Erstaunlich ist sie schon, die „Schneeball-Erde“-Hypothese des kalifornischen Geologen J.L. Kirschvink: Ihr zufolge soll die Erde im sonst weitgehend eisfreien Präkambrium – dem ersten Erdzeitalter, das vor 570 Millionen Jahren endete – mehrmals vollständig vergletschert gewesen sein. Das klingt absurd, denn das Klimasystem eines ganz mit Eis bedeckten Planeten läuft Gefahr, in eine Sackgasse zu geraten: Das Eis reflektiert den größten Teil der Sonneneinstrahlung, so daß sich die Erde unter normalen Umständen nicht wieder erwärmen könnte.
Kirschvink stützt seine These auf Kalkstein-Sedimente, die in der Regel nur in tropischen Meeren gebildet werden. Als sich die Erde – wie Kirschvink behauptet – drastisch abkühlte, drangen Gletscher bis zum Äquator vor, wo sich die Kalkstein-Ablagerungen unter das Gletschergestein mischten. Heute findet man diese Sedimente in Gesteinen in Nordamerika, Südaustralien und Südafrika – mehr als 30 Grad nördlicher beziehungsweise südlicher Breite. Wegen der Kontinentaldrift ist es durchaus möglich, daß sich die Orte in der Vergangenheit in den Tropen befunden haben.
Einen Beweis für seine Hypothese blieb Kirschvink bisher schuldig. Zwar hatten verschiedene Forschergruppen an mehreren Fundorten versucht, aus der Richtung des in den Gesteinsschichten gespeicherten Erdmagnetfeldes auf die frühere geographische Breite der Gletscher zu schließen. Doch dies scheiterte, weil die Richtungen des Magnetfeldes innerhalb eines Fundortes stark variierten – entweder weil die Gesteinsschichten beim Wandern der Gletscher deformiert wurden, oder weil das Erdmagnetfeld die schwachen Magnetisierungen im Laufe der Erdgeschichte „überschrieben“ hat.
Ein einmaliger Glücksfall für die Lagebestimmung der Gletscher ist deshalb die Ongeluk-Formation im südafrikanischen Griekwaland, 500 Kilometer südwestlich von Johannesburg. Der Südafrikaner N. J. Beukes hat festgestellt, daß hier eine gut erhaltene Schicht eisenhaltigen Vulkangesteins direkt über 2,2 Milliarden Jahre altem Gletschergestein mit den fraglichen Kalkstein-Sedimenten liegt.
Magnetische Messungen am Vulkangestein, die Beukes zusammen mit Kirschvink ausführte, haben ergeben, daß das Vulkangestein und auch das Gletschergestein bei einer geographischen Breite von rund 11 Grad abgelagert wurden. Die Erde muß sich also vor 2,2 Milliarden Jahren so weit abgekühlt haben, daß sich in der Nähe des Äquators Gletscher bildeten.
Die Erklärung für diese Abkühlung liefern die Kalkstein-Sedimente erfreulicherweise gleich mit, wie Alan Kaufman von der Harvard Universität im amerikanischen Cambridge feststellt. Bei der pflanzlichen Photosynthese wird bevorzugt das Kohlenstoff-12-Isotop gebunden. Der hohe Anteil von Kohlen-stoff-12 im Vergleich zu Kohlenstoff-13 im Kalkstein deutet also auf eine außergewöhnlich hohe biologische Produktivität im damals nährstoffreichen Meer hin. Die pflanzlichen Organismen entzogen der Atmosphäre fast vollständig das Treibhausgas Kohlendioxid, das normalerweise die Abstrahlung von Wärme in den Weltraum verhindert. Dadurch wurde der dramatische Temperatursturz ausgelöst.
Eine weitere Untersuchung an der Elatina-Formation nördlich von Adelaide in Südaustralien hat gezeigt, daß Gletscher vor rund 680 Millionen Jahren bis zum Äquator vorgedrungen sind. Wie es der Erde immer wieder gelungen ist, sich von ihrem Eispanzer zu befreien, ist noch nicht geklärt. Möglicherweise haben Vulkanausbrüche große Mengen von Kohlendioxid aus dem Erdinneren in die Atmosphäre geschleudert. Der daraus resultierende Treibhauseffekt könnte dann die Eismassen wieder zum Schmelzen gebracht haben.
Axel Tillemans