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Kosmischer Striptease

Allgemein

Kosmischer Striptease
Wenn Sterne ihre Hüllen fallen lassen: Prächtige Nebel im All zeugen vom turbulenten Ende der Gestirne. Doch unter den galaktischen Leichentüchern steckt noch manches Geheimnis.

Asche zu Asche und Staub zu Staub – nichts ist für die Ewigkeit. Das gilt auch für die Sterne. Sie können sich aus den Trümmern verloschener Sonnen formen, aber schließlich zerfallen auch sie, und ein Teil ihrer eigenen Asche gelangt wieder in den kosmischen Kreislauf von Werden und Vergehen. Dabei entstehen die wohl schönsten Objekte im Weltall – kurzlebige Leichentücher von irrisierender Pracht und atemberaubender Vielfalt der Formen: regenbogenfarbene Rauchringe, verschlungene Achten, Räder, Bögen und vielblättrige Blüten – die „Planetarischen Nebel“. Ihren irreführenden Namen erhielten sie 1785 von dem englischen Astronomen William Herschel. Denn die winzigen blaugrünen Scheibchen, die er in seinem Teleskop sah, erinnerten ihn an den Planeten Uranus, den er vier Jahre zuvor entdeckt hatte. Doch Planetarische Nebel sind weder Planeten noch deren Vorläufer oder Nachfahren, sondern die abgesprengten äußeren Hüllen von sterbenden Sternen. Schätzungsweise 50000 Planetarische Nebel gibt es allein in der Milchstraße. Über 1500 wurden bereits katalogisiert, rund 100 davon sind mit Amateurteleskopen sichtbar. Doch obwohl die bunten Grabmäler seit über 200 Jahren beobachtet werden, beginnen Astrophysiker ihre Entstehungsgeschichte erst allmählich zu begreifen. „Wenn wir Planetarische Nebel um sterbende Sterne erforschen, müssen wir wie Paläontologen denken. Wir müssen gleichsam in der Zeit zurückgehen, um dem Stern auf die Spur zu kommen, der sich aufgelöst hat“, sagt Bruce Balick von der University of Washington.

Diese kosmische Geschichtswissenschaft erfordert modernstes Werkzeug: Supercomputer und höchstleistungsfähige Teleskope. Erst mit dem 1990 gestarteten Hubble-Weltraumteleskop erhielten die Forscher die notwendigen hochaufgelösten Bilder von den abenteuerlichen Strukturen der Nebel. Und erst mit aufwendigen Computersimulationen gelang es ihnen, realistische quantitative Modelle der komplexen Entstehungsgeschichte der Nebel zu entwickeln.

Früher galten Planetarische Nebel als abrupte Absprengsel Roter Riesen – aufgeblähter Sterne im Todeskampf. Doch niemand fand eine Erklärung für derartige Explosionen. In den siebziger Jahren wurde dann entdeckt, daß die Roten Riesen einen starken Sternwind aussenden und dabei jährlich bis zu einem Hunderttausendstel der Masse unserer Sonne ins All pusten – eine Milliarde mal mehr als die Sonne gegenwärtig mit dem Sonnenwind ausstößt. Zu diesem kosmischen Striptease führen der starke Wärmefluß aus dem Inneren, pulsierende Aktivitäten, der Eigendruck des Lichts und die nur lose Bindung der aufgeblasenen äußeren Schichten der Riesensterne. Binnen weniger zehntausend Jahre entweicht rund ein Drittel der Sternmasse ins All. Doch dies ist nur der erste Akt.

Sun Kwok von der University of Calgary entwickelte 1978 die Theorie der wechselwirkenden Sternwinde, die bis heute grundlegend für das Verständnis der Planetarischen Nebel ist. Demnach folgt dem dichten, mit etwa 25 Kilometer pro Sekunde relativ langsamen Sternwind ungefähr 1000 Jahre später ein dünnerer, aber bis zu 200mal schnellerer Wind, der den ersten Wind alsbald einholt und mit ihm kollidiert. Ähnlich wie ein Schneepflug vor sich Schnee anhäuft, verdichtet sich dabei die Materie. Stoßwellen sind die Folge, die das Gas aufheizen und leuchtende Schalen bilden. Von der Erde aus betrachtet erscheinen die Schalen wie lumineszierende Blasen – helle Ränder glühender Gase, die eine dunkle Höhle umschließen, in deren Zentrum sich der sterbende Stern befindet.

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Der kurzlebige Rote Riese stürzt bald zu einem Weißen Zwergstern zusammen – mit einer Oberflächentemperatur von 30000 bis 180000 Grad, einer ungeheueren Dichte von rund einer Tonne pro Kubikzentimeter und einem Durchmesser von nur wenigen 10000 Kilometern. Seine energiereiche Ultraviolett-Strahlung entreißt den Atomen der Nebelschwaden Elektronen. Dadurch entsteht die verschwenderische Farbpalette.

Das Spektakel währt freilich nur einen kosmischen Augenblick – vielleicht 50000 Jahre. Dann hat sich der Zentralstern so weit abgekühlt und der expandierende, ein bis zwei Lichtjahre groß gewordene Planetarische Nebel so weit verdünnt, daß das Farbenspiel verblaßt und schließlich verschwindet. Kwoks Theorie von den wechselwirkenden Sternwinden ist einfach und aussagekräftig. Aber ohne weitere Annahmen kann sie die Vielfalt der beobachteten Phänomene nicht erklären. Denn nur 10 bis 20 Prozent der Planetarischen Nebel erscheinen kreisförmig oder elliptisch. Die meisten sind bipolar: Sie ähneln Sanduhren, Hanteln und Achtern.

Bruce Balick gelang es 1987, Kwoks Theorie auch für bipolare Formen zu erweitern. Seine Computersimulationen zeigten, daß die fotografierten Strukturen entstehen, wenn der langsame erste Wind des Roten Riesen asymmetrisch entweicht: dichter am Äquator, dünner an den Polen. Diese ringförmige Verdichtung wirkt wie ein Korsett für den schnellen zweiten Wind, der hauptsächlich an den Polen ins All strömt. So bekommt der Nebel eine eingeschnürte „ Taille“. „Es ist erstaunlich, wie viele verschiedene achsensymmetrische Formen sich durch diesen Ansatz erklären lassen“, sagt Adam Frank von der University of Rochester, ein ehemaliger Student Balicks. Seine Computersimulationen haben eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Fotos der Planetarischen Nebel. Doch inzwischen gibt es Schwierigkeiten. „Die Natur ist kreativer, als wir oft denken“, meint Frank. „Vor fünf Jahren dachte ich, wir hätten verstanden, wie sich Planetarische Nebel bilden und was ihre Formen über die sterbenden Sterne verraten. Nun weiß ich, daß wir noch sehr wenig begreifen. Unsere Ideen werden von neuen Erkenntnissen fortgefegt, und wir wissen noch nicht, was an ihre Stelle tritt.“

Ein Problem sind Planetarische Nebel bei relativ kühlen Sternen, die nach bisheriger Forschermeinung gar keine schnellen Winde wegblasen. Vielleicht entstehen die Voraussetzungen für die Nebel schon früher, spekuliert Margaret Meixner von der University of Illinois. Doch viele ihrer Kollegen sind skeptisch. Eine bessere Erklärung haben sie allerdings auch nicht.

Das meiste Kopfzerbre-chen machen den Astrophysikern die punktsymmetrischen Planetarischen Nebel. Ihre S-förmige und spiralige Gestalt erinnert an den verbogenen Doppelstrahl eines rotierenden Gartensprengers. Für das seltene Phänomen – nur etwa fünf Prozent der bekannten Planetarischen Nebel sind punktsymmetrisch –, gibt es bislang keine Erklärung.

Wenn der zuerst ausgestoßene Sternwind überall, außer an den Polen, besonders dicht war, könnte der zweite Wind gebündelt werden und wie durch Düsen entlang der Polachse des sterbenden Sterns ins All schießen. Doch seine gebogene Struktur würde es erforderlich machen, daß der Gasring wie ein rotierender Kreisel wackelt. Der ist jedoch viel dünner als Zigarettenrauch. Die typische Dichte eines Planetarischen Nebels beträgt nur etwa 10000 Atome pro Kubikzentimeter. Zum Vergleich: ein Kubikzentimeter Atemluft enthält 30 Trillionen Atome. Ein Planetarischer Nebel ist demnach so filigran, daß er unmöglich schnell rotieren und zudem im Raum wackeln kann – er würde sich rasch auflösen.

Viele Astrophysiker halten Jets für den Schlüssel zur Lösung des Rätsels. Diese rasanten Ströme hochenergetischer Partikel werden bei jungen Sonnen, Neutronensternen, Schwarzen Löchern und Radiogalaxien häufig beobachtet (bild der wissenschaft 7/2000, „ Feurige Jets“). Sie können entstehen, wenn Sterne starke Magnetfelder besitzen. Davon ist zumindest Guillermo Garcia-Sequra von der Universidad Nacionale Autónomio de México überzeugt. Seine Idee: Die Magnetfelder halten wie Gummibänder die Ausdehnung der äquatorialen Winde zurück, so daß die schnellen Winde entlang der Polachsen als Jets ins All hinausschießen. Doch ob es solche extrem starken Magnetfelder bei sterbenden Sternen überhaupt gibt, ist bislang nicht geklärt. Außerdem müßten die Sterne rasch rotieren, um punktsymmetrische Nebel zu erzeugen.

Einen anderen Ansatz verfolgen Mario Livio vom Space Telescope Science Institute in Baltimore, Maryland, und Noam Soker von der Universität Haifa in Israel. Sie gehen davon aus, daß Jets normalerweise in der Umgebung von „Akkretionsscheiben“ entstehen. Das sind Ansammlungen von Gas und Staub, die spiralförmig auf ein kompaktes Objekt stürzen – auf einen Weißen Zwerg, Neutronenstern oder in ein Schwarzes Loch (bild der wissenschaft 7/2000, „Die Magie der Schwarzen Löcher“). Die Gas- und Staubmassen stammen meist von einem Nachbarstern, dem sie von der Schwerkraft des kompakten Objekts entzogen wurden.

Möglicherweise sind solche kosmischen Mahlströme auch eine Voraussetzung für die punktsymmetrischen Nebel. Ominöse extreme Magnetfelder spielen in diesem Modell keine Rolle. Und ungefähr die Hälfte aller Sterne existiert als Doppelsternsystem: Entreißt bei dem Schwerkrafttanz dieser Paare einer der beiden dem anderen Materie, entsteht unweigerlich eine Akkretionsscheibe. Wackelt ihre Rotationsachse – eine Folge der komplexen Gravitationsverhältnisse und des Strahlungsdrucks des kannibalischen Sterns – kommt es zu dem Rasensprenger-Effekt: Die Jets werden verbogen und geraten auf die schiefe Bahn. Wo sie mit früher ausgestoßenen Sternwinden kollidieren, leuchten diese hell auf. Um für sein Modell zu werben, macht Soker auf Fachtagungen manchmal sogar wilde Kreise auf einem Drehstuhl und schleudert Pakete herum. Damit veranschaulicht er, wie der sterbende Stern seine Außenhülle ins All katapultiert. Zur Belustigung seiner Zuhörer zieht Soker dann zerknüllte Briefumschläge aus den Taschen und wirft auch diese weit von sich – eine gute Demonstration dafür, wie sich der Stern seiner gesamten Außenschichten entledigt und so den Treibstoff für die Planetarischen Nebel liefert.

Vielleicht, so spekulieren Soker und Livio weiter, spielen auch große Gasplaneten eine Rolle bei dem kosmischen Finale. Deren Gezeitenkräfte könnten die Richtung der Sternwinde beeinflussen und die Nebelform verbiegen. So wird Jupiter vielleicht bewirken, daß das weithin sichtbare Grabmal unserer eigenen Sonne die Gestalt eines elliptischen Nebels erhält – in rund sieben Milliarden Jahren, wenn ihr der Brennstoff ausgegangen ist (bild der wissenschaft 11/2000, „Wenn die Sonne die Erde frißt“). Und Planeten, die den Todeskampf nicht überleben, könnten mit ihren Trümmern das Schauspiel bereichern, indem ihre aufglühenden schweren Elemente für Farbnuancen in den kosmischen Leichentüchern sorgen. So würde Herschels irreführende Bezeichnung „Planetarische Nebel“ postum doch noch einen Sinn ergeben.

Der Todeskampf von TX Cam Erstmals ist es gelungen, die Massenabsprengung eines anderen Sterns zu filmen: TX Cam, ein fast 1000 Lichtjahre entfernter Stern im Sternbild Giraffe, schleudert pro Jahr Gasmengen von der Masse der Erde ins All – Rohstoffe für die Bildung eines Planetarischen Nebels. TX Cam gehört zu den sogenannten Mira-Variablen. Das sind Rote Riesensterne, deren Helligkeit aufgrund von Pulsationen im Lauf von 80 bis 1000 Tagen unregelmäßig schwankt. TX Cam hat eine Periode von etwa 80 Wochen. Mit zehn zusammengeschalteten, über die ganze USA verteilten Radioteleskopen machten Philip Diamond vom Jodrell Bank Observatory der University of Manchester und Athol Kemball vom National Radio Astronomy Observatory in Socorro, New Mexico, die turbulenten Vorgänge in der Außenhülle von TX Cam sichtbar. Dort geben Siliziummonoxid-Moleküle eine Laser-ähnliche Strahlung bei 43 Gigahertz ab.

Die Radioaufnahmen haben die 500fache Auflösung des Hubble-Weltraumteleskops. „Unser Film zeigt hochkomplexe Bewegungen der Gase, die wir mit unseren bisherigen Theorien noch nicht erklären können“, erläutert Diamond. „Wir sehen Stoßwellen im ausströmenden Gas, beobachten aber gleichzeitig auch Gasmassen, die auf den Stern zurückstürzen“, sagt Kemball. Der Film basiert auf Beobachtungen alle zwei Wochen und erstreckt sich über einen Zeitraum von 88 Wochen. Die Astronomen haben bereits Daten von weiteren 80 Wochen gesammelt und hoffen, bei der Auswertung auch herauszufinden, was unserer eigenen Sonne einmal bevorsteht.

Kompakt • Planetarische Nebel sind die abgesprengten Hüllen sterbender Sterne nach einer kosmischen Massenkarambolage. • Von diesen bis zu zwei Lichtjahre großen und höchstens 50000 Jahre alten Nebeln sind in der Milchstraße über 1500 bekannt. • Mit Computersimulationen und Hochleistungsteleskopen lassen sich ihre bizarren Formen erklären.

Bdw community

INTERNET Nebel-Pracht vom Hubble-Weltraumteleskop: oposite.stsci.edu/pubinfo/pr/97/pn/index.html

Parade Planetarischer Nebel: www.blackskies.com/imageidx.htm

Lesen Dirk H. Lorenzen Deep Space Franckh-Kosmos 2000 DM 68,–

Rüdiger Vaas

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