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Heiler aus der Jauchegrube

Allgemein

Heiler aus der Jauchegrube
Im Kampf gegen resistente „Superbakterien“ besinnt sich der Westen auf eine Waffe aus dem Ersten Weltkrieg.

Baltimore, USA, neun Etagen über dem betongrauen Stadtzentrum Baltimores, inmitten der Auseinandersetzungen von Drogenhändlern und Bandenkriegern: Hier ist Tamuna Abuladze in einen Kampf ganz anderer Art vertieft. Die goldenen Ringe in den Ohren der Georgierin funkeln, als sie sich über eine flache Plastikschale beugt. Dutzende identischer Dosen türmen sich um die junge Laborassistentin. Jede enthält mikrobielle Erzfeinde: Bakterien, die jedes Jahr zehntausende von Menschenleben rauben – und ihre ältesten Gegner. Sie haben die Bakterien an einigen Stellen in der Plastikschale getötet und dort helle Löcher in die trüben Mikroben-Kolonien gefressen. Abuladze taucht eine feine Drahtöse in die lichten Schneisen, um die Organismen für eine DNA-Bestimmung herauszuangeln. Es ist schwer zu sagen, was mehr erstaunt: Dass diese winzigen Organismen so mühelos Keime töten, vor denen die Medizin zunehmend kapituliert. Oder dass sie mit einem Eimer aus Baltimores verschmutztem Hafenbecken gefischt wurden. Die Kreaturen sind so filigran, dass erst ein leistungsstarkes Elektronenmikroskop ihr außerirdisches Aussehen enthüllt: Einen kantigen Kopf, der wie eine Mondkapsel auf sechs spinnenartigen Beinen sitzt. Einen Stachelschwanz. Es sind Viren. Doch anders als etwa ihre berühmten Kollegen aus der Aidsforschung sind sie für Menschen harmlos, denn sie haben es nur auf Bakterien abgesehen. Wie ein Moskito landen sie auf ihren 40-mal größeren Opfern, bohren ihren Schwanz durch die Zellhaut und schießen ihre DNA hinein. Die Viren-Gene kapern die Zellmaschine und zwingen die Mikroben, Viren zu basteln. Reihen winziger Köpfe, Schwänze und Beine entstehen. Die Glieder vereinen sich, bis die Zelle birst und das neue Virenheer hinausschleudert. Als einer der Ersten entdeckte der Kanadier Felix d’Herelle 1910 die Zellpiraten – und zwar ausgerechnet im Kot ruhrkranker Heuschrecken. Er taufte sie Phagen nach dem griechischen Wort für „fressen“. Ein paar Jahre galten die Bakterienfresser als Hoffnungsträger im Kampf gegen Infekte. Doch die Phagen schienen launisch – manchmal halfen sie, manchmal ging es den Patienten schlechter –, und die westliche Welt verliebte sich stattdessen in die Wunderwaffe Penizillin. Doch nach Jahren des Missbrauchs – unter anderem als Masthilfe in der Tierzucht – verlieren die Antibiotika nun ihre Schlagkraft. Und der Westen besinnt sich auf die alte Keimbekämpfung aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zurück. „Es besteht die Gefahr, dass uns die Resistenzen in die prä-antibiotische Ära zurückwerfen“, warnt Intralytixs Laborchef Alexander Sulakvelidze in seinem kargen Büro mit Blick auf das verruchte Viertel von Baltimore. Sein rundes freundliches Gesicht runzelt sich besorgt, wenn er über die Bedrohung durch Bakterien spricht. Immer häufiger müssen Ärzte hilflos zusehen, wie Patienten an Krankheiten sterben, die man für besiegt hielt. In Südostasien sind bereits fast alle Tripper-Erreger immun gegen Penizillin. Und Tuberkulose droht erneut unheilbar zu werden. Dabei ist jeder dritte Erdbewohner nach Angaben der WHO Tbc-infiziert. Zwei Millionen wird der Tuberkel-Bazillus alleine dieses Jahr töten. In den USA sind Infektionskrankheiten heute die dritthäufigste Todesursache – 14000 Amerikaner sterben jährlich an Krankenhauskeimen, gegen die selbst die stärksten Antibiotika machtlos sind. Diesem Problem hatte die Pharmaindustrie in den vergangenen 25 Jahren nur eine neue Sorte von Antibiotika entgegenzusetzen. Aber schon im Teststadium mussten die Forscher ohnmächtig erste Resistenzen beobachten. „In den letzten 60 Jahren haben wir alle schwachen Bakterien ausgemerzt. Die Überlebenden sind unglaublich raffiniert“, sagt der Arzt Richard Carlton, Direktor der Firma Exponential Biotherapies. Wenn sich aber Infekte nicht stoppen lassen, können Organtransplantationen und Chemotherapie, ja selbst Alltagseingriffe wie Zahnziehen lebensgefährlich werden. „ Die Folgen sind fast unvorstellbar“, warnte die Weltgesundheitsorganisation 2000. Alfred Gertler kann sie sich vorstellen. Der 45-jährige Jazzmusiker aus Toronto spielte 1997 Bass auf einem Kreuzfahrtschiff in Costa Rica, als er bei einem Landausflug stürzte. Sein Fußknöchel splitterte durch die Haut. Die Wunde infizierte sich derart hartnäckig mit Staphylokokken, dass auch jahrelange Antibiotikabehandlung nicht half, „und ich nahm das Zeug lasterweise“, sagt der schnauzbärtige Musiker. Seit viereinhalb Jahren kann er kaum arbeiten und verbringt seine Tage mit hoch gelegtem Bein, damit die Infektion nicht lebensgefährlich aufflammt. Als die Ärzte zur Amputation rieten, vergrub sich Gertler in medizinischer Fachliteratur. Er fand eine Alternative: Phagen. Und einen Ort, wo er sie bekommen konnte: Georgien. Anders als der Westen hat der transkaukasische Bergstaat die Phagenmedizin nie aufgegeben. D’Herelle gründete hier 1934 ein Institut für Phagenforschung. Zu Glanzzeiten brauten rund 1200 Mitarbeiter tonnenweise Phagentinkturen und verschickten sie in die ganze UdSSR. Soldaten der Roten Armee schmierten sich Phagen auf eitrige Blasen, Kinder schluckten die Viren gegen Durchfall, Chirurgen spülten damit Operationswunden aus. Und die Mikroben heilten – oft besser als Antibiotika. Während Penizillin und Co neben den feindlichen auch nützliche Keime töten – und damit anfällig für Sekundärinfektionen machen –, befallen Phagen gezielt Bakterien, auf die sie sich spezialisiert haben. „Die Forscher wussten das zunächst nicht. Darum blieben manche Phagen wirkungslos“, sagt Carlton. Und weil die Ärzte ihre Präparate nicht so rein filterten, wie es heute mit modernen Laborgeräten möglich ist, enthielten diese oft Verunreinigungen, die toxische Schocks auslösten. Das brachte die Viren weiter in Verruf. „Oder sie sterilisierten ihre Lösungen mit Quecksilber und töteten damit die Viren. Sie machten alles falsch“, sagt Carlton. Die Georgier lernten aus den Fehlern und veröffentlichten ihre Erkenntnisse in mehr als 800 russischen Fachartikeln. Im Westen spielten Phagen dagegen nur in der Genforschung eine wichtige Rolle. Sprachbarriere und Feindbilder ergänzten sich und so wurde die georgische Forschung im Westen ignoriert – bis sie kurz vor dem Aus stand. Als Alfred Gertler in Georgien eintraf, fand er ein Institut, in dem eine abbröckelnde Zahl Mitarbeiter im Schein von Petroleumlampen der bitteren Februarkälte trotzte. Die Räume waren fast ungeheizt, und zehn Jahre nach dem Kollaps der UdSSR und einem aufreibenden Bürgerkrieg waren Stromausfälle so häufig, dass die Forscher um ihre in 60 Jahren angelegte Phagensammlung in schrottreifen Kühlschränken bangten. Trotzdem arbeiteten die georgischen Ärzte weiter. Sie tröpfelten Phagentinktur auf Gertlers Knöchel. „Die Entzündung war gerade wieder besonders schlimm“, erinnert sich der 45-Jährige. „Drei Tage später war sie komplett abgeklungen!“ Eine Operation soll den Fuß nun endgültig retten. Anekdoten wie diese lassen auch im Westen aufhorchen. „Eine Phage vermehrt sich rund 200-mal, bis das Bakterium platzt. Nach dem zweiten Zyklus hat man 40000 Phagen, dann acht Millionen, dann 1,6 Milliarden – atemberaubende Zahlen“, schwärmt Carlton. Sind die Bakterien ausgemerzt, sterben auch ihre Killer. Verändern sich die Mikroben, passen sich die Phagen an. Carlton beschloss, die heilenden Viren in den Westen zu bringen. Sein Unternehmen, Exponential Biotherapies, ist eines von einer Hand voll Phagenfirmen, die in den letzten Jahren in den USA, Kanada, Israel und Indien aus dem Boden sprossen. Jährlich gibt die Welt rund 25 Milliarden Dollar für Antibiotika aus. Können Phagen von diesem Markt auch nur einen Bruchteil erobern, wären sie sehr lukrativ. Ein neues Antibiotikum zu entdecken, verschlingt Jahre und hunderte Millionen Dollar. Dagegen ist die Phagensuche einfach. Ein Tropfen Wasser enthält bis zu 200 Millionen der Winzlinge – mehr noch, wenn es verschmutzt ist. Carlton und seine Kollegen etwa fanden Phagen gegen den gefährlichen Krankenhauskeim Enterococcus faecium, indem sie ungeklärtes Abwasser aus der Stadtkloake zentrifugierten. Damit behandelten sie Mäuse, die unter einem tödlichen Enterokokken-Befall litten. Unbehandelt starben die Nagetiere in 48 Stunden, doch wenn ihnen frühzeitig Phagen gespritzt wurden, überlebten alle, obwohl dieser spezielle Stamm in Hospitälern selbst den mächtigsten Antibiotika trotzt. „Selbst wenn die Mäuse schon fast tot waren, konnten wir noch die Hälfte mit einer einzigen Phageninjektion retten“, sagt Carlton. Erste Klinikstudien an Menschen sind in den USA angelaufen. In diesen so genannten Phase-1-Studien testen die Forscher die Ungiftigkeit der Phagen. Ergebnis: Die Patienten vertragen die Bakterienkiller sehr gut. Die ersten Tests auf Wirksamkeit beginnen in den nächsten Monaten. Die neuen klinischen Studien sind nötig, weil die sowjetischen Versuche den westlichen Standards nicht genügen. Mindestens drei Jahre aber werde es noch dauern, bis Phagenmedikamente auf den Markt kommen, sagen die beteiligten Firmen. Um die vorsichtigen Arzneimittelämter in Nordamerika und in der EU für Viren als Heilmittel zu erwärmen, gehen die Firmen die aufwändigen Kliniktests besonders sorgfältig an. „Das Problem ist das grundlegend neue Konzept“, sagt Asher Wilf von der israelischen Firma Phage Biotech. Die Viren sind aber nicht nur medizinisch nützlich. Die Washingtoner Pflanzenpathologin Britta Leverentz testet im Auftrag der US-Lebensmittelkontroll-Behörde, ob sich mit Phagen Salmonellen-Vergiftungen verhindern lassen. Die Erreger verursachen alleine in den USA jährlich 1,4 Millionen fiebrige Durchfallerkrankungen. Schuld sind bisher meist verunreinigte Eier oder Fleisch, doch auch vorgeschnittene Salate und Früchte sind eine mögliche Infektionsquelle. Solche Salate verkaufen sich immer besser und sind mögliche Infektionsquellen. Erste Untersuchungen an Apfelscheiben waren ein voller Erfolg für die winzigen Bakterienkiller. „Die Viren töten mehr schädliche Keime als das oft verwendete Chlor, und sie schonen Vitamine und die guten Bakterien“, sagt Leverentz. Einmal entdeckt, scheinen Phagen fast unbegrenzt einsetzbar. Sie können Ladentheken sterilisieren und bakteriell verschmutzte Strände säubern. In Florida fressen Phagen Krankheitserreger von Tomatenblättern – und bescheren kommerziellen Anbauern damit 25 Prozent höhere Erträge. Am Robert-Koch-Institut in Berlin testen Forscher, ob Phagen den Verzehr von rohem Schweinefleisch sicherer machen könnten. Und eine Montrealer Firma will Antibiotika aus der Viehmast verdrängen. „Das Resistenzproblem fängt ja bei den Tieren an, weil dort 50 Prozent der Mittel eingesetzt werden“, sagt BioPhages Chefin Rosemonde Mandeville, die ihre besten Viren aus Jauche gewinnt. „Phagen kosten nur halb so viel wie Antibiotika, und man kann sie einfach in die Tränke kippen.“ Doch Viren im Obstsalat oder in der Wurst? Sulakvelidze gibt zu, dass das ein Umdenken der Verbraucher erfordert, die Viren bisher meist als Gesundheitsfeinde kennen. Doch die Antibiotika-Krise könnte das Image der Phagen schnell polieren. Schon jetzt werden die Phagen-Firmen mit E-Mails von verzweifelten Patientenangehörigen bombardiert. Bisher dürfen sie nur in Ausnahmen helfen. 1999 sprühten kanadische Ärzte Phagen auf das Herz einer Sterbenden und injizierten ihr zusätzlich Phagenlösungen. Eine tödliche „Superbakterie“, resistent gegen alle Kunstgriffe der Mediziner, hatte die Herzpatientin befallen. Ihre Organe waren am Versagen. 20 Stunden später „waren die Infektionen verschwunden“, so ein Sprecher der Firma Phage Therapeutics, die die Viren zur Verfügung stellte. Es war allerdings nur kurzzeitige Hilfe. Die Frau starb zwei Monate später an ihren Herzbeschwerden. Selbst wenn sich alle in die Phagen gesetzten Hoffnungen erfüllen würden, könnten sie die Antibiotika nicht ersetzen. Die natürlichen Bakterienkiller tun sich schwer mit Erregern, die sich in anderen Zellen „verstecken“ , etwa mit Typhus-Erregern. Und gerade weil die hochspezialisierten Phagen nur ganz bestimmte Bakterien angreifen – es gibt alleine bei den Salmonellen etwa 2400 Untergruppen – bleibt die Anwendung kompliziert. Wenn die Phagen zugelassen werden, sollen sie vor allem dort helfen, wo Antibiotika versagen: Bei Verbrennungen und äußeren Wunden. Diese Verletzungen ließen sich schon immer nur schwer mit Penizillin und Co heilen. Als letzte Möglichkeit gegen resistente Erreger. Aber was geschieht, wenn die Bakterien gegen die Phagen immun werden? „Dann gehen wir einfach zum Hafen und fischen andere heraus“, schmunzelt Sulakvelidze.

Kompakt

Phagen sind die natürlichen Feinde von Bakterien. Viele Bakterienstämme sind inzwischen immun gegen Antibiotika. Jetzt sollen sie mit Phagen bekämpft werden. In Georgien hat die Phagen- Therapie eine lange Tradition. Westliche Firmen entwickeln diese Ansätze weiter.

INTERNET

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Die Weltgesundheitsorganisation WHO zum Problem der Bakterien-Resistenz: www.who.int/infectious-disease-report/2000/ Video – wie Phagen arbeiten: www.intralytix.com/Lysis.htm Phagen-Firmen: Intralytix Inc., USA www.intralytix.com Exponential Biotherapies, Inc., USA www.expobio.com Phage Biotech Ltd., Israel www.phage-biotech.com Phage Therapeutics Inc., USA www.phagetx.com BioPhage Inc., Kanada www.BioPhage.com/

Agricultural Research Service der USA über den Einsatz von Phagen in der Landwirtschaft: www.ars.usda.gov/is/AR/archive/jul01/phage0701.htm

Ute Eberle

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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Pu|rin  〈n. 11; Chem.〉 organisch–chem. Verbindung, z. B. Coffein od. Theobromin, Ausgangsprodukt der Harnsäureverbindungen [<lat. purus … mehr

Rh–Fak|tor  〈[rha–]m. 23; unz.; kurz für〉 Rhesusfaktor

zwei|häu|sig  〈Adj.; Bot.〉 männl. u. weibl. Blüten auf verschiedenen Individuen tragend (Pflanze); Sy diözisch; … mehr

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