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Gott auf Erden

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Gott auf Erden
Avatare sollen den Umgang miteinander im Internet persönlicher und einfacher machen. So kann man virtuelle Doppelgänger in Computerspielen gegeneinander antreten lassen oder auf Abenteuerreise schicken.

„Hey, da bist du ja. Komm schon, nicht so schüchtern”, lockt die rothaarige Carina einen Passanten vor das Schaufenster eines Düsseldorfer Warenhauses. „Ja, genau da musst du drücken”, dirigiert sie den Neugierigen, der zaghaft mit den Fingern auf der Scheibe herumtatscht. Ein Druck auf die Fensterscheibe – und ein Musikvideo erscheint auf der etwa 1,20 Meter großen Projektionsfläche im Schaufenster. „Emotional Marketing” nennt Alexander Stricker, einer der Geschäftsführer der Kölner Agentur Charamel, diesen Einsatz digitaler Charaktere im kommerziellen Umfeld. Denn Carina ist nicht real. Sie existiert in einem Computer, besteht aus einem Gittermodell und Texturen, ihr Gehirn ist eine Bewegungs- und Verhaltensdatenbank. Sie handelt nicht selbstständig, sondern reagiert auf die Nutzer des interaktiven Schaufensters. Ein Infrarotmelder erkennt deren Position und Bewegungen vor der Fensterscheibe und löst Aktionen im Computer aus: Carina spricht den Nutzer an, ermutigt ihn, durch die Angebote zu surfen und projiziert die Inhalte auf die Glasfläche. Carina ist ein weiblicher Avatar. Dieser Begriff stammt aus dem Sanskrit und bezeichnet eine Gestalt, in der ein Gott auf die Erde herabsteigt. Carinas Aufgabe ist weniger göttlich – auch wenn sie dem Betrachter vor dem Schaufenster fast wie ein Engel erscheint. Schon bald, ist Alexander Stricker überzeugt, führen virtuelle Schönheiten wie Carina, der sprechende Fisch Mona oder das Moorhuhn den Nutzer durch die Menüs der Infoterminals in Kaufhäusern, durch Webangebote und E-Shops oder machen die allgegenwärtigen Persönlichen Digitalen Assistenten (PDA) zu echten personalisierten Begleitern im Alltag. „Die digitalen Charaktere werden uns als persönliche Guides in der immer stärker vernetzten Welt dienen, beispielsweise in der Küche mit Direktzugriff ins Internet”, meint Stricker. Auch Mark Wells, Leiter des Bereichs Forschung bei dem britischen Avatar-Hersteller Televirtual, glaubt, dass die „Virtual Humans” den Umgang mit Computern persönlicher und damit einfacher machen. „Sie bieten uns den natürlichsten Weg, um mit dem Computer zu interagieren”, sagt Wells. Seit dem weltweiten Erfolg von Carinas berühmter Schwester, der Computerspiel-Heldin Lara Croft, haben die digitalen Wesen den Sprung aus den Labors der Universitäten und den Fantasien der Cyberspace-Visionäre geschafft. So beschrieb Neal Stephenson 1992 in seinem Roman „Snow Crash” das Internet der Zukunft: Surfer betrachten nicht einfach Webseiten auf dem Bildschirm, sondern durchstreifen als Avatar das „ Metaversum” und treffen in virtuellen Räumen die Avatare anderer Surfer, die tausende Kilometer entfernt auf einem anderen Kontinent eingeloggt sind. „Du wirst dein Avatar und dein Avatar wird du”, spinnt der Isländer Hannes Högni Vilhjálmsson die Zukunftsvision weiter. Vilhjálmsson promoviert am Media Lab des renommierten Massachussetts Institute of Technology über Avatare. Allerdings, gibt er zu, kamen die virtuellen Welten nie so richtig in Gang. Weniger jedoch aus technischen Gründen, „sondern wegen der sozialen Erfahrung: Communitys bilden sich nicht über Nacht, die ersten Besucher dieser Orte fanden leere Hallen vor. Vielleicht trafen sie mal eine andere herumwandernde Person, aber an diesen Plätzen tobte nicht das Leben. Deshalb kamen nur wenige wieder.” Im kommerziellen Umfeld sind die digitalen Doubles dagegen erfolgversprechend: So hat das Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation im Rahmen des Forschungsprojekts „FashionMe” einen Avatar für den Online-Einkauf entwickelt. Das Problem: Wer sein neues Outfit im Internet bestellt, hat keine Möglichkeit, es vor dem Kauf anzuprobieren. Der Ankleide-Avatar soll hier Abhilfe schaffen: Der Online-Shopper in spe lässt sich zunächst von einem 3D-Scanner erfassen. Anhand der Daten wird dann ein digitales Double erstellt, das stellvertretend die neuen Hosen, Pullover, Anzüge oder Blusen in der virtuellen Boutique anprobiert. Doch der Avatar ist nur eine Kleiderpuppe, kein Wesen mit künstlicher Intelligenz, das der Nutzer an seiner Stelle in elektronische Shopping Malls auf Einkaufsbummel schicken kann. „Wir sprechen nicht mehr von Avataren, sondern von virtuellen Charakteren”, sagt Charamel-Geschäftsführer Stricker. Der Unterschied: „Ein Charakter hat seine Persönlichkeit, er kann medienübergreifend eingesetzt werden, während ein Avatar ausschließlich eine visuelle Erscheinung im Internet ist.” Avatare gibt es zur Zeit vor allem in der Unterhaltungsindustrie: Sie arbeiten wie Robert T-Online in der Werbebranche, materialisieren sich wie „Mona oder das Moorhuhn” bei Live-Events auf Glasscheiben oder holografischen Folien, moderieren wie Max Headroom oder Aimee im Fernsehen. Oder sie erleben wie Lara Croft als Hauptfiguren in Computerspielen fantastische Abenteuer. Doch wie wäre es, anstelle von Lara Croft selbst traumhafte Abenteuer in Pyramiden oder in antiken Tempeln zu erleben? Der „Phizzhead” des britischen Herstellers Digimask macht es möglich: ein dreidimensionaler Kopf des Spielers, den er auf seine Spielfigur montiert. So können die Bewohner der Online-Welt „The Sims” ihre Figur mit dem Phizzhead personalisieren und kommen damit den Vorstellungen einer virtuellen Welt recht nahe. Auch in dem Kampfspiel „Quake III” kann der Spieler seinen Kämpfer mit dem eigenen Gesicht versehen. Vor allem im Mehrspielermodus erhöht der persönliche Avatar den Ballerspaß: Die Ausrede, man habe Mitspieler nicht erkannt, für feindliche Wesen gehalten und aus Versehen erschossen, zählt dann nicht mehr. Rund 20000 Kunden habe Digimask schon, erzählt Gary Bracey, Gründer des Unternehmens und seit 1982 in der Computerspiele-Industrie engagiert. Doch mit dem digitalen Abbild kann man nicht nur virtuelle Abenteuer bestehen: „Der ursprüngliche Digimask-Kopf ist ein hochaufgelöstes 3D-Modell”, sagt Bracey. Aber er kann auch in anderen Formaten ausgegeben werden. Als Grafikdatei in niedrigerer Auflösung lässt sich der Zwilling als persönliches Logo auf das Mobiltelefon laden oder per SMS an Freunde verschicken. An eine E-Mail angehängt, liest er dem Empfänger durch animierte Lippenbewegungen sogar den Inhalt der elektronischen Post vor. Die Herstellung des Binärkopfes ist denkbar einfach: Der Interessent schickt zwei digitalisierte Fotos seines Gesichts – eine Frontal- und eine Profilansicht – per E-Mail an Digimask. Die von den Briten entwickelte Technik errechnet daraus ein 3D-Bild des Kopfes, das der Nutzer dann per E-Mail zugeschickt bekommt. Derzeit arbeitet das Unternehmen an einer Version der Software für den heimischen PC. Komplizierter ist das Erstellen von Ganzkörpermodellen wie den virtuellen Charakteren von Charamel. „Wir fertigen zuerst Zeichnungen an, die wir dem Kunden vorlegen”, sagt Alexander Stricker. „Ist er zufrieden, erstellen wir ein dreidimensionales Gittermodell, über das wir Texturen, also Haut und Kleidung, legen.” So erhalten die Designer eine dreidimensionale Figur. Damit diese sich auch bewegen, gestikulieren, das Gesicht verziehen, sprechen kann, bedarf es eines menschlichen Vorbildes: Ein Darsteller steigt in einen verkabelten Overall mit Sensoren, den Datenanzug oder Bodytracker. Dazu trägt er einen so genannten Face-Tracker – ein Stirnband mit einer Kamera und einem Mikrofon. Mit diesen Geräten haucht der seinem virtuellen Ego Leben ein: Der Tracker erfasst seine Gesten, Mimik und Lippenbewegungen und sendet die Daten an einen Computer. Eine Animationssoftware überträgt die Bewegungen auf den virtuellen Charakter. Sind die Daten erst im Computer gespeichert, können sie später beliebig kombiniert werden – etwa bei der Avatarin Tessa („Text and Sign Support Assistent”), die Forscher der University of East Anglia, das UK Post Office und das Unternehmen Televirtual entwickelt haben. Die Avatarin übersetzt gesprochenes Englisch in die britische Gebärdensprache. Um ihre Funktionstüchtigkeit für Hörbehinderte zu testen, tut Tessa seit April in fünf Postämtern Großbritanniens Dienst: Der Schalterbeamte spricht in ein Mikrofon, das an einen Computer angeschlossen ist. Eine Spracherkennungs-Software übersetzt das Gesagte zunächst in Text, dann in Gebärdensprache, die die Avatarin auf einem Monitor darstellt. So sollen sich die Postbeamten auch Gehörlosen mitteilen können. Für die Darstellung wurde ein Gebärdensprecher mithilfe von Motion Capture aufgenommen, erklärt Televirtual-Forscher Mark Wells. „Das bedeutet, die Elemente der Gebärden – Mimik, Körperbewegungen und -drehungen, Handfiguren und -bewegungen – werden als Daten aufgezeichnet, nicht als Videos.” Das Verfahren erlaube, die verschiedenen Gebärden später zu neuen Bedeutungseinheiten ohne das Ruckeln zusammengeschnittener Videosequenzen zusammenzufügen. Doch Tessas Aktivitäten sind enge Grenzen gesetzt: Sie beherrscht derzeit nur etwa 170 vordefinierte, gängige Posttransaktionen. Flüssige Unterhaltungen sind noch Zukunftsmusik. Immerhin erkennt das System semantisch ähnliche Sätze und bringt sie mit den korrekt aufgenommenen Sätzen in Einklang, berichtet Projektmanager Stephen Cox von der University of East Anglia. „Es ist egal, ob der Schalterbeamte sagt: ‚Da ist keine Steuer drauf‘ , oder ‚Darauf müssen Sie keine Steuer zahlen‘ oder ,Steuern müssen darauf nicht bezahlt werden‘ – alle diese Sätze werden gleich dargestellt.” Es wird noch eine Weile dauern, bis die virtuellen Wesen ein eigenständiges Leben auf Festplatte und Datennetzen führen, bis sie selbst denken und handeln. „Ein Avatar ist nur eine Repräsentation eines Menschen auf dem Bildschirm”, erklärt Wells. „Er ist nur so intelligent wie das Programm dahinter bezüglich Intelligenz, Spracherkennung, Spracherzeugung oder Verarbeitung der natürlichen Sprache.” Avatare sind also alles andere als Götter auf Erden. Dennoch: Digimask-Gründer Bracey sieht große Fortschritte. Er hofft, dass Avatare „in Zukunft ihr eigenes Leben führen werden”.

Kompakt

Avatare können viel: An eine E-Mail angehängt, lesen sie dem Empfänger den Inhalt der Nachricht vor. Ankleide-Avatare nehmen Maß beim Kleiderkauf im Internet. In britischen Postämtern helfen sie gehörlosen Kunden: Sie übertragen am Monitor die Sätze des Schalterbeamten in Gebärdensprache.

Werner Pluta

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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