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Fuchteln nach Formeln

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Fuchteln nach Formeln
Sprechen können Computer schon lange. Nun lernen sie auch menschliche Mimik und Gestensprache.

„Ich finde es faszinierend, wie sich eine mathematische Gleichung im Lächeln eines virtuellen Wesens widerspiegelt”, sagt Nadia Magnenat-Thalmann, Direktorin am MiraLab, dem Forschungslabor für Computerwissenschaften der Universität Genf. Mit künstlich erschaffenen Gestalten, den „Avataren”, kennt sich die Wissenschaftlerin bestens aus: 1987 wurde sie im kanadischen Montreal als „Frau des Jahres” gefeiert – für das von ihr kreierte digitale Ebenbild von Marilyn Monroe. Die blonde Filmdiva aus Bits und Bytes schaffte ein Jahr später sogar den Sprung ins New Yorker Museum of Modern Art.

Auch über 20 Jahre später treibt die agile Forscherin die Weiterentwicklung der Avatare schwungvoll an: „Bald wird man in einem Video nicht mehr unterscheiden können, welcher Akteur ein Mensch aus Haut und Knochen ist, und welcher durch mathematischen Formeln in einem Computerprogramm generiert wurde”, prophezeit Nadia Magnenat-Thalmann. Die nächste Stufe der Entwicklung bei den virtuellen Wesen sieht sie darin, den Avataren so etwas wie einen Charakter zu geben – und sie zu einem scheinbar natürlichen Dialog mit Menschen zu befähigen. Bisher kann davon noch keine Rede sein. Bekannte Kunstfiguren wie der strohblonde Yuppie Robert, der vor ein paar Jahren im blauen Nadelstreifenanzug in Werbespots von T-Online auftrat, wirken trotz aller Mühen der Programmierer ziemlich gestelzt. Das Konzept für den T-Online-Avatar hat die Düsseldorfer Werbeagentur Citigate SEA entwickelt. Um dem penetrant lächelnden Robert eine Mimik und Gebärden zu geben, nutzte ein Londoner Maskenteam für Spezialeffekte – die Sherman Laboratories – einen realen Darsteller als Vorlage. Sein Mienen- und Gebärdenspiel wurde gefilmt und in mühevoller Kleinarbeit auf den digitalen Gesellen übertragen.

„Bis heute werden Kunstfiguren in animierten Filmen nicht vollständig im Computer generiert, sondern durch Heerscharen von Zeichnern nachgebessert”, berichtet Michael Kipp, Leiter der Embodied Agents Research Group am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken. „Auch in Videospielen ist vieles handgemacht.” Doch das sogenannte Motion Capture – das digitale Nachbilden gefilmter menschlicher Mimik, Gestik und Bewegung im Rechner – erfordert viel Arbeit und Feingefühl.

GYMNASTIK MIT DEM AVATAR

Bei den Gebärden gibt es beliebig viele Abstufungen zwischen heftig und sanft, ausladend und begrenzt, flüssig und abgehackt. „ Verschiedene Bewegungsschritte so nahtlos aneinanderzufügen, dass sie im Film als fließend erscheinen, ist alles andere als trivial” , sagt Kipp. Für den Einsatz von künstlichen Figuren in Spielen oder in der Werbung ist es jedoch wichtig, dass die digitalen Wesen mit automatisch generierten Gesten und Mimik schnell und treffend auf jede Situation reagieren. Das heißt: Sie müssen sich stets in ihren Aktionen unterbrechen lassen und blitzschnell ihre Stimmung ändern können. Viele Unternehmen arbeiten daran, Avatare in der Rolle eines Assistenten, Trainers oder Dozenten die Bedienung eines neuen technischen Geräts erklären zu lassen. Andere sollen zu Hause am Bildschirm gymnastische Übungen vorführen (bdw 4/2008, „Zum Gruseln menschlich”).

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„Damit solche digitalen Helfer akzeptiert werden, müssen sie menschliche Eigenschaften in ihrer ganzen Komplexität präzise nachahmen”, sagt Kipp. „Dazu gehört auch eine vielschichtige und individuelle Körpersprache.” Die aber muss man den Avataren erst mühselig beibringen. Dabei setzen die Forscher auf markante Vorbilder. Denn eine besonders imposante und teils übertriebene Gestik erleichtert das Erlernen der Körpersprache. Ein geeignetes Muster fanden die Saarbrücker Wissenschaftler im Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der in seinem Literarischen Quartett im Fernsehen stets heftig gestikulierte. den jeweiligen Sprecher sind”, fasst „Durch Imitieren der Gestik des TV-Moderators können wir neue Gesten synthetisieren, die charakteristisch fürKipp die Forschung seines Teams zusammen. Im Klartext heißt das: Man kupfert Reich-Ranickis Gesten ab, ordnet sie seinen Worten und deren Bedeutung zu, nimmt einen anderen gesprochenen Text und lässt einen Avatar dazu die Gesten vollführen – so wie Reich-Ranicki diese Worte mit Händen und Armen untermauern würde.

SCHLAGENDE ARGUMENTE

Es begann die Pirsch nach strengen Formeln, die sich hinter dem lebhaften Gestikulieren verbergen. Die Forscher entwickelten ein Werkzeug, mit dem sie den Verlauf der Szenen festhalten und mathematisch beschreiben können. Dazu zerlegen sie etwa eine von Reich-Ranickis wuchtigen Gesten in drei Phasen: Vorbereitung, „ Zuschlagen” und Rückzug. Bei dem telegenen Literaturpapst lässt sich mit dieser Methode genau nachzeichnen, wie sich etwa aus einer Rückzugsgeste heraus bei einem plötzlich auftauchenden neuen, inhaltlich „schlagenden” Argument sofort wieder das „ Zuschlagen” aufbaut. Dabei unterscheiden die Forscher, ob sich Arm und Hand in einer Ebene bewegen oder ob die Geste einen Bogen beschreibt. Außerdem notieren sie für jede Gebärde Anfangs- und Endposition von Schulter und Brustkorb sowie den Abstand zwischen den Händen.

Die so mathematisch zerlegte, vermessene und im Rechner beschriebene Geste kommt schon recht nahe an das heran, was die Monroe-Schöpferin Magnenat-Thalmann mit der „Gleichung” meint, die sich im Lächeln eines Avatars widerspiegelt. Trotzdem sind noch viele Fragen offen: Können die Forscher den Avataren durch die Gestik auch die Persönlichkeit von Reich-Ranicki verleihen? Nimmt ein Betrachter die Mimik der Avatare als originalgetreu wahr? Und: Könnte man quasi per Mausklick etwa Dreiviertel Reich-Ranicki mit einem Viertel eines anderen menschlichen Vorbilds mischen? Die Antwort: Ja, das geht – jedenfalls im Prinzip. Bei einem Test mit zwei Dutzend Versuchspersonen im Alter zwischen 24 und 46 Jahren stellten die Saarbrücker Forscher fest: Die Probanden konnten anhand der animierten Figur zu mehr als zwei Dritteln korrekt das Original identifizieren. Reicht das aus, um mithilfe automatisch erzeugter Gesten natürlich agierende virtuelle Schauspieler in Filme einzubinden – sodass für deren Programmierung keine aufwendigen Studioaufnahmen mit realen Vorbildern mehr nötig sind? „Das wird noch dauern”, räumt Michael Kipp ein.

SCHLITZOHRIGE ZOCKER

Selbst 20 Jahre nach der digitalen Marilyn Monroe ist es nicht möglich, dem Computer ein Drehbuch mit Handlung und Text vorzugeben, sodass ein Avatar die Szene authentisch und ohne weiteres menschliches Zutun spielen kann. Noch ist der Unterschied groß zwischen lebendigen Schauspielern und Kunstwesen. Trotzdem treten Avatare schon gegen Menschen an: etwa im „Casino Virtuell” des DFKI. In der Spielbank zocken reale Menschen an einem speziell präparierten Pokertisch gegen die Avatare Sam und Max. Die 52 echten Pokerkarten werden durch Funketiketten auf das Blatt der virtuellen Spielwelt übertragen. Unterschiedliche Pokeralgorithmen von Sam und Max bewerten alle Aktionen und schätzen den Wert des eigenen Pokerblatts ein. Je nach Charakter und Laune geben sie Kommentare zu ihren Aktionen im Spiel und trauen sich auch zu bluffen. Um die Ausdrucksfähigkeit der virtuellen Charaktere zu verbessern, haben die Saarbrücker Forscher auch neue Ansätze zur Sprachsynthese entwickelt. Dadurch lassen sich imposante Äußerungen generieren und Gefühle simulieren. Zum Einsatz kommt die Technologie etwa beim Sportreporter Eric. Der Avatar berichtet über Pferderennen. Und da er selbst auf ein Pferd gesetzt hat, hellt sich seine Miene sichtlich auf, wenn sein Favorit vorne liegt. Avatare sind eben auch nur künstliche Menschen. ■

Ulrich Schmitz gibt den Newsletter „Wissenschaft – Wirtschaft – Politik (WWP)” heraus und arbeitet als freier Journalist in Bonn.

von Ulrich Schmitz

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