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Klebrige Kontaktaufnahme

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Klebrige Kontaktaufnahme
Ob Auto, Handy oder Eisenbahnwaggon – moderne Produkte enthalten viele verschiedene Werkstoffe. Um sie dauerhaft und stabil miteinander zu verbinden, sind Klebstoffe unersetzlich. Neue chemische Rezepturen machen das Kleben einfacher und vielseitiger.

In der Montagehalle des BMW-Werks in Dingolfing herrscht rege Betriebsamkeit. Mehrere Dutzend große Roboter arbeiten hier an den Rohkarosserien von Fahrzeugen der 7er-Modellreihe. Sie reichen Karosserieteile weiter, drehen diese in die richtige Position und bearbeiten die Bleche alleine oder im Team mit anderen Robotern. Erst beim genauen Hinsehen erkennt man, welche Aufgabe die stählernen Ungetüme zu erledigen haben: Feinfühlig und exakt dosiert tragen sie dünne Streifen einer blauen Klebstoffmasse auf die Fahrzeugbauteile auf.

Seit die Serienproduktion der aktuellen 7er-Reihe im Jahr 2001 angelaufen ist, wendet BMW in dem Dingolfinger Werk eine erst wenige Jahre junge Technik in einem bislang einmalig großen Maßstab an: das Punkt-Schweiß-Kleben. „Rund 150 Meter Klebstoffnaht werden dabei an der Rohkarosserie jedes Wagens aufgebracht“, berichtet Johann Feigl, der in der Forschung und Entwicklung für Schweiß- und Fügetechnik bei BMW für die Klebetechnik verantwortlich ist. Der Klebstoff wird zwischen den Stahlblechen aufgetragen bevor diese an einzelnen Punkten geschweißt werden. „Dadurch entstehen flächige Verbindungen, die die Festigkeit des Stahls über die gesamte Fügestelle hinweg übertragen“, sagt Feigl. Die Folge: Die Steifigkeit – und damit die Crash-Sicherheit – der Fahrzeugkarosserie wird deutlich erhöht. Bisher mussten dafür zusätzliche verstärkende Bauteile in die Karosserie integriert werden. Sie sind durch das Kleben nun überflüssig. „So können wir 18 Kilogramm an Gewicht einsparen“, sagt Feigl.

Den Klebstoff für das Punkt-Schweiß-Kleben, einen einkomponentigen Epoxidharzkleber, hat der amerikanische Hersteller Dow Automotive speziell für BMW entwickelt. Der Kleber entfaltet seine Wirkung auch auf öligen Flächen, die Blechteile müssen daher vor dem Auftragen des Klebstoffs nicht gereinigt werden – ein Novum in der Klebetechnik. Der wesentliche Pluspunkt jedoch ist seine extrem hohe Zugfestigkeit. „Dadurch macht der Klebstoff bei einem Unfall die Verformung der Karosserie mit“, schwärmt Feigl. Die Karosserie kann so einen großen Teil der Energie des Aufpralls aufnehmen.

„Strukturtragende Klebstoffe werden etwa im Automobil- und Flugzeugbau immer häufiger eingesetzt“, weiß Prof. Andreas Groß, Leiter der Abteilung Technologietransfer am Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Materialforschung (IFAM) in Bremen. Der wichtigste Grund dafür: „Weil die Anforderungen an die Produkte ständig steigen, nimmt auch die Zahl der eingesetzten Werkstoffe permanent zu.“

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So müssen Autos und Flugzeuge immer leichter werden, um zum Beispiel den Treibstoffverbrauch zu reduzieren. Erreicht wird das, indem neben Stahl auch Materialien wie Aluminium, faserverstärkte Kunststoffe und beschichtete Bleche verwendet werden. „Um so unterschiedliche Werkstoffe stabil und ohne ihre Eigenschaften zu verändern miteinander zu verbinden, gibt es zum Kleben keine Alternative“, sagt Groß.

Dass sich diese Erkenntnis nur langsam durchsetzt, hat mit dem negativen Image des Klebens zu tun. „Kleben kann jeder“ und „ Geklebt hält nicht“ lauten zwei weit verbreitete Vorurteile. „ Dabei ist das Kleben eine Hochtechnologie – und wird zur wichtigsten Verbindungstechnik des 21. Jahrhunderts werden“, prophezeit Groß.

Um dieses Bewusstsein zu fördern, werden am IFAM seit zwei Jahren Ingenieure und Techniker in Seminaren mit der modernen Klebetechnologie vertraut gemacht. Sie lernen zum Beispiel, dass es kaum noch ein Produkt gibt, das keine geklebten Verbindungen enthält: von Handys und Digitalkameras über Mikrochips und Lebensmittelverpackungen bis hin zu Schiffen und Eisenbahnwaggons. Dabei kommen viele verschiedene Klebstoffe zum Einsatz, deren Zusammensetzung auf die jeweiligen Anforderungen speziell zugeschnitten ist. So genannte Reaktionsklebstoffe auf Basis von Kunstharzen werden zum Beispiel überall dort verwendet, wo es auf besonders dauerhafte und stabile Verbindungen ankommt wie beim Punkt-Schweiß-Kleben von Fahrzeugkarosserien.

Wo hingegen Materialien miteinander verbunden werden, die sehr unterschiedliche Schwingungseigenschaften besitzen, werden weniger feste, dafür aber hochelastische Klebstoffe verwendet – zum Beispiel aus Polyurethan zum Einkleben von Autoscheiben oder von Kunststoffdächern in Zügen.

„Die Klebetechnik ist ein sehr dynamisches Forschungsgebiet“, sagt Andreas Groß – und nennt drei wichtige zukünftige Trends: „ Zum einen werden Simulationsverfahren entwickelt, mit denen sich die Eigenschaften von Klebeverbindungen im molekularen Maßstab am Computer vorausberechnen lassen.“ Eine anspruchsvolle Aufgabe, denn Klebstoffe verhalten sich weitaus komplexer als beispielsweise Metalle: Sie sind viskoelastisch, verformen sich plastisch und zeigen entlang der Klebeverbindungen andere Eigenschaften als in ihrem Inneren.

„Die zweite Entwicklungsrichtung ist das so genannte Debonding on Demand“, sagt Groß. Das heißt: Während heute meist nach dem Motto „so fest wie möglich“ geklebt wird, sollen neuartige Klebstoffe in Zukunft nur „so fest wie nötig“ haften – und leicht wieder auseinander zu kriegen sein, wenn das geklebte Produkt repariert oder recycelt werden soll.

Der dritte große Trend in der Klebstoffforschung ist die Entwicklung „biomimetischer Klebstoffe“. „Dabei versuchen wir Prinzipien, die uns die Natur vormacht, für Anwendungen in Technik oder Medizin zu imitieren“, erklärt Groß. Ein Beispiel ist die Seepocke, die sich unter Wasser extrem fest an Schiffsrümpfe ankleben kann. Die Technik, die das bei Seeleuten wenig beliebte Tier dabei anwendet, wollen die Fraunhofer-Forscher nutzen, um Klebstoffe zu entwickeln, die besonders beständig gegen Salzwasser sind.

Dass es Fortschritte beim Kleben auch dort gibt, wo man sie zunächst nicht vermutet, beweist die Firma tesa, die bis 2001 eine Sparte der Beiersdorf AG war. Vor fast 70 Jahren erfand ein Mitarbeiter des Hamburger Unternehmens den Tesa-Film. Seither wurde der unscheinbare selbstklebende Streifen ständig weiterentwickelt und ist zu einem High-Tech-Produkt avanciert. Statt des ursprünglich milchigen und rasch alternden Naturkautschuk-Klebers sorgt heute ein viel beständigerer und sehr klarer Klebstoff aus Polyacrylat für die geforderte Haftkraft. Das Film-Material Polypropylen hat das recht spröde und feuchtigkeitsempfindliche Zellophan der Ur-Tesastreifen abgelöst. Neben dem gewöhnlichen Klebefilm für den Hausgebrauch bietet Tesa inzwischen rund 6500 Produkte für private und industrielle Anwendungen.

„Für den Einsatz an Packstraßen haben wir ein besonders leises Verpackungsklebeband entwickelt“, sagt Volker Schmidt, Leiter der Abteilung Klebstoffe und Beschichtungen bei Tesa. „Durch eine atmosphärische Plasmaentladung wird die Oberfläche des Trennlacks modifiziert, mit dem die nicht klebende Seite des Klebefilms beschichtet ist“, erklärt Schmidt. Auf diese Weise löst sich das Band beim Abrollen fast geräuschlos vom Film ab. Der Vorteil: Im Gegensatz zu Packstraßen, die mit herkömmlichen Klebebändern bestückt sind, können die Packer mit geräuscharmen Bändern ohne Gehörschutz arbeiten.

Ein anderes neues Tesa-Produkt sind Selbstklebefolien zum Schutz von Neufahrzeugen während des Transports vom Werk zum Händler. Bisher wurden die neuen Autos mit einem speziellen Wachs überzogen, das den Lack vor Kratzern und Schmutz bewahrt. Das Wachs, das biologisch nicht abbaubar ist, belastet beim Abwaschen vor der Auslieferung des Fahrzeugs das Abwasser. Die Schutzfolie, die einen speziell entwickelten Klebstoff enthält, lässt sich dagegen einfach aufbringen und wieder ablösen – ohne Spuren zu hinterlassen.

Ein Ziel der Hersteller von Klebstoffen ist derzeit die Umstellung von lösemittelhaltigen auf lösemittelfreie Produkte. „ Dabei geht es zum einen um Umweltschutz“, sagt Schmidt. „Zum anderen können Kosten bei der Herstellung gespart werden.“ Denn die giftigen und leicht entzündlichen Lösungsmitteldämpfe müssen bei der Produktion von Klebebändern oder Folienetiketten mit großem Aufwand abgesaugt, von Aktivkohle absorbiert und unschädlich gemacht werden.

Für Abhilfe sollen zum Beispiel Klebstoffe sorgen, deren Klebeverhalten sich durch Bestrahlen mit ultraviolettem Licht einstellen lässt. Ein Rohmaterial für solche „ strahlenvernetzbaren“ Haftkleber hat man bei der BASF entwickelt. Der Trick liegt in der Polymerchemie: Klebstoffe bestehen aus langkettigen Polymeren, an denen bestimmte chemische Gruppen sitzen. Diese gehen mit der Kontaktoberfläche eine Verbindung ein und geben so den richtigen Halt. Bisher wurden den langkettigen Polymeren mit dem Lösungsmittel kleine, schnell reagierende Moleküle beigefügt, die die Polymere zum Beispiel unter UV-Licht miteinander vernetzen. Den BASF-Forschern gelang es, die für die Vernetzung erforderlichen reaktiven Moleküle chemisch in die Polymerketten einzubinden. Daher benötigt der Klebstoff weder Wasser noch organische Lösemittel als Beigabe. Seine Klebeeigenschaften werden allein durch die Dauer der Bestrahlung mit UV-Licht bestimmt.

Die Stuttgarter Firma Herma hat auf der Basis des lösemittelfreien BASF-Klebstoffs selbstklebende Etiketten entwickelt, die sogar im Vakuum fest haften – und deshalb bald im Weltall zu finden sein könnten. „Tests der Etiketten durch die ESA sind erfolgreich abgeschlossen worden“, berichtet Dr. Ulli Nägele von Herma. „Nun will auch die NASA die vakuumbeständigen Haftkleber testen.“ Falls diese Versuche ebenfalls positiv verlaufen, sollen die Etiketten zur Beschriftung von Bauteilen der Internationalen Raumstation dienen.

Ralf Butscher

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