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Keine Hilfe gegen den Winterblues

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Keine Hilfe gegen den Winterblues
Neue Studien zeigen: Johanniskraut wirkt doch nicht gegen Depressionen.

Das unscheinbare Johanniskraut galt schon im Mittelalter als mächtige Pflanze. Exorzisten versuchten mit Tränken daraus vermeintlich Besessenen den Teufel aus dem Leib zu treiben. In den hellen Punkten der Blätter glaubten sie Löcher zu sehen, die der erboste Teufel mit einer Nadel hineingestochen habe, weil das Kraut Macht über ihn besitze. In den letzten Jahren avancierte die frühere „Teufelsfuchtel” zu einem Vorzeige-Medikament der Pflanzenmedizin. Helfen sollen Präparate aus dem Kraut vor allem bei leichten Depressionen. „Wenn die Seele weint”, empfiehlt etwa die Pharma-Firma Stada ihren Extrakt – „damit die Seele wieder lacht”. Acht Millionen Packungen diverser Johanniskraut-Präparate werden jährlich in deutschen Apotheken, Drogerien und sogar Supermärkten verkauft – überwiegend ohne Rezept. Der Spitzenreiter unter den synthetischen Antidepressiva bringt es demgegenüber nur auf zwei Millionen Packungen. Regelmäßig entdecken die Hersteller neue Anwendungsmöglichkeiten. Johanniskraut soll den „Winterblues” vertreiben, die so genannte Saisonal Abhängige Depression. Angeblich hilft es auch, von der Zigarette los zu kommen, weil es die depressiven Entzugserscheinungen mildere. In ersten Studien hinterließ das Johanniskraut einen guten Eindruck. Bei leichten bis mittelschweren Depressionen helfe die Pflanze besser als ein Placebo, resümierte vor sechs Jahren eine Zusammenfassung im „ British Medical Journal”. Doch Kritiker bemängelten: Diese – vor allem europäischen – Studien würden erhebliche methodische Mängel aufweisen. Es sei beispielsweise nicht klar, gegen welche Depressionen die Präparate nun genau helfen. Noch mehr litt der Ruf des Johanniskrauts, als es vergangenes Jahr bei einer Studie mit 200 Patienten durchfiel. Nun hat eine neue Untersuchung, die bislang größte, diese Zweifel bestätigt. Unter der Leitung des Arztes Jonathan Davidson von der Duke University in Durham (North Carolina) gaben zwölf Kliniken 340 Erkrankten acht Wochen lang entweder ein Johanniskraut-Präparat, das synthetische Antidepressivum Sertralin oder ein Placebo. Natürlich wussten weder Ärzte noch Patienten, wer was erhielt. Das deprimierende Ergebnis: Patienten, die Johanniskraut bekommen hatten, waren am Ende zwar weniger depressiv, doch ihre Schwermut war nicht stärker abgeklungen als bei den Patienten, die nur ein Placebo bekommen hatten. Dasselbe wenig schmeichelhafte Resultat ergab sich allerdings auch für das Medikament Sertralin, das ähnlich wie das bekannte Antidepressivum Prozac die Konzentration des Botenstoffs Serotonin an den Synapsen erhöht. Die Sertralin-Patienten machten auf ihre Ärzte wenigstens insgesamt einen besseren Eindruck als die Placebo-Patienten – die mit Johanniskraut Behandelten nicht einmal das. Warum hat das Johanniskraut versagt? Der deutsche Hersteller Lichtwer, der das Präparat lieferte, attackiert die Studie nun im Nachhinein. „Ein Großteil der Patienten war offenbar therapieresistent”, heißt es aus Berlin. Die Ärzte hätten wohl auf ihre „Stammkundschaft” zurückgegriffen, die bereits anderen Therapieversuchen widerstanden habe. Nur: Die Depressionen der Patienten besserten sich ja durchaus, bloß eben nicht stärker als bei der Gruppe mit Placebo.

Die Studie ist daher auch ein Lehrbuchbeispiel, wie wichtig Placebo-Kontrollen bei Studien mit Depressiven sind. Denn Schwermut reagiert außerordentlich stark auf Placebos. Dieser Effekt wurde bei Studien in den letzten zwei Jahrzehnten sogar verstärkt beobachtet – das zeigt ein großer Rückblick in derselben Ausgabe des „Journal of the American Medical Association”, wo auch die Johanniskraut-Studie erschien. Die Gründe für die stärker beobachtete Placebo-Wirkung sind unklar. Vielleicht gehen inzwischen auch Menschen mit leichter Erkrankung in Behandlung. Es lässt sich allerdings noch nicht einmal sagen, ob tatsächlich der Glaube an das Placebo wirkt. Vielleicht werden Depressionen nach einigen Monaten auch vorübergehend von selbst besser. Was nach einem reinen Problem der Forscher klingt, hat für Depressive ganz praktische Konsequenzen. Wer in dunklen Zeiten auf eigene Faust ein rezeptfreies Medikament wie Johanniskraut schluckt, wird womöglich selbst dann eine Besserung spüren, wenn das Präparat völlig wirkungslos ist. Dauerhafter helfen würde aber ein effektives Mittel oder eine Psychotherapie. Ein Besuch beim Arzt oder Psychologen ist also zu empfehlen. Johanniskraut sollte schon deshalb nicht auf eigene Faust geschluckt werden, weil es Nebenwirkungen hat. So verträgt es sich schlecht mit manchen anderen Medikamenten. Ein Beispiel sind Präparate, die nach einer Transplantation das Immunsystem an Abstoßungsreaktionen hindern sollen. So konnte ein Patient mit Herz-Transplantation, der Johanniskraut in Eigenregie zu sich genommen hatte, nur mit Intensivmedizin gerettet werden. Einer der Autoren der neuen Studie geht noch weiter. Solange pflanzliche Mittel ihren Nutzen nicht in kontrollierten Studien nachgewiesen hätten, meint der Durhamer Mediziner Robert Califf, „ spielt man Russisches Roulette mit seiner Gesundheit, wenn man sie nimmt”.

Jochen Paulus

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