„Innerhalb von nur drei Wochen können wir im Labor künstliche Haut für die gesamte Oberfläche eines erwachsenen Menschen herstellen – aus einem briefmarkengroßen Stück gesunder Hautzellen“, erklärt Dr. Alessandra Pavesio das schier Unglaubliche. Die Direktorin des Biopolymer-Instituts im oberitalienischen Abano Terme hat sich dem Bio-Engineering verschrieben. Ziel des mit EU-Geldern unterstützten Forschungslabors ist die Entwicklung einer biologisch abbaubaren Matrix für – wie die Mediziner sagen – dermo-epidermische Hautverpflanzungen. Das Material soll über schweren Verbrennungen oder chronischen Geschwüren neue natürliche Haut wachsen lassen. „ Vor allem Kinder – die häufigsten Verbrennungsopfer – und Menschen mit offenen Geschwüren profitieren davon“, berichtet die italienische Biomedizinerin. Bereits mehr als 1600 Patienten in Italien blieb damit eine lebenslange Entstellung oder die Verstümmelung durch Amputation von Gliedmaßen erspart. Gemeinsam mit belgischen, englischen und deutschen Kollegen gelang es den italienischen Wissenschaftlern, ein Biomaterial zu kreieren, das der menschlichen Haut gleichkommt. Während die Haut den Körper vor Austrocknung bewahrt, bilden die Knochen sein Gerüst. Besonders Menschen mit defektem Hüftgelenk spüren mit jedem Schritt die Schwachstelle ihres Stützapparats. Auch hier weckt die europäische Biomaterialforschung spektakuläre Hoffnungen: „ Spätestens in zehn Jahren werden Metallimplantate als Gelenkersatz in Hüften der Vergangenheit angehören“, prophezeit der niederländische Wissenschaftler Clemens van Blitterswijk (Kontakt via E-Mail: clemens.van.blitterswijk@isotis.com). Der Professor an der niederländischen Twente-Universität koordiniert das EU-Forschungsprojekt „Isobone“. Ein Verbund aus Keramik und Polymeren ergibt ein mineralisches Konstrukt, das menschlichem Knochen ähnelt. Die inzwischen patentierte „ Osteovitro-Technologie“ liefert, in Kombination mit Stammzellen des Patienten, innerhalb von sieben Wochen lebenden Knochen. Ein natürliches neues Hüftgelenk statt einer nur begrenzt funktionsfähigen Prothese? Dieser Traum – so scheint es – kann Wirklichkeit werden.
EURO-TALK
Dr. Alessandra Pavesio, Direktorin am Biopolymer-Institut Abano Terme, Italien, zu Bio- materialien in der Medizin:
bdw: Wie erzeugen Sie künstliche Haut?
Pavesio: Anstatt komplette Haut zu generieren, haben wir ein Biomaterial entwickelt, das Fibroblast- und Epidermis-Zellen zusammenführt. Diese Kombination zweier Zellarten kann die natürliche Haut des Menschen in allen Funktionen vollständig ersetzen.
bdw: Wer wird von Ihrer Forschungsarbeit profitieren?
Pavesio: Neben schweren Hautverbrennungen in der Unfallmedizin findet die künstliche Haut bei chronischen Wunden Anwendung – von Diabetes-Patienten beispielsweise.
bdw: Welche Bedeutung werden derartige Biomaterialien künftig haben?
Pavesio: Das Problem der nicht heilenden, offenen Wunden gewinnt durch die zunehmende Lebenserwartung in der westlichen Welt eine neue Dimension. Bis heute wurden allein in den USA rund zwölf Millionen Patienten mit offenen Geschwüren behandelt. Dabei kam es Jahr für Jahr – als Spätfolge – zu rund 50 000 Amputationen. Die meisten Patienten sterben innerhalb von drei Jahren nach einer Erstamputation, oder ein zweites Bein muß amputiert werden. Die Ziffern in Europa sind vergleichbar, auch hier gibt es immer mehr Patienten mit offenen Geschwüren.
EURO-TICKER
Spin-offs. Werkstoffe, die ursprünglich für Luftfahrt, Elektronik oder Textilindustrie entwickelt wurden, dienen heute der Medizin: Sie fördern die Reparatur oder Regeneration von natürlichem Gewebe. Jährlich finden weltweit 750 000 Hüftgelenk- und 500 000 Knieoperationen statt, 50 000 ernste Verbrennungen sind zu versorgen – ein riesiges Anwendungsfeld für Biomaterialien.
Künstliche Organe. Was wie Zukunftsmusik klingt, kann für Dialysepatienten und Leberkranke, die oft vergeblich auf Spenderorgane warten, zur neuen Hoffnung werden. Am Virchow-Klinikum Berlin und an der Medizinischen Hochschule Hannover laufen erste klinische Versuche mit „Biohybrid-Lebern“. Die EU-Kommission fördert die Entwicklung maßgeschneiderter künstlicher Membranen – beispielsweise für künftigen Leber- und Nierenersatz.
Thomas A. Friedrich / Alessandra Pavesio