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Krebs im Zahlenmeer

Allgemein

Krebs im Zahlenmeer
Der mit großem Getrommel präsentierte Krebsatlas reicht nicht aus. Verzeichnet ist dort nur die Zahl der Krebstoten. Wichtig für die Gesundheitsvorsorge ist jedoch das Erfassen der Neuerkrankungen. Das Krebsregister soll in diesem Jahr die Grundlagen schaffen.

Die Nachzügler haben noch acht Monate Zeit: Der Countdown läuft – bis Ende des Jahres müssen alle Bundesländer ihr „Krebsregistergesetz“ vorgelegt haben. Damit soll endlich ein landesweiter Überblick über die Krebsneuerkrankungen möglich werden. „Wir Ärzte wollen das Register“, betont Dr. Günter Schott, Klinikarzt in Zwickau und Vorstandsmitglied der Deutschen Krebsgesellschaft: „Wenn wir gute Epidemiologie machen wollen, gibt es gar keinen anderen Weg.“

Der gerade in dritter Verbesserung vorgestellte „Krebsatlas“ des Deutschen Krebsforschungszentrums (siehe Karten in diesem Beitrag) ist da keine Hilfe. Mit den Landesgesetzen wird ein Auftrag der Legislative erfüllt, der den Ländern 1994 die Errichtung solcher sensiblen, weil personenbezogenen Dateien verordnet hatte. Geschlossen wird damit eine Lücke in der deutschen Gesundheitsvorsorge. Die Zeit ist knapp, da die Krebskrankheiten dabei sind, die Herz-Kreislauf-Erkrankungen vom ersten Platz der Todesliste zu verdrängen.

Das Krebsregister wird Auskunft geben über Auftreten und Verlauf von Erkrankungen, also auch über Heilung. Damit hätten die Mediziner – vom örtlichen Arzt über den Epidemiologen bis zum Gesundheitspolitiker – erstmals ein brauchbares Mittel zur Vorsorge und Bekämpfung des Krebses an der Hand.

Wenn das Register in absehbarer Zeit einsatzfähig ist – woran derzeit noch Zweifel bestehen -, kommt eine über 70jährige Medizingeschichte zu ihrem Ende: 1926 wurde in Hamburg das erste Krebsregister der Welt eingerichtet. Das Saarland hat seit 1967 eine flächendeckende Registrierung. In den achtziger Jahren kamen die Überlegungen unter die datenschützerischen Räder und wurden zerredet. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten ergab sich die nahezu zwingende Gelegenheit, ein engmaschiges Meldenetz für Krebserkrankungen zu knüpfen – denn die DDR hatte eine solche Einrichtung seit 1953.

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In der Umsetzung des Gesetzesauftrags sind die Bundesländer unterschiedlich weit: In Hessen, Bayern und Bremen stecken die Verantwortlichen noch in der Planung und Vorbereitung. Rheinland-Pfalz, die neuen Bundesländer und Berlin haben die Registrierung aufgenommen und erreichen derzeit eine „Erfassungsquote“ von unter 70 Prozent. Doch mindestens 90 Prozent halten Experten für einen Erfolg als unerläßlich. In Schleswig-Holstein soll die Registrierung von Krebs-Neuerkrankungen seit einigen Wochen flächendeckend sein. Baden-Württemberg registriert in drei Landkreisen mit insgesamt 900000 Einwohnern und will erweitern. Nordrhein-Westfalen unterhält im Bezirk Münster (2,6 Millionen Einwohner) ein Krebsregister, will es jedoch nicht landesweit ausbauen. In Niedersachsen laufen die Arbeiten, die geplante flächendeckende Erfassung ist jedoch noch nicht erreicht.

Bis das Krebsregister verwertbare Daten liefert, bleibt der „Krebsatlas der Bundesrepublik Deutschland 1981- 1990“ das einzige medizinstatistische Werk mit Gesamtaussagen zum Phänomen Krebs – allerdings mit ganz anderer Zielsetzung.

Auf einen Blick ist erkennbar: Das Risiko, an Lungenkrebs zu sterben, war in den Ballungsräumen Nordrhein-Westfalens und in einigen Landkreisen Thüringens in den Jahren 1986 bis 1990 größer als in Baden-Württemberg oder Bayern.

Geographie des Lungenkrebses In manchen deutschen Gebieten starben zwischen 1986 und 1990 weniger als 35 Männer pro 100000 Einwohner an Lungenkrebs, zum Beispiel in Teilen von Bayern und Baden-Württemberg. In anderen Gegenden – Teilen des Saarlandes, Nordrhein-Westfalens und des Rheinlands – waren es dagegen mehr als 75. Je dunkler das Rot auf der Karte, umso höher war die Sterblichkeit. Weil Frauen seltener bösartige Tumore der Lunge haben, ist die Farbe der „Frauen-Karte“ ins Gelbe verschoben. Die meisten „Krebsnester“ liegen bei beiden Karten an derselben Stelle. Doch die Landkreise Aue und Schwarzenberg im Süden der ehemaligen DDR stechen nur auf der „Männer-Karte“ hervor.

Die Erklärung für Nordrhein-Westfalen: Aus den Daten des Statistischen Bundesamtes ist bekannt, daß dort mehr geraucht wird als in den beiden südlichsten Bundesländern Deutschlands. Die Lungenkrebs-Karte paßt also gut zur These der Mediziner: Rauchen fördert Lungenkrebs. Für die höhere Sterberate bei Männern in den thüringischen Landkreisen Aue und Schwarzenberg haben die Experten eine andere Deutung: Hier wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in großem Stil Uran abgebaut. Die Minenarbeiter atmeten das krebserregende Edelgas Radon ein. Die Krebsatlas- Karten zeigen denn auch, daß die Frauen in Aue und Schwarzenberg nicht überdurchschnittlich häufig an Lungenkrebs sterben.

Über solche Einzelfälle hinaus meldet Prof. Harald zur Hausen, Vorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und Chef der Krebsatlas-Autoren, eine Trendwende: Bei Männern geht die Krebssterblichkeit erstmals in der Nachkriegsgeschichte zurück. Bei Frauen sei ein derartiger Rückgang schon länger beobachtet worden. Doch weil die Zahl der Krebstoten „absolut gesehen zunimmt“, wie zur Hausen einräumt, wurde der Vorwurf laut, die DKFZ-Experten hätten einen statistischen Trick angewandt, um eine tröstliche Nachricht melden zu können.

Mit dem Lebensalter steigt die Wahrscheinlichkeit drastisch, an Krebs zu sterben. In einer Region mit vielen alten Menschen gibt es daher auch dann mehr Krebstote, wenn das Sterberisiko des einzelnen gleich ist. Solche Effekte müssen die Epidemiologen bei der Datenauswertung berücksichtigen.

Dagegen wehrt sich der federführende Autor Dr. Nikolaus Becker: „Wären wir anders vorgegangen, wäre dies ein schwerer Kunstfehler – die Zahlen müssen regional und zeitlich vergleichbar sein.“ Nur weil immer mehr Menschen immer älter werden, steigt die absolute Zahl der Krebstoten. Doch nicht dieser sogenannte Alterseffekt interessiert die Forscher, sondern das Risiko des einzelnen, an Krebs zu sterben – und das sinkt.

Es sind andere Faktoren, die die Grenzen des Kartenwerks abstecken.Wenn weniger Menschen an einer bestimmten Krebsart sterben, kann das zwei völlig verschiedene Gründe haben: Entweder erkranken weniger Menschen, oder die Erkrankten werden erfolgreich geheilt.

In den Daten des Krebsatlas können sich also Therapieerfolge genauso verstecken, wie etwa eine Verringerung von krebserzeugenden Substanzen in der Umwelt. Noch ein Faktor kompliziert die Forschung nach dem Krebsauslöser: Zwischen Ursache der Erkrankung und dem Tod eines Krebspatienten können Jahrzehnte liegen.

Trotz eines grundsätzlichen Lobs für Beckers Werk, resümiert daher der Berliner Experte Dr. Dieter Schön: „Sterblichkeitsraten – und damit der Krebsatlas – liefern kein Abbild des Risikos, an Krebs zu erkranken.“

Bis jetzt kann die Zahl derjenigen, die in Deutschland an Krebs neu erkranken, nur hochgerechnet werden. Nach Schätzungen des Robert Koch Instituts in Berlin litten 1995 weniger Frauen und Männer an Krebs als 1993 – ein Indiz dafür, daß der im Krebsatlas verzeichnete Rückgang der Sterberate nur zu einem geringen Teil auf verbesserte Behandlungsmethoden zurückzuführen ist. Die Berechnung des Instituts beruhte auf den Daten des Saarländischen Krebsregisters, die auf Deutschland umgerechnet wurden. Andere Krebsregister konnten für 1995 kein vollständiges Zahlenmaterial vorlegen.

Die Krebsstatistiker der Länder müssen ihre epidemiologischen Daten einmal im Jahr an die „Dachdokumentation Krebs“ beim Robert Koch Institut übermitteln. Dort werden sie für Deutschland zusammenfassend ausgewertet. „Ich hoffe, daß wir in etwa zehn Jahren einen Krebsatlas veröffentlichen können, der die regionalen Unterschiede bei den Neuerkrankungen an Krebs dokumentiert“, sagt der Leiter der Dachdokumentation Dieter Schön.

Der Anstieg scheint gestoppt: Die Brustkrebs-Sterblichkeit stieg in Westdeutschland seit Beginn der fünfziger Jahre kontinuierlich an – doch seit einigen Jahren ist ein Plateau erreicht. Noch haben die Experten keine Erklärung dafür, warum ostdeutsche Frauen seltener als westdeutsche an Brustkrebs sterben.

Beim Hodenkrebs geht die Sterblichkeit seit Anfang der achtziger Jahre extrem zurück. Grund:Die Ärzte können ihn erfolgreich behandeln. So erklären sich auch die Unterschiede zwischen Westdeutschland und ehemaliger DDR: Weil das wirksame Medikament Cis-Platin mit harter Währung bezahlt werden mußte, setzten es die DDR-Mediziner nur selten ein.

Der Autor des Krebsatlas, Nikolaus Becker, befürwortet dies. Doch er weist auch darauf hin, daß die Daten über die sogenannte Inzidenz – die Häufigkeit der Neuerkrankungen – Schwächen haben können. Als Beispiel nennt er den Prostatakrebs. In amerikanischen Krebsregistern steigt die Zahl der Erkrankungen zur Zeit stark an – vermutlich jedoch nicht, weil sich das Risiko tatsächlich erhöht hat, sondern weil ein neues Diagnoseverfahren die Ärzte Prostatakrebs häufiger entdecken läßt.

Den Hinweis auf diesen Effekt liefert die Sterblichkeitsrate: Sie steigt kaum an. „Sterblichkeitsrate und Inzidenzrate sind zwei Seiten einer Medaille“, folgert Becker. Doch der Datenhunger der Experten ist noch nicht gestillt, wenn sie die ganze Medaille in Händen halten.

Geographie des Magenkrebses In Bayern ist die Magenkrebs-Sterblichkeit in den letzten Jahren besonders deutlich gesunken. Im südlichen Sachsen-Anhalt dagegen blieben die Gebiete mit erhöhter Sterblichkeit weitgehend bestehen. Hauptgrund für die regionalen Differenzen ist nach Ansicht der Experten die unterschiedliche Ernährung : Das Räuchern oder Pökeln von Fleisch und Wurstwaren sowie Trinkwasser aus privaten Brunnen gelten als Risikofaktoren. Häufiges Essen von frischen Früchten und Gemüsen soll dagegen krebsschützend wirken.

Denn: „Auch dann sind wir bei der Ursachenforschung noch nicht wesentlich weiter“, sagt Dr. Heiner Boeing vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke: Für die Ermittlung von Krankheitsursachen sind epidemiologische Studien erforderlich, in der Krebsforschung meist „Fall-Kontroll-Studien“.

Dabei prüfen die Wissenschaftler nachträglich, ob bei einer Gruppe Krebskranker bestimmte Risikofaktoren vorhanden waren. Genauso untersuchen sie eine Kontrollgruppe nicht-erkrankter Personen.

Sind dann in der Krankengruppe deutlich mehr ehemalige oder aktuelle Raucher als in der Kontrollgruppe, gilt der Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs als wahrscheinlich. „Doch die Ergebnisse solcher Fall-Kontroll-Studien sind nur dann zu verallgemeinern, wenn darin Krebsregisterdaten verknüpft werden können“, sagt Schön.

Den vollen Nutzen aus einem Krebsregister, das alle Krebskranken erfaßt, können die Epidemiologen allerdings nur dann ziehen, wenn sie später wieder Kontakt zum Kranken aufnehmen und ihn nach bestimmten Risikofaktoren befragen können. Doch genau das bekämpfen die Gegner von Krebsregistern heftig: Sie fürchten den Mißbrauch von individuellen Gesundheitsdaten. Ein ausgeklügeltes System aus Vertrauens- und Registerstellen, Verschlüsselungen und Kontrollnummern soll diese Bedenken beim neuen Krebsregister minimieren.

Unverhoffter Triumph: Seit Jahrzehnten sinkt die Zahl der Magenkrebs-Toten – die Frage nach dem „Warum“ können die Fachleute nur spekulativ beantworten. Jedenfalls ist der Rückgang der Sterblichkeit nicht das Ergebnis medizinischer Maßnahmen – und er ist weltweit zu beobachten.

Bis jetzt haben die Bundesländer die Details bei Meldung und Datenverarbeitung noch nicht einheitlich geregelt. Am weitesten verbreitet ist die „Anony-misierung mit kontrollierter Reidentifikation“ – viele Sicherheitsmaßnahmen schützen die Anonymität des Registrierten. Sie kann aber unter bestimmten Umständen von den Krebsregister-Experten aufgehoben werden.

Natürlich wird auch ohne Krebsregister nach den Krebsursachen geforscht: Dazu befragen die Experten eine Testgruppe regelmäßig über Rauchverhalten, Ernährungsgewohnheiten oder andere Lebensumstände und verfolgen dann, wer aus dieser Gruppe an Krebs erkrankt.

Der Aufwand für solche vorausschauend angelegten Studien ist enorm: Um ausreichend Krankheitsfälle beobachten zu können, ist eine sehr große Gruppe erforderlich. 400000 Menschen umfaßt zum Beispiel eine Krebs- und Ernährungsstudie in neun europäischen Ländern. Eines der zwei deutschen Studienzentren ist das Institut für Ernährungsforschung in Potsdam. In die Studie dort sind 30000 Brandenburger eingebunden. Obwohl die Untersuchung bereits 1994 anlief, befindet sie sich noch in der Rekrutierungsphase – handfeste Ergebnisse sind erst in Jahren zu erwarten.

Das Potsdamer Institut ist an dieser europäischen Studie beteiligt, weil die Fachwelt davon ausgeht, daß die Ernährung neben dem Rauchen der bedeutendste Einzelrisikofaktor für die wuchernden Zellen ist. 20 bis 42 Prozent der Krebstoten sollen „schlechte“ Ernährungsgewohnheiten mitverursacht haben.

Der individuelle Lebensstil rückt immer mehr in den Blickpunkt der Forscher; der Einfluß von Umwelt und gesellschaftlichen Verhältnissen auf das Krebsrisiko wird dagegen zunehmend als geringfügig eingestuft. Manche Wissenschaftler halten das für einen unguten modischen Trend: „Wenn die Forschung nur bestimmte Fragen stellt, ist es klar, daß sie nur bestimmte Antworten erhält“, sagt Privatdozent Dr. Hagen Kühn von der Arbeitsgruppe Public Health des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. „Studienergebnisse, die den Zusammenhang von Krankheit und individuellem Verhalten nachweisen, sind bequem für die Politiker: Sie müssen nicht tätig werden.“

Kühn betont, daß Gewohnheiten wie Rauchen, Essen und Trinken vom gesellschaftlichen Umfeld beeinflußt werden. In diesem Punkt ist Krebsatlas-Autor Becker mit ihm einer Meinung: Nikotin sei schließlich eine Droge und Tabakkonsum damit ein sozial- und gesundheitspolitisches Problem. „Es wäre ein Mißbrauch der Krebsursachenforschung, wenn auf ihrer Grundlage die Verantwortung für die Krankheit ausschließlich dem einzelnen zugewiesen wird.“

Frank Frick

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