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Kein Tiermensch – ein Genie!

Allgemein

Kein Tiermensch – ein Genie!
In 150 Jahren avancierte der Neandertaler vom Höhlen-Dödel zum Naturtalent. Die Bücherlandschaft 2006 spiegelt diese Karriere wider.

„Eine körperliche oder geistige Überlegenheit des Homo sapiens gegenüber Homo neanderthalensis ist in keinem einzigen Fall erkennbar“, bricht Dirk Husemann für den Neandertaler eine mindestens armdicke Steinzeit-Lanze.

Der studierte Archäologe und Wissenschaftsjournalist begründet seine Behauptung so: „Beide Menschenarten begruben ihre Toten, beide nutzten dieselben Jagdstrategien, Werkzeuge und Waffen, beide konnten Musikinstrumente herstellen und kommunizierten mithilfe von Sprache.“ So taufte er sein Buch konsequenterweise: Die Neandertaler – Genies der Eiszeit. Auch wenn bei dem Punkt „ Musikinstrumente“ die meisten Fachleute skeptisch die Brauen runzeln werden: Alles andere ist 150 Jahre nach der Entdeckung des namengebenden Fossilfundes kaum noch strittig.

Husemanns Buch ist das erzählerischste unter den Neuerscheinungen, die im Jubiläumsjahr des robusten Eiszeitlers auf dem Buchmarkt zu finden sind. Es ist vor allem denjenigen ans Herz zu legen, die nicht nur aktuell und korrekt informiert, sondern auch unterhalten sein möchten: zum mühelosen Schmökern im Lehnstuhl gut geeignet.

Spröder in Sprache und Dramaturgie tritt Vom Neandertaler zum modernen Menschen auf, ohne dass das Buch in archäologischen Fach-Slang abrutscht. Empfehlenswert ist es trotzdem. Denn die Autoren befassen sich mit der fesselnden Epoche zwischen zirka 38 000 und 29 000 Jahren: zwischen dem Ende der Mittleren Altsteinzeit, in der die Neandertaler mehr als 200 000 Jahre lang die einzige Menschenform in Europa waren, und deren Verschwinden am Ende des Aurignacien, der ersten „modernen“ Kultur der Jüngeren Altsteinzeit.

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Besagtes Aurignacien haben die Forscher noch vor einem Jahrzehnt ganz selbstverständlich mit der Einwanderung der anatomisch modernen Menschen erklärt. Doch seit den Neudatierungen etlicher Fossilien ist die vormals aufgeräumte Welt der Archäologen total in Unordnung: Der Übergang zwischen Mittlerer und Jüngerer Altsteinzeit, mit etlichen kulturellen Innovationen, scheint schon in Gang gekommen zu sein, als anatomisch moderne Menschen in Europa noch nicht nachzuweisen sind.

Waren die Neandertaler bereits auf einem eigenständigen Weg in die kulturelle Moderne? War der einwandernde Homo sapiens gar zunächst nur Imitator, nicht Innovator? Nur weil beide Menschenarten sich aneinander rieben, voneinander lernten und in dem immer mörderischer werdenden Klima um die letzten Ressourcen konkurrieren mussten, könnte die kulturelle Modernität in Europa den Siegeszug angetreten haben. Die Autoren des bemerkenswerten Buches erörtern dies – aktuelle Wissenschaft, kompetent und faktenreich.

Faktenarmut kann auch dem 339 Seiten starken Buch Der Neandertaler von Martin Kuckenburg keiner vorwerfen. Der Archäologe und Wissenschaftsautor hat tief in sein Archiv gegriffen und eine Menge Lesestoff über die Vettern des modernen Menschen zusammengestellt.

Allerdings scheint er vor lauter Schreiben nicht mehr so recht zum Lesen gekommen zu sein. Zwar nennt er im Literaturverzeichnis an erster Stelle die 2003 und – in korrigierter Version – 2004 veröffentlichte Studie „Neanderthals and modern humans in the European landscape during the last glaciation“ von Tjeerd H. van Andel und William Davies. Das ist löblich, denn diese Studie erbrachte Aufsehen erregende Ergebnisse – zum Beispiel, dass die Neandertaler entgegen anders lautender Behauptungen nicht kälteangepasst gewesen seien, sondern vor allem milde Klimazonen aufgesucht hätten.

bild der wissenschaft-Leser konnten das in Ausgabe 6/2005 („ Der Untergang der Neandertaler“) nachlesen. Doch der Autor dieser Zeilen hat von den Ergebnissen der provokanten Van-Andel-Studie nichts in Kuckenburgs Buch angetroffen – immerhin einer Neuerscheinung von 2005. Das enttäuscht. Man mag die Schlüsse der Studienautoren ablehnen, hier lässt sich trefflich streiten. Aber übergehen sollte man sie in einem aktuellen, 25 Euro teuren „ Alles über…“-Buch nicht.

Wer einen schmalen Geldbeutel hat, kann sich an das Taschenbuch Die Neandertaler des Paläobiologen Friedemann Schrenk und der Autorin Stefanie Müller halten. Für 7,90 Euro findet der Leser darin kompetent und gut verständlich das Basiswissen über die Evolution des Neandertalers und seine Einbettung in die eiszeitliche Umwelt. Allerdings wieder auf dem Informationsstand vor der Van-Andel-Studie, obwohl ebenfalls 2005 erschienen.

Wer sich am Fehlen des letzten Ticks Aktualität nicht stört, kann auch auf Bewährtes zurückgreifen. Immer noch empfehlenswert ist das schon 2002 erschienene Buch Die Neandertaler – Eine Spurensuche (Theiss, 26 Euro) von Bärbel Auffermann und Jörg Orschied: eine fundierte, gut verständliche Darstellung für jedermann.

Das gleiche gilt für Neandertal – Die Geschichte geht weiter (Spektrum Akademischer Verlag 2002, 15 Euro) von Ralf W. Schmitz und Jürgen Thissen. Die beiden Archäologen spürten die lange verschollenen Reste der Kleinen Feldhofer Grotte nahe Düsseldorf auf, wo 1856 der namengebende Neandertaler ans Licht kam, und beschreiben das in einem veritablen Wissenschafts-Krimi.

Unbedingt auf die Empfehlungsliste gehört auch Neandertaler – der Streit um unsere Ahnen (Birkhäuser 1999, 19 Euro) von Ian Tattersall: ein prachtvoller Bildband zu einem mehr als fairen Preis. Über einige inhaltliche Aussagen dieses Buches ist die Zeit hinweggegangen. Aber die exzellenten Fotos von Neandertaler-Fossilien und -Werkzeugen überzeugen immer noch durch ihre zeitlose Schönheit. ■

Thorwald Ewe

COMMUNITY DIE GROSSEN EVENTS 2006

Im Neandertaler-Feierjahr will sich Nordrhein-Westfalen – das Bundesland, in dem der namengebende Fundort liegt – nicht lumpen lassen: Attraktive Sonderausstellungen in gleich drei Museen und ein internationaler wissenschaftlicher Kongress werden geboten. Anfang Mai geht es los:

NEANDERTHALER HAUTNAH

3. Mai bis 24. September 2006

Das Neanderthal Museum macht die Schick- sale einzelner Neandertaler-Individuen erfahrbar: das Aussehen zu Lebzeiten, Krankheiten, Todesursache, Sterbealter. Die Gastgeber demonstrieren, wie man Rekonstruktionen erstellt und Fossilien als 3D-Datenmodelle in den Computer einspeist. Und: Die Besucher können sich durch „Morphing“ am Rechner selbst in Neandertaler verwandeln.

Neanderthal Museum

Talstr. 300

40822 Mettmann

Telefon: 02104 | 979797

www.neanderthal.de/

leben in eXtremen

30. Mai 2006 bis 30. Mai 2007

Extremer Klimawandel brachte Pflanzen, Tiere und Menschen immer wieder an den Rand ihrer Existenz. Der Neandertaler und der moderne Mensch haben es gut verstanden, sich an krasse Klimaschwan- kungen anzupassen. Diese Auseinandersetzung mit der Umwelt – sechs Millionen Jahre vor heute bis 75 000 Jahre in der Zukunft – hat das Westfälische Museum für Archäologie thematisiert.

Westfälisches Museum für Archäologie

Europaplatz 1

44623 Herne

Telefon: 02323 | 94628–0

www.landesmuseum-herne.de/

ROOTS – WURZELN DER MENSCHHEIT

7. Juli bis 19. November 2006

„Die bisher bedeutendste Ausstellung ihrer Art weltweit“, behaupten ihre Macher am Rheinischen Landesmuseum Bonn, und da haben sie nicht übertrieben. Noch nie war eine solch umfassende Schau der sensationellsten Funde aus der menschlichen Vor- und Frühgeschichte versammelt: darunter der Urahn-Unterkiefer (Homo rudolfensis) aus Malawi, Homo-habilis-Schädel aus Tansania und der „Turkana Boy“ (Homo ergaster) aus Kenia.

Rheinisches Landesmuseum Bonn

Colmantstr. 14–18

53115 Bonn

Telefon: 0228 | 2070-0

150 YEARS OF

NEANDERTHAL DISCOVERIES

21. bis 26. Juli 2006

Die Universität Bonn und die Deutsche Quartärvereinigung laden Fachleute aus aller Welt ein zu einem Kongress rund um den Neandertaler: Ursprung, Ernährung, Genetik, Traditionen… Anmeldung via Internet: www.neandertalerundco.de/bonn

INTERNET

Die Details zu diesen vier Groß-Events finden Sie unter:

www.neandertalerundco.de/

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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Ma|ra|bu  〈m. 6; Zool.〉 Angehöriger einer in Afrika, Indien u. auf den Sundainseln vorkommenden Gattung der Schreitvögel: Leptoptilus [<frz. marabou(t) … mehr

schräg  〈Adj.〉 1 geneigt, weder senkrecht noch waagerecht 2 〈fig.; umg.〉 vom Üblichen abweichend … mehr

♦ sa|kral  〈Adj.〉 heilig, heilige Handlungen od. den Gottesdienst betreffend; Ggs profan ( … mehr

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