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Kosmischer Zahlenpoker

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Kosmischer Zahlenpoker
Auf der Suche nach den Größen, die die Welt bestimmen. Erstmals in der Geschichte der modernen Kosmologie passen alle Fakten zusammen. Neue Messungen geben Auskunft über Ausdehnung, Alter und Zunkunft des Universums.

Wir messen Schatten“, sagte Edwin Powell Hubble 1935. „Wir suchen mit gespenstischen Meßfehlern.“ Der amerikanische Astronom wußte genau, wovon er sprach. Er hatte entdeckt, daß das Weltall auseinanderfliegt und daraus zunächst dessen Alter auf zwei Milliarden Jahre errechnet – im krassen Widerspruch zur Existenz der Erde und der Sterne, die viel älter sind.

Vor fünf Jahren flammte das Problem wieder auf, als Messungen der Ausdehnungsrate ein Weltalter nahelegten, das jünger als die ältesten Sterne war (bild der wissenschaft 4/1995, „Der Streit um das Alter der Welt“). Wie schnell sich das Universum ausdehnt, ist bis heute ein kontroverses Forschungsthema geblieben.

Die Expansionsrate, die Hubble-Konstante, wird gewöhnlich in Kilometer pro Sekunde und Megaparsec angegeben (1 Megaparsec = 3,26 Millionen Lichtjahre). Die neuesten Messungen des ebenfalls nach Hubble benannten Weltraumteleskops sprechen für eine Hubble-Konstante von ungefähr 65 bis 70. Dieser Wert bedeutet, daß das beobachtbare Universum in jeder Sekunde etwa um das Volumen unserer Milchstraße wächst.

Die Messungen schwanken noch zwischen 55 und 80, doch die Unsicherheit wird dank großer Fortschritte in jüngster Zeit immer kleiner. Die hohen Werte von 90 und mehr, die noch vor wenigen Jahren für Aufregung sorgten, gelten inzwischen als überholt. Und da das Alter der ältesten Kugelsternhaufen mittlerweile ebenfalls nach unten korrigiert wurde, auf rund zwölf Milliarden Jahre, sind die Daten wieder miteinander verträglich – eine Leistung, zu der der Astrometrie-Satellit Hipparcos maßgeblich beigetragen hat (bild der wissenschaft 1/1999, „Der Sternvermesser“). Den neuesten Zahlen zufolge liegt der Urknall, mit dem Raum, Zeit, Energie und Materie unseres Universums ins Dasein traten, ungefähr 13 bis 14 Milliarden Jahre zurück.

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Doch die Bezeichnung Hubble-Konstante ist irreführend. Denn die Zahl blieb über die Äonen hinweg nicht konstant. Laut Relativitätstheorie stehen Raum und Zeit mit Materie und Energie in Wechselwirkung. Die Gravitation der Materie im Universum verlangsamt die kosmische Ausdehnung. Früher sollte die Expansionsrate also größer gewesen sein. Und wenn die mittlere Materiedichte des Universums über einem bestimmten, dem „kritischen“ Wert liegt, dann müßte die Ausdehnung sogar irgendwann einmal zum Stillstand kommen und in eine Kontraktion übergehen. Diese kritische Dichte liegt bei etwa zwei bis drei Wasserstoff-Atomen pro Kubikmeter. Das entspricht ungefähr der Masse eines Sandkorns, verteilt auf das Volumen der Erde.

Dieser Wert ist winzig. Doch die Beobachtungen zeigen, daß die Gesamtmasse der sichtbaren Materie – Gas, Sterne und Staub – höchstens für ein Prozent der kritischen Dichte ausreicht. Allerdings besteht die Hauptmasse des Universums aus Dunkler Materie. Sie macht sich nur durch ihre Schwerkraft bei den Bewegungen von Sternen und Galaxien bemerkbar. Ihre Natur ist noch rätselhaft (bild der wissenschaft 9/1997, „Das Geheimnis der Dunklen Materie“). Doch auch damit kommt die Dichte nur auf etwa 30 Prozent des kritischen Grenzwerts. Dafür spricht inzwischen übereinstimmend die Erforschung der Galaxienhaufen: ihre räumliche Verteilung und Dynamik, ihre zeitliche Entwicklung nach Beobachtungen und in theoretischen Modellen sowie das Ausmaß von Gravitationslinsen-Effekten – Lichtablenkung ferner Galaxien durch Vordergrundobjekte.

Die mittlere Dichte des Universums reicht also nicht aus, um seine Expansion zu stoppen. Trotzdem favorisieren die Theoretiker seit langem ein Universum mit der kritischen Dichte, weil dies die einfachste Lösung ist und am besten zu der Hypothese von der kosmischen Inflation paßt. Diese beschreibt, daß sich das Universum in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall, als es noch winziger als ein Atom war, exponentiell ausgedehnt haben soll – etwa um den Faktor 1030. Nur dadurch läßt sich erklären, meinen viele Kosmologen, warum das Weltall als Ganzes betrachtet so gleichförmig aufgebaut ist.

Für ein solches Universum mit kritischer Dichte spricht auch das Muster der winzigen Temperaturschwankungen in der kosmischen Hintergrundstrahlung. Sie ist gleichsam der Nachhall des Urknalls, ein Relikt des Feuerballstadiums, und enthält subtile Informationen über die gesamten Eigenschaften des Universums.

Für die kritische Materiedichte genügt die sichtbare und Dunkle Materie des Universums offenbar nicht – das beweisen Beobachtungen ferner Sternexplosionen (siehe Titelgeschichte in diesem Heft). Sie zeigen, daß sich die kosmische Expansion nicht verlangsamt, sondern im Gegenteil sogar beschleunigt.

Das erfordert eine positive Kosmologische Konstante, die als Energiedichte des Vakuums beschrieben werden kann. Sie macht es den Kosmologen möglich, die gefundene niedrige Materiedichte mit ihrem Wunsch nach dem kritischen Grenzwert zu vereinbaren. Denn die Kosmologische Konstante kann gerade den fehlenden Betrag liefern.

Ob sie das wirklich tut, ist noch unklar, wird sich aber durch genauere Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung in den nächsten Jahren zeigen. Zwei Satelliten werden eigens dafür bereits konzipiert.

Das zur Zeit schlüssigste und deshalb favorisierte Modell vom Universum sieht also folgendermaßen aus: Die Hubble-Konstante hat einen Wert von ungefähr 65 bis 70. Dies widerspricht nicht mehr dem Alter der ältesten Sterne: 11 bis 13 Milliarden Jahre. Die mittlere Dichte der leuchtenden und Dunklen Materie zusammengenommen beträgt nur etwa ein Drittel des kritischen Grenzwerts, der die kosmische Expansion zum Stillstand zwingt. Die gesamte Energiedichte des Universums liegt aber bei 1. Die fehlenden zwei Drittel liefert eine mysteriöse Vakuumenergie, die Kosmologische Konstante. Sie bremst die Expansion des Universums jedoch nicht, sondern beschleunigt sie sogar. Das Weltall wird sich also ewig weiter ausdehnen. Die Werte der mittleren Materiedichte und der Kosmologischen Konstante sind wahrscheinlich so, daß sich das Universum in allen Richtungen ins Unendliche erstreckt. Damit stehen die Chancen schlecht für das von Einstein favorisierte Gegenmodell eines unbegrenzten, aber endlichen Universums – vergleichbar mit der Oberfläche einer Kugel.

Hubble-Konstante, mittlere Dichte und Kosmologische Konstante lassen auf ein Alter des Universums von etwa 13 bis 14 Milliarden Jahren schließen.

„Erstmals in der Geschichte der modernen Kosmologie ergeben alle Fakten zusammen ein stimmiges Bild“, sagt der Astronomie-Historiker Owen Gingerich vom Harvard Smithsonian Center for Astrophysics. „Die Fortschritte sind atem-beraubend. Noch vor 20 Jahren war all dies undenkbar“, stimmt Lawrence Krauss von der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio, zu. Und schmunzelt: „Doch wir sollten uns an das alte Motto erinnern, daß eine astronomische Theorie wahrscheinlich falsch ist, wenn sie mit allen Beobachtungen übereinstimmt, weil sicher einige der Messungen oder Voraussetzungen irrig sind.“

Edwin Hubble hätte seine Freude an dem rasanten Erkenntnisfortschritt. „Wir sind schon recht weit in den Weltraum vorgedrungen“, hatte er in seinem letzten wissenschaftlichen Artikel geschrieben. „Unsere nächste Nachbarschaft kennen wir gut. Aber mit zunehmender Entfernung schwindet unser Wissen, bis wir am fernsten, dunklen Horizont unter schrecklichen Meßfehlern nach Wegzeichen suchen, die auch nicht viel aussagekräftiger sind. Die Suche wird weitergehen. Dieser Drang ist älter als die Geschichte. Er ist noch nicht gestillt, und er wird sich auch nicht unterdrücken lassen.“

Rüdiger Vaas

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