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Jugend – besser als ihr Ruf

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Jugend – besser als ihr Ruf
„Null-Bock“ ist vorbei. „Sozial orientierter Egoismus“ ist die neue Leitidee der jungen Leute von heute. Dabei haben sie erstaunlich altmodische Wertvorstellungen.

Stephan ist 16 Jahre alt, begeisterter Pfadfinder und hat auf „ Null-Bock-Feeling absolut keine Lust“. In seinem Leben will er etwas erreichen, und dass er diesem Ziel nicht näher kommen kann, ohne sich dafür anzustrengen, ist ihm klar. „Wer nichts macht“, sagt er, „der kriegt auch nichts.“ Deshalb legt er sich neuerdings in der Schule schwer ins Zeug, auch wenn da der Spaß oft genug auf der Strecke bleibt. Das Abitur ist seine nächste Zielmarke. Und die will er auf jeden Fall erreichen, um alle sich bietenden Chancen für ein „glückliches Leben, in dem ich eigenverantwortlich Entscheidungen treffen kann“ zu nutzen. Klar – manchmal schaue er schon ein wenig neidisch auf die Leute, die „ den ganzen Tag Party machen“. Letztlich aber, meint er, vertun die ihre Chancen, und „versauen sich dadurch ihr Leben“. Man müsse, sagt Stephan selbstbewusst, „positiver Realist“ sein.

Der junge Mann, der sich für diesen Beitrag nicht fotografieren lassen wollte, ist kein einsam strebender Stubenhocker und schon gar kein Musterschüler. Und ein frühgereifter Einzelfall ist er auch nicht. Folgt man den Kriterien der neuesten „Shell-Jugendstudie“ ist er repräsentativ für die Gruppe der „selbstbewussten Macher und pragmatischen Idealisten“ (siehe Beitrag „Die Pragmatiker“). Dem inzwischen 50-jährigen Periodikum der Jugendbefragung zufolge machen sie immerhin die Hälfte der deutschen Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren aus. Charakteristisch für sie, so fanden die Wissenschaftler für den Öl-Multi Shell heraus, ist zweckgebundenes Handeln und Leistungsorientierung. Weder ein resigniertes „Null-Bock“, noch ein vergnügungssüchtiges „ich will Spaß“ ist ihre grundlegende Ausrichtung.

Ihre Lebenshaltung heißt „aufsteigen statt aussteigen“. Und dazu sind sie bereit, einiges zu tun. Der Leistungsorientierung ordnen sie allerdings oft soziales Denken und Engagement unter. „ Alle Untersuchungen“, schreibt der Bielefelder Soziologe Prof. Klaus Hurrelmann in der Shell-Studie, „weisen auf einen hohen Grad von Selbstzentriertheit hin, der bis zu einem Egoismus in der Durchsetzung eigener Interessen im sozialen Umfeld gesteigert werden kann.“

Wächst da eine Generation von blind vorteilsuchenden Ego-Taktikern heran? Dass dies nicht flächendeckend zu befürchten ist, belegen diverse soziologische Studien. Sie attestieren der Jugend trotz allen Spürsinns für persönliche Vorteile ein hohes Maß an sozialem Engagement und moralischer Verantwortung. Die Marktforscher des Wiener Fessel- Instituts fassen den Lebensentwurf der Jugendlichen in die griffige Formel vom „sozial orientierten Egoismus“ zusammen. Beispielhaft belegt diese Haltung eine repräsentative Studie der Münchner Soziologin Gertrud Nunner-Winkler.

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Sie befragte 17-jährige Jugendliche, was sie tun würden, wenn sie ihr gebrauchtes Moped für 400 Euro verkaufen wollten, der erste Interessent sie auf 300 Euro herunterhandelte, das Geld aber nicht dabei hätte. Er verspricht, schnell nach Hause zu gehen, um es zu holen. Während der Verkäufer wartet, kommt ein anderer Kaufwilliger, bietet exakt die erhofften 400 Euro und hält die Geldscheine in der Hand. Wie wird der Handel ausgehen?

Erstaunlicherweise wollte jeder zweite Jugendliche auf den Käufer mit den 300 Euro warten. Manch erwachsener Geschäftemacher wird die Einbuße von 100 Euro schlichtweg als Dummheit bezeichnen – doch die angeblichen Egozentriker begründeten ihre Entscheidung mit „Vertragstreue“. Von einem „allge-meinen Verlust an Normen oder einem Verfall der Moral kann also keine Rede sein“, wertet Nunner-Winkler die Lösung des moralischen Dilemmas. Nach ihren Untersuchungen nehmen drei Viertel der Jugendlichen die Moral „ ernst“ bis „sehr ernst“.

Auch andere Jugendforscher, etwa Ronald Hitzler oder Michaela Pfadenhauer vom Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Dortmund, bestätigen mit ihren Studien, dass die Kinder unserer Gesellschaft sehr konkrete Vorstellungen davon haben, was gut oder schlecht, richtig oder falsch, wünschenswert oder abzulehnen ist. Selbst in den so genannten Szenen– Techno, Hip-Hop oder Gothic – entdeckten die Forscher entgegen dem allgemeinen Erwachsenenvorurteil „bei näherer Betrachtung überaus vitale Märkte für ethische Orientierungsangebote – nicht nur im Hinblick auf das eigene Leben …, sondern auch im Hinblick auf … ein gutes beziehungsweise besseres Leben miteinander“. Könnten die Moralvorstellungen der Jugendlichen nicht nur einfach andere sein als jene, „die in den Altbauwohnungen der Toskana-Fraktion propagiert werden“, fragt – eher rhetorisch – Dirk Kaesler, Soziologieprofessor an der Universität Marburg.

„Anders sein“ ist zum Beispiel, dass „Leistung bringen“ und „ Spaß haben“ von den Jugendlichen nicht als unvereinbare Gegensätze betrachtet, sondern zu einem sich gegenseitig motivierenden „sowohl-als-auch“ verschmolzen werden. Das zeigt sich auch am Bedeutungswandel des Wortes „Spaß“, den Sprachwissenschaftler ausgemacht haben: „Spaß“ wird nicht mehr mit bloßer Oberflächlichkeit gleichgesetzt, sondern ist zum Ausdruck für Freude, Lust, Motivation und Sinnhaftigkeit geworden – unter den Jugendlichen heute ein moralischer Sammelbegriff für positive Lebensziele.

„Ein guter Beruf mit Spaß“ steht denn auch auf der Wunschliste von Stephan ganz oben. „Jede Menge Spaß“ hat er schon heute mit seiner „zweiten Familie“, den Pfadfindern, bei denen er schätzungsweise zwei bis drei komplette Monate des Jahres mit freiwilligen Projekten verbringt. Unter anderem mit einer Sommerfahrt nach Istrien, die er mit seinen Pfadfinderfreunden im vergangenen Jahr selbstständig „für die Kleinen“ organisiert hat. Das sei schon eine Aufgabe, gesteht Stephan, rund um die Uhr auf 10-Jährige aufzupassen, die einem von den Eltern anvertraut wurden, aber zweifellos: „Es hat Spaß gebracht.“

Der unüberhörbar laut und unübersehbar bunt daherkommende, scheinbar ausschließlich musik- und lifestylezentrierte Lebensstil der Jugendlichen hat Ernsthaftigkeit, Engagement, Motivation und die Orientierung nach verlässlichen Werten nicht verdrängt – sie fallen im allgemeinen Getrommel und Getümmel nur weniger auf. Dem Klischee von einer oberflächlichen „ Fanta-Generation“ egoistischer und verwöhnter Gören, die zu nichts zu gebrauchen sind, widersprechen auch internationale Studien. Überraschende Übereinstimmungen zeigt etwa der Blick über den Atlantik: Hüben wie drüben sind die Jugendgenerationen optimistisch gestimmt, familienorientiert, bildungsambitioniert, pragmatisch, ehrenamtlich engagiert, konsum- und medienfreudig.

Die amerikanischen Buchautoren Neil Howe und William Strauss bestätigen den – nach 1982 geborenen – „Millennials“ eine „ ausgesprochene Fähigkeit zu zielgerichtetem Teamwork, Bescheidenheit und anständigem Verhalten“. Sie referieren die Ergebnisse des Roper Center for Public Opinion Research. Das renommierte Meinungsforschungsinstitut an der University of Connecticut hat unter anderem zu Tage gefördert, dass Teenager „ Egoismus“ als Hauptgrund für die gegenwärtigen Probleme der amerikanischen Nation ansehen. In wenigen Jahren, so schreiben Howe und Strauss in ihrem Buch „Millennials Rising“, wird die neue „Wir-können-Jugend die Pessimisten und Zyniker in Erstaunen versetzen“. Die ist nämlich, im Gegensatz zur Vorgängergeneration, auch überzeugt, etwas verändern zu können, wenn man sich gemeinsam darum bemüht.

Als gesellschaftliches Grundübel nannten die Jugendlichen die „ fehlende elterliche Disziplin“. Das größte Problem der heutigen Jugend, wird der 17-jährige Josh Lee in der Untersuchung exemplarisch zitiert, sei das negative Beispiel, das ihnen die Erwachsenen gäben – eine schallende Ohrfeige für die meinungsbildende Elterngeneration. Und noch ein Vorurteil fällt: Für verwöhnter und amoralischer als ihre eigene Generation empfinden amerikanische Jugendliche vor allem Berühmtheiten der Popkultur – und viele Politiker.

Das zunehmende Misstrauen gegenüber etablierten politischen Organisationen hält die junge Generation hierzulande mittlerweile unübersehbar auf Distanz: „Das geringste Vertrauen“, bestätigt auch die jüngste Shell-Jugendstudie, „wird den politischen Parteien entgegengebracht.“ „Politik ja – Parteien nein“, bringt Pfadfinder Stephan den Vertrauensverlust auf den Punkt. Lieber will er in seinem direkten Umfeld „etwas Konkretes“ tun, in der Schule beispielsweise, am liebsten aber zusammen mit seiner „ Sippe“ bei den Pfadfindern. Da habe er „Freude am eigenen Tun und an der Pflicht, für andere da zu sein“.

Denn „cool“ sein, sagt Stephan, „heißt nicht nur Spaß haben, sondern auch, Verantwortung zu übernehmen“.

KOMPAKT

• Die Jugendlichen von heute haben fest umrissene Wert- und Moralvorstellungen.

• Die Erwachsenen sind dabei allerdings keine Vorbilder.

• 40 Jahre Jugendstudien belegen:

Die Heranwachsenden formen die Gesellschaft.

Claudia Eberhard-Metzger

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