern. „Klar, eine Fünf in Mathe wiegt mehr als eine Fünf in Musik“, sagt Brigitte Lutz-Westphal, Didaktikerin an der Technischen Universität Berlin und am DFG-Forschungszentrum Matheon. Aber ihre Erfahrung zeigt: Es ist extrem selten, dass ein Schüler überall gut ist und nur wegen Mathe durchfällt. Oder umgekehrt: Auch einseitige mathematische Begabungen sind exotische Einzelfälle.

Reste AUS DER ddr-zEIT

Matthias Nicol kennt sich bei diesem Thema ebenfalls aus. Er leitet den Fachbereich Mathematik am Heinrich-Hertz-Gymnasium, einem Gymnasium mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Profil in Berlins Osten. Die Einrichtung förderte schon zu DDR-Zeiten mathematisch und naturwissenschaftlich interessierte Schüler. Bekanntester Absolvent ist ein Rechtsanwalt und Politiker: Gregor Gysi, Frontmann der PDS. Selbst in der Auslese an Schülern, die Nicol unterrichtet, kann er kaum Inselbegabungen entdecken: „Es sind ganz wenige, die so veranlagt sind – in einem Jahrgang einer oder zwei. Die meisten mathematisch Begabten haben auch auf anderen Gebieten Interessen – Musik, Fremdsprachen, Naturwissenschaften – und sind auch da gut“, weiß er.

Das Schulhaus des Heinrich-Hertz-Gymnasiums ist ein ehrwürdiger Bau aus dem Jahr 1902. In den hallenden Gängen hängt eine Mischung aus Ost-Strenge und Pennälerromantik à la Feuerzangenbowle. Wie Freaks sehen die Achtklässler nicht aus, die in die Pause jagen, auch wenn sie in den Schulstunden Aussagen- und Prädikatenlogik exerzieren. Im Erweiterungskurs Mathematik in der Oberstufe lösen die Schüler dann Probleme aus dem mathematischen Grundstudium. „Wir haben durch eine besondere Stundentafel in Mathematik, Physik und Chemie mehr Stunden zur Verfügung als an anderen Gymnasien“, erklärt Nicol.

Der Berliner Pädagoge hat das System der mathematischen Förderung schon zu DDR-Zeiten kennen gelernt – jeder Bezirk hatte damals eine spezielle Oberschule mit Schwerpunkt Mathematik und Naturwissenschaften. Die meisten dieser Schulen haben als Gymnasien mit naturwissenschaftlicher Prägung überlebt und sind heute über das Netzwerk MINT-EC zusammengeschlossen, einen Verein, dem es um Förderung von Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften an den Schulen geht. „Dieses Angebot könnte breiter sein“, findet Nicol, der beklagt, dass solche Spezialschulen nur Inseln sind. „Mathematik ist ja im Prinzip Strukturerkennung – und wenn Kinder im Vorschulalter und im Elternhaus angeregt werden, Muster und Strukturen zu erkennen oder sich naturkundliche Fragen zu stellen, dann kann sehr viel aufgebaut werden“, ist er überzeugt. „Falls das nicht geschieht, kann der Zugang zu Mathematik und Naturwissenschaften verschüttet werden“, warnt er und fordert: „Wir bräuchten Kitas mit qualifizierten Kräften.“

entrümpelte lEHRPLÄNE

Didaktiker Hans-Georg Weigand sieht da schon eine Menge Erfolge: „So viel, wie in Deutschland an den Grundschulen passiert ist, ist in keiner anderen Schulform geschehen – weltweit“, stellt er zufrieden fest. „Gerade die Grundschule war früher sehr auf schriftliche Rechenverfahren ausgelegt, Geometrie gab es kaum. Das hat man vor 30 Jahren erkannt und entsprechend gehandelt.“ Die Inhalte der Lehrpläne an den Grundschulen wurden entrümpelt und geändert. Anders sei die Lage an den Gymnasien – hier herrsche erst seit den internationalen Vergleichsstudien TIMSS und PISA Aufbruchstimmung.

Weigands Berliner Kollegin Lutz-Westphal führt das auf die Lehrerausbildung zurück: „Bei Lehrern für das Gymnasium liegt der Schwerpunkt auf der fachlich-inhaltlichen Schiene.“ Die für die Vermittlung von Verständnis und das Wecken von Begeisterung bei den Schülern entscheidende Fachdidaktik ist nur ein kleines Extra in der Ausbildung. „Grundschullehrer lernen hingegen hauptsächlich Didaktik und Methodik“, lobt Lutz-Westphal. Das Problem der Gymnasiallehrer fängt damit an, wie sie selbst Mathematik gelernt haben. „Wir haben alle einen Mathematikunterricht erlebt, der lehrerzentriert, formal, kalkülorientiert war. Und in der gleichen Weise ging das an der Universität weiter: Vorlesungen, Übungen. Das wird tradiert“, diagnostiziert Weigand. Andere Didaktiker sprechen von Studenten, die die Fachausbildung „durchtunneln“ und hinterher den Unterrichtsstil an den Tag legen, den sie selbst in der Schule erlebt haben.

„Die Katze beißt sich dauernd in den Schwanz“, fasst Lutz-Westphal zusammen. Das Resultat ist ein System, das in erster Linie Schüler erreicht und fördert, die Rechnen, Regeln und Rätsel mögen – Polarisierung ist da programmiert. Dass die Mathematik eine lebendige Sprache ist, die dazu dient, Strukturen zu beschreiben, kommt im Lehrplan nicht vor. Dasselbe gilt für die Erkenntnis, dass Mathe viel Kreativität erfordert. „Das spielerische Hantieren bleibt auf der Strecke“, stellt Lutz-Westphal fest. ■

Andreas Loos

Kompakt

· Mathematik polarisiert die Meinungen weit mehr als andere Schulfächer.

· Entgegen weit verbreiteter Überzeugung scheitern Schüler keineswegs besonders häufig am Fach Mathematik.

· Experten kritisieren die Ausbildung der Lehrer als zu theoretisch und zu fern von praktischen Anwendungen.

Mehr zum Thema

Internet

Lehrstuhl für Didaktik der Mathematik an der Universität Würzburg: www.mathematik.uni-wuerzburg.de/ did.html

Wettbewerb „Känguru der Mathematik“: www.mathe-kaenguru.de

DFG-Forschungszentrum Matheon: www.matheon.de

Homepage des Heinrich-Hertz-Gymnasiums in Berlin-Friedrichshain: www.heinrich-hertz-schule.de/startseite/index.html

Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie (TIMSS): www.timss.mpg.de

Website zu den Mathematik-Olympiaden in Deutschland: www.mathematik-olympiaden.de

Erklärungen zu wichtigen mathematischen Regeln und Begriffen: www.mathematik.de

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♦ elek|tro|me|cha|nisch  〈Adj.〉 auf Elektromechanik beruhend, sie betreffend

♦ Die Buchstabenfolge elek|tr… kann in Fremdwörtern auch elekt|r… getrennt werden.
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