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Kickstart in die Schwerelosigkeit

Allgemein

Kickstart in die Schwerelosigkeit
Nicht nur im Weltraum herrscht Schwerelosigkeit – auch auf der Erde läßt sie sich durch den freien Fall simulieren, allerdings nur für kurze Zeit und mit immensem Aufwand. Demnächst soll ein Katapult die Versuchsbedingungen im Fallturm der Universität Bremen deutlich verbessern.

Wer auf der A 27 von Bremen in Richtung Nordseeküste fährt, dem sticht ein hoher Turm ins Auge, der wie ein aufgestellter Bleistift am Rand des Bremer Universitätsgeländes steht. Das 146 Meter hohe Bauwerk dient ausschließlich der Wissenschaft und gehört zum ZARM, dem „Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation“. In seinem Inneren befindet sich eine evakuierte Stahlröhre. Beim Druck von nur einem Zehntausendstel des normalen Luftdrucks stürzen Forscher hier seit zehn Jahren ihre Experimente in die Tiefe – wohlüberlegt. Nach exakt 4,74 Sekunden Flugzeit landen die Aufbauten sanft in einem acht Meter tiefen Auffangbehälter, der mit feinen Styropor-Kügelchen gefüllt ist.

Den wertvollen Versuchsaufbauten ist in all den Jahren nie etwas passiert. Über 3200mal sind die bis zu 500 Kilogramm schweren Flugkörper „ohne Kratzer und ohne Schramme“ sicher gelandet, berichten die zehn Ingenieure der Fallturm-Mannschaft stolz. Damit der Flugkörper nicht zu abrupt abgebremst wird, taucht er mit seiner konisch geformten Nase in das Styropor-Becken ein. Trotzdem wirkt für den Bruchteil einer Sekunde das 30fache der Erdbeschleunigung. Während des Fallens herrscht in dem Flugkörper Schwerelosigkeit. Denn beim freien Fall im Vakuum, so steht es in jedem Physiklehrbuch, wirken auf das in die Tiefe stürzende Objekt keine Kräfte. Und genau das ist das Ziel des Fallturms. Die recht kurze Zeitspanne von knapp 5 Sekunden reicht aus, um Flüssigkeiten, Schmelzen und Flammen unter „Null g“, also unter fehlender Erdbeschleunigung, zu untersuchen (siehe „Ein Fall für alle Fälle“, bild der wissenschaft 9/1990).

Allerdings: Je länger die Falldauer, desto einfacher und genauer lassen sich physikalische Phänomene in der Schwerelosigkeit untersuchen. Deshalb will das ZARM bei der Flugzeit nachrüsten. In einer bis zu 22 Meter tiefen Kaverne unter dem Turm arbeiten Techniker an einem Katapult. Da man einen Fallturm für die doppelte Flugzeit nur zu exorbitant hohen Kosten bauen könnte – er wäre wegen der beim Fall zunehmenden Geschwindigkeit nicht doppelt, sondern viermal höher als das jetzige Exemplar – haben sich die Bremer Forscher ein ehrgeiziges Projekt ausgedacht. Sie wollen die Experimente ab Anfang 2002 mit dem Katapult nach oben schleudern und so die Flugzeit verdoppeln. Nach der heftigen Beschleunigung am Anfang gleitet der Flugkörper antriebs- und kräftefrei bis zur Spitze des Turms – die Erdbeschleunigung wird durch die Trägheit seiner Masse aufgehoben, es herrscht Schwerelosigkeit. Nach dem Aufstieg und dem Fall zurück in die Tiefe landet der Körper mit dem Versuchsaufbau in gewohnter Weise im Auffangbehälter. Dieser wird vor dem Start zur Seite und unmittelbar danach zurück in die Auffangposition geschwenkt. Fällt die Schwerkraft weg, spielen sich in den Proben innerhalb weniger Millisekunden drastische Veränderungen ab. „Plötzlich bestimmen Kräfte die Prozesse, die unter normalen Bedingungen von der viel stärkeren Erdanziehung überlagert werden“, erläutert der Verbrennungsforscher Christian Eigenbrod. Der Wissenschaftler untersucht im Fallturm das Verhalten von verbrennenden Diesel- und Kerosintropfen. „Was in einem Motor beim Zünden und Verbrennen der Spraytropfen passiert, ist noch nicht bis ins Detail verstanden“, erklärt Eigenbrod. „ Wenn es durch bessere Modelle gelänge, den Verbrennungsvorgang nur wenige Prozent effektiver zu machen, ließen sich erhebliche Mengen an Kraftstoff sparen, und der Schadstoffausstoß könnte drastisch vermindert werden.“ Beleuchtet wird der Kraftstoff-Tropfen mit dem UV-Licht eines Excimer-Lasers. Dessen Lichtimpulse von wenigen milliardstel Sekunden Dauer und der Leistung eines mittelgroßen Kraftwerks regen einzelne Moleküle zum Leuchten an.

Mit einem Gewicht von rund einer Tonne ist das Gerät allerdings zu schwer, um in der Fallkapsel mitzureisen. Der Laser ist deshalb in der Turmspitze untergebracht. Sein Strahl gelangt durch ein Fenster in den Flugkörper und wird dort über ein Spiegelsystem auf den verbrennenden Tropfen fokussiert. Eine Blende schützt die empfindliche Kamera vor dem intensiven Laserlicht. Kurz bevor der Flug endet, beträgt die Distanz zwischen Laser und Kapsel 110 Meter. Der Laserstrahl muß während des Absturzes nachgeführt werden, denn der Flug der Fallkapsel verläuft nicht exakt gerade. Obwohl die evakuierte Stahlröhre nicht mit der Betonhülle des Fallturms verbunden ist, können sich über das Fundament bei starken Windböen Schwingungen auf die Stahlröhre übertragen. „Da die Kapsel vor dem Abwurf im Turm frei hängt wie ein Glockenklöppel, beginnt sie dann ebenfalls leicht zu schwingen“, erklärt Eigenbrod.

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Auch die Drehung der Erde wirkt sich auf den Flug aus: Der Flugkörper ist an seiner oberen Position weiter vom Erdmittelpunkt entfernt als bei der Landung. Er bringt daher von seiner Startposition eine schnellere horizontale Bewegung durch die Erdrotation mit, die während des Fallens erhalten bleibt. Die Folge: Es wirkt die sogenannte Corioliskraft, die den Körper auf eine sanfte Parabel zwingt. Meistens klappt die Nachführung, der damit verbundene Aufwand ist aber bald überflüssig, wenn der Laser in die Kapsel wandert. Im Auftrag des Bundes entsteht in den Labors des ZARM und seiner Partner in Stuttgart und Jena zur Zeit ein neuartiges Verbrennungsmodul, bei dem ein starker diodengepumpter Festkörperlaser die Aufgabe des Excimer-Lasers übernimmt. Das Modul gilt in Fachkreisen als Sensation, denn damit wird eine Diagnosetechnik für den Einsatz im Weltall entwickelt, von der auch die Forschung auf der Erde profitieren wird. Der Laser ist nicht nur viel kleiner, sondern ermöglicht mit 1000 Lichtblitzen pro Sekunde auch eine viermal höhere Zeitauflösung der schnellen Prozesse bei der Verbrennung von Treibstoff.

US-Firmen haben sich an der Entwicklung eines solchen Systems vergeblich die Zähne ausgebissen. Inzwischen werden dem deutschen Modul gute Exportchancen eingeräumt. Im Jahr 2002 soll das erste Verbrennungsmodul durch den Fallturm stürzen, 2005 muß die Version für die Internationale Raumstation ISS startklar sein. Aber nicht nur die Meßtechnik, auch einige Experimente sollen mit ins All – und das, obwohl die Qualität der Schwerelosigkeit in der Raumstation schlechter ist als im Fallturm. „Null g“ ist für Mikrogravitationsforscher, so die präzise Bezeichnung der Wissenschaft rund um die Schwerelosigkeit, nicht einfach gleich „ Null Komma Null g“. Man macht feine Unterschiede. Im Fallturm wirkt nur noch ein Millionstel der Erdbeschleunigung auf die Experimente. Im Weltall muß man sich mit einer 10- bis 100mal „ schlechteren“ Schwerelosigkeit begnügen. Die Bewegungen der Astronauten, Maschinengeräusche und thermische Schwingungen durch Abkühlung und Aufheizung der Raumstation im Sonnenlicht führen zu Störungen, die das Experiment beeinträchtigen. Andererseits bietet das Weltall einen großen Vorteil: Man kann dort in Ruhe viele hundert Parameter eines Experiments durchspielen. Auf der Erde wären dazu viele hundert Abwürfe nötig.

Die gegenseitige Befruchtung von Fallturmforschung und Raumfahrt wird bei den Versuchen von Mark Michaelis besonders deutlich. Er untersucht nicht einzelne Treibstofftropfen, sondern freie Flüssigkeitsoberflächen, wie sie in einem halbgefüllten Treibstofftank einer Rakete entstehen. „Zwischen der Flüssigkeit, der Wand und der Luft wirken durch Kohäsion und Adhäsion Kräfte, die unter normalen Bedingungen von der Schwerkraft dominiert werden“, sagt Michaelis. Der Treibstoff, erklärt er, beginnt die Wände hinaufzukriechen, während sich in der Tankmitte als Ausgleich eine Delle bildet. Es kann zu Schwingungen kommen. Die ungleichmäßige Verteilung des Kraftstoffs hat in der Vergangenheit beim Zünden von Raketenmotoren im All zu Problemen geführt. „Was genau in den mit Wasserstoff und Sauerstoff gefüllten Tanks passiert, wenn beim Abschalten der Motoren die Schwerelosigkeit einsetzt, ist bisher schwer vorherzusagen“, erklärt Michaelis. Nach seinen Ergebnissen darf man die Kräfte zwischen Flüssigkeit und Tank nicht wie gewohnt vernachlässigen. Bislang behelfen sich Raketen-Konstrukteure mit kleinen Zusatztriebwerken, die durch einen kurzen Impuls die Flüssigkeit im Haupttank in die gewünschte Lage bringen. Auf diese Aggregate würden

die Ingenieure gerne verzichten. In einigen Jahren, so hofft Michaelis, könnten seine Forschungen zu wichtigen Verbesserungen bei der Konstruktion von Raketentanks führen. Die Internationale Raumstation hat zu einem regelrechten Boom der Mikrogravitationsforschung geführt. Viele Wissenschaftler entwerfen Experimente für dieses fliegende Himmelslabor. Angesichts des enormen Aufwands, der hinter einer Weltraum-Mission steht, ist es aber oft ratsam, die Experimente zunächst am Boden zu testen. „Der Weg auf die Internationale Raumstation führt über den Fallturm“, meint der Leiter des ZARM, Professor Hans J. Rath. Ein Flug kostet hier schließlich nur rund 7000 Mark. Notwendige Korrekturen am Experiment können im ZARM oft noch vor Ort geleistet werden. Im Weltraum bestünde dazu keine Chance, da es praktisch ausgeschlossen ist, in das Experiment einzugreifen, und allein der Transport von einem Kilogramm Material ins All mit rund 20000 Mark zu Buche schlägt.

In Europa besitzt nur Bremen eine Fallanlage. Vergleichbare Einrichtungen gibt es nur in Übersee. Die USA und Japan unterhalten je zwei Fallanlagen, die aber nicht als überirdischer Turm konzipiert sind. Je nach den örtlichen Gegebenheiten befinden sich die evakuierten Röhren in Schächten oder an Hängen. In der Nähe von Peking entsteht zur Zeit ein weiterer Fallturm nach dem Bremer Vorbild. Der japanische Fallschacht bietet mit knapp zehn Sekunden die längste Experimentierzeit. Pro Flug sind dafür allerdings rund 50000 Mark zu berappen. Die langen Zeiten sind von Vorteil, wenn die untersuchten Stoffe nicht schon nach wenigen Millisekunden auf die Schwerelosigkeit reagieren.

So etwa bei der Suche nach neuen Werkstoffen: Autokonstrukteure wollen das leichte Aluminium durch den noch leichteren Aluminium-Schaum ersetzen. Doch es gibt ein Problem: „ Aluschaum entsteht, wenn Aluminium-Pulver zusammen mit einem Treibmittel wie Titanhydrid gepreßt und anschließend aufgeschmolzen wird“, erläutert der Physiker Dr. Stefan Odenbach. Während der Zersetzung schäumt das Aluminium, wobei Gravitation und Oberflächenspannung gegeneinander wirken. Es bilden sich unterschiedlich große Bläschen – bis heute ein ungelöstes Problem. „Sind die Bläschen zu groß, leidet die Stabilität des Werkstücks, was man sich bei einer Autokarosserie nicht leisten kann“, erklärt Odenbach, der sich von seinen Versuchen ein besseres Verständnis der Ursachen für die Bläschenbildung erhofft. Er wartet deshalb gespannt darauf, daß durch das Katapult die doppelte Experimentierzeit pro Fall zur Verfügung steht. Zur Zeit wird an dem Katapult eifrig gebaut. Um die bis zu eine halbe Tonne schweren Flugkörper innerhalb einer Drittelsekunde auf 175 Kilometer pro Stunde beschleunigen zu können, mußten die Techniker Pionierarbeit leisten, denn das System ist weltweit einzigartig.

Angetrieben wird der Beschleunigerkolben durch Druckluft. Ohne weitere Regelung wäre die Beschleunigung des Flugkörpers allerdings zu ruppig. Höherfrequente Schwingungsanteile könnten in die Kapsel übertragen werden und den Versuch empfindlich stören. Schließlich ist die Kräftefreiheit der Sinn des Unterfangens. Für jedes Experimentiergewicht errechnet ein Computer deshalb den optimalen Verlauf der Beschleunigung. Berücksichtigt werden dabei rund 100 Parameter. Geregelt wird das Ganze über ein Hydrauliksystem: Der Kolben gleitet in Öl, Ventile steuern den Durchfluß und beeinflussen so die Beschleunigung.

„Kaufen kann man Systeme dieser Art nirgends“, betont Ulrich Kaczmarczik, der als Ingenieur die Entwicklung leitet. „Die schnellsten geregelten Hydrauliksysteme werden zur Erdbebensimulation gebaut und sind für Geschwindigkeiten von höchstens zwei Meter pro Sekunde ausgelegt.“ Der am ZARM verwendete Beschleunigerkolben dagegen bringt bis zu 49 Meter pro Sekunde fertig. Deshalb wurde Ende letzten Jahres eine kleine Versuchsanlage installiert, um die wichtigsten Bauteile des Katapults vorab zu testen. „Wir haben mit Golfbällen begonnen“, berichtet Kaczmarczik. Das Ergebnis der Tests war erfreulich: Die Flugkörper erreichten exakt die berechnete Flughöhe und Bahngenauigkeit. Wenn alles nach Plan läuft, wird ab dem Sommer das richtige Katapult eingebaut. Anfang 2002 kann dann das erste Experiment auf eine neun Sekunden lange Reise durch den Bremer Fallturm geschickt werden.

Kompakt In einem fast 150 Meter hohen Fallturm experimentieren Wissenschaftler der Universität Bremen unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit. Sehr gefragt ist die Mikrogravitations-Forschung für die Vorbereitung von Experimenten im Weltraum auf der Internationalen Raumstation (ISS). Ein Katapult soll die Flugzeit in dem Fallturm künftig auf das Doppelte verlängern.

Bdw community INTERNET Auf der Homepage des ZARM kann man schon heute eine 3D-Simulation der Abläufe während des Katapult-Starts anschauen. http://www.zarm.uni-bremen.de

Informationen über die Internationale Raumstation ISS http://www.dlr.de/oeffentlichkeit/iss/inhr.htm http://www.estec.esa.nl/spaceflight/iss.htm http://spaceflight.nasa.gov/station

Mikrogravitations-Programme der ESA http://www.estec.esa.nl/spaceflight/hommygp.htm

Lesen Stratis Karamanolis Die Internationale Raumstation Elektra-Verlag, 1999, DM 46,–

Bernd Schöne

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