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Kurt Jax: Ein Ökologe greift die Naturschützer an

Allgemein

Kurt Jax: Ein Ökologe greift die Naturschützer an
Die Lehre vom ökologischen Gleichgewicht ist überholt. Wahre Natur ist geprägt von Veränderungen. Katastrophen gehören dazu. In Kulturwald und Wacholderheiden pflegt der konventionell denkende Naturschützer eigene Ideale, aber nicht die Natur. Mit provozierenden Thesen zieht der Autor Kurt Jax gegen liebgewordene Vorstellungen zu Felde.

Naturschützer träumen viel von der Harmonie der Natur. Natur, die man sich selbst überläßt, so die landläufige Meinung, entwickelt sich in Richtung auf ein Gleichgewicht, zu einem selbstregulierenden System aus geschlossenen Kreisläufen, in dem alles mit allem verbunden ist. Doch die Realität im ersten deutschen Nationalpark im Bayerischen Wald – seit Jahren Anlaß für heftigen Streit zwischen den Bewohnern des Umlandes und der Parkverwaltung – zeigt, daß die Vorstellung vom großen Gleichgewicht ein Mythos ist.

Seit der Nationalpark 1970 eingerichtet wurde, hat Dr. Hans Bibelriether, Forstwissenschaftler und bis März dieses Jahres Leiter der Parkverwaltung, der Natur hier konsequent freien Lauf gelassen. Wenn in anderen Schutzgebieten der Wald gepflegt wird, kranke Bäume gefällt und Bachläufe ausgeputzt werden, bleibt die Natur hier sich selbst überlassen. Der Mensch ist nur Gast.

Gemurre über diese Art des Naturschutzes gab es von Anfang an. Inzwischen ist der Unwillen zum offenen Streit eskaliert. Anlaß war ein heftiger Sturm im Jahr 1983. Er hatte auf einer Fläche von 100 Hektar die Bäume umgeworfen. Die Parkverwaltung beschloß: Sie sollten nicht entfernt werden, sondern liegenbleiben und verrotten. Der vorher eher gleichförmige Wald bekam große Lücken, und in den abgestorbenen und in den geschwächten Bäumen vermehrte sich der größte Feind jedes Forstwirtes, der Borkenkäfer.

In den anfangs befallenen Gebieten brach die Borkenkäfer-Population zwar nach einigen Jahren wieder zusammen, und unter den abgestorbenen Bäumen entwickelte sich vielfältiger Jungwuchs. Der Borkenkäfer aber hat sich von dieser Keimzelle ausgehend seitdem über ein Areal von 2000 Hektar ausgedehnt. Auf einem Siebtel der Gesamtfläche des Parks nagt er an den Bäumen.

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Der Wald verändert sich seitdem radikal – und die einheimische Bevölkerung protestiert. Zwar befürworten mehr als zwei Drittel von ihnen den Nationalpark, die Besitzer der angrenzenden Wirtschaftswälder fürchten aber, daß der Käfer auch ihre Bäume angreift. Der andere – oft unausgesprochene – Grund ist, daß hier die Vorstellung vieler Menschen, wie ein Wald auszusehen habe, ins Wanken gerät. Das ökologische Gleichgewicht im Nationalpark sei gestört, wird geklagt, und die Nationalparkverwaltung muß sich vorhalten lassen, es sei doch kein Naturschutz, nichts zu tun – vielmehr sei das fahrlässige Zerstörung der Natur. Die beiden großen Fragen hinter dem Disput lauten: Wie oder was ist Natur? Welcher Zustand der Natur ist es, der geschützt werden soll?

Alle Naturschützer berufen sich heute auf ökologische Argumente. Doch das Naturbild der Ökologen hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Sie reden nicht mehr vom Gleichgewicht, sondern vom „Fluß der Natur“. Das alte Konzept hat sich als untauglich herausgestellt, wenn es vorhersagen sollte, was mit einem ökologischen System geschieht, das sich selbst überlassen bleibt. Ökologische Systeme befinden sich selten in einem Gleichgewicht und laufen auch nicht zwangsläufig auf ein solches zu. Ständige Veränderungen sind die Regel, nicht die Ausnahme. Das wesentliche Merkmal von Natur, so betont die Fachökologie heute, ist Dynamik und Verschiedenheit.

Dies gilt nicht nur für die zeitliche Entwicklung, sondern auch für den Raum, den ein ökologisches System einnimmt. Charakteristisch ist seine „Flekkenhaftigkeit“, nicht seine Einheitlichkeit. Im Gegensatz zu einem gepflegten Forst fällt ein Wald durch ein Mosaik von Erscheinungsformen auf. Es wird beträchtlich geprägt durch Ereignisse, die aus menschlicher Perspektive Katastrophen sind: Windwürfe, Massenvermehrung von „Schadinsekten“, Hochwasser, Feuer.

Welche Rolle das Feuer in der Ökologie spielt, zeigt beispielhaft der älteste Nationalpark der Welt, der 1872 gegründete amerikanische Yellowstone Nationalpark. 1988 brannten dort Gebiete von zusammen 4000 Quadratkilometer – das ist dreißigmal mehr als die Gesamtfläche des Nationalparks Bayerischer Wald. 40 Prozent der Parkfläche wurden geschädigt. Aber während die Weltöffentlichkeit erschrocken auf die Fernsehbilder des Flammeninfernos starrte und Teile des organisierten Naturschutzes energisches Eingreifen forderten, mahnten die Ökologen zum Stillhalten. Denn Feuer ist in dieser Region ganz natürlich.

Mehr noch: Bestimmte Lebensräume – nicht nur im Yellowstone – sind gerade durch solche wiederkehrenden natürlichen Störungen so geworden, wie wir sie heute vorfinden. Viele Tier- und Pflanzenarten sind auf Überschwemmungen, Brände oder Windbrüche sogar angewiesen, um langfristig überleben zu können, zum Beispiel weil sie innerhalb eines Waldes offene Flächen oder alte, zusammengebrochene Bäume benötigen. Manche Pflanzen brauchen die Aschedüngung oder die Hitze zum Auskeimen, wuchernder Wald würde sie vom Sonnenlicht abschirmen. Viele Vögel und Insekten brauchen offene Flächen zur Nahrungssuche oder für die Aufzucht ihrer Jungen.

Solche Einsichten müssen auch den Naturschutz verändern. Denn ist unter solchen Bedingungen ein konservierender Naturschutz, der auf den Erhalt statischer Zustände abzielt, überhaupt noch zu vertreten? Macht nicht gerade die Veränderlichkeit das Wesen der Natur aus? Welches Ziel soll der Naturschutz dann aber haben?

Solange das Bild vom Gleichgewicht vorherrschte, schien dieses Ziel klar: Die Natur hatte demnach einen stabilen Sollzustand, der sich, wenn der Mensch sich zurückzieht, über kurz oder lang von selbst einstellt und reguliert, und der gleichzeitig zu all dem führt, was sich die meisten Naturschützer wünschen: eine große Artenvielfalt unter Erhaltung all der seltenen und schönen Tiere und Pflanzen, für die sie auch kämpfen.

Dies aber, so erweist sich, ist nichts als eine Wunschvorstellung, allenfalls ein ökologischer Spezialfall für einen begrenzten Zeitraum. Naturschutz kann nicht länger heißen, liebgewordene Zustände zu schützen, sondern ökologische Systeme in ihrer Dynamik, ihrem Werden und Vergehen zu erhalten, inklusive natürlicher Katastrophen. „Prozeßschutz“ lautet das neue Schlagwort.

Aber auch Prozeßschutz kann unterschiedlich definiert werden: Einige Ökologen verstehen darunter, bestimmte Prozesse für die Erhaltung bestimmter Arten oder Lebensgemeinschaften zu schützen und zuzulassen. Dazu zählt für sie auch lokales Eingreifen, aktives Natur-Management.

Prozeßschutz kann aber auch heißen, daß die natürlichen Prozesse selbst erhalten werden sollen, etwa Stoff- und Energieflüsse. So betrachtet sind spezielle Tiere und Pflanzen ersetzbar, wenn sie nur eine bestimmte Rolle im Ökosystem spielen, als Räuber- oder Beutetier etwa, als Aasvertilger, Nährstofflieferant oder Schattenspender. So verstanden ist es gleichgültig, ob Buchen oder Fichten in einem Wald dominieren.

Der Wolfsforscher Prof. Rolf O. Peterson von der Universität Michigan hat sich seit über zwei Jahrzehnten mit den Wölfen und den von ihnen gejagten Elchen im amerikanischen Insel-Nationalpark Isle Royale beschäftigt. Er fragt, welchen natürlichen Prozeß man schützen soll: Die Räuber-Beute-Beziehung von Wolf und Elch oder das Aussterben des Wolfes? Würde man darauf verzichten, die schrumpfende Wolfspopulation durch Tiere vom Festland aufzufrischen, hätte das schwerwiegende Folgen für den geschützten Wald auf der 500 Quadratkilometer großen Insel im Obersee: Die pflanzenfressenden Elche würden sich stark vermehren – und in periodischen Zyklen massenhaft verhungern, sobald sie nämlich den Wald kahlgefressen hätten. Solange der Rest braucht, um wieder eine kopfstarke Population zu bilden, könnte der Wald sich erholen. So war es, bevor die Wölfe auf Isle Royale kamen und die Elche dezimierten. Soll der Naturschutz also zulassen, daß die Wölfe aussterben?

An diesem Beispiel wird deutlich, daß ein Naturschutz, der eine Landschaft in einem bestimmten Zustand festhalten will – ob nun durch Handeln oder durch Nichthandeln -, sein Ziel häufig verfehlt, weil der vermeintliche stabile Naturzustand nicht existiert.

Bei Landschaften wie Heide und Halbtrockenrasen – der sich auf Kahlschlägen oder nährstoffarmen Kulturbrachen entwickelt – stellt sich das Problem vor unserer eigenen Tür. Der heutige Zustand ist das Ergebnis menschlicher Bewirtschaftung, vor allem der Weidewirtschaft mit Schafen. Zieht sich der Mensch aus der Heide zurück, erobern bald Buschland und Wald die heute geschützte Fläche, charakteristische Pflanzen wie Wacholder und Orchideen verschwinden, und mit ihnen die daran angepaßten Insekten und Vögel. So ist Natur.

Umgekehrt kann aber auch das künstliche Verhindern scheinbar destruktiver natürlicher Prozesse mittelfristig genau das zerstören, was geschützt werden sollte. Die jahrzehntelange Unterdrückung natürlicher Brände führte in den USA dazu, daß sich die Zusammensetzung der Baumarten in manchen unter Schutz gestellten Wäldern stark veränderte. Eine Vogelart wäre beinahe ausgestorben, weil der Mensch die Feuer verhinderte. Naturschützer hatten geglaubt, der Vogel sei durch die Brände in seinem Lebensraum gefährdet.

Die Beispiele zeigen, daß Naturschutz ein hohes Maß an Wissen voraussetzt, egal ob es sich um einzelne Arten oder um Ökosysteme handelt. Der Wechsel im Ökologieverständnis fordert auch, die Ziele des Naturschutzes wesentlich präziser zu formulieren. Die Fachwissenschaft Ökologie kann Aussagen darüber machen, wo und mit Hilfe welcher Managementstrategien bestimmte Zustände oder Prozesse der Natur erhalten werden können. Sie kann und darf aber nicht sagen, welche Zustände oder Prozesse dies sein sollen.

Das ist Aufgabe der Gesellschaft. Die muß entscheiden, welche individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse ihr wichtig sind, sie muß auch ihre ethische Haltung gegenüber der Natur diskutieren.

Am Ende kann kein einheitliches Ziel für alle Naturschutzprojekte stehen. Nichts spricht dagegen, mancherorts Kulturlandschaften und die darin vorkommenden Arten aktiv zu erhalten. Es muß allerdings erlaubt sein zu fragen, ob Naturschutz hauptsächlich solch musealen Charakter haben soll. Auch ein Tümpel, an, in und von dem seltene Arten leben, kann Naturmanagement rechtfertigen, weil er sonst in wenigen Jahren verlanden würde. Auf die Ökologie kann der Naturschützer sich dabei aber nicht berufen.

Andernorts – vor allem in Nationalparks – mag man tatsächlich der Natur ihren möglichst ungehinderten Lauf lassen, auch mit dem Risiko, daß die vertraute Landschaft sich verändert. Es besteht die Möglichkeit, daß sich dabei ein neuer faszinierender Zustand einstellt.

Wenn die Natur im Nationalpark Bayerischer Wald weiter ihrer Eigendynamik folgen kann, so ist dies ein Experiment, aus dem wir viel darüber lernen können, wie ein Wald ausgesehen haben mag, bevor er von Menschen genutzt wurde. Aber nicht nur hier kann einfaches Wachsenlassen erstaunliche Ergebnisse bringen. Dazu ist allerdings Geduld nötig, denn viele Naturprozesse laufen nach längeren Zeitmaßstäben ab als nach menschlichen. Wir glauben ja nur, es gebe so etwas wie Gleichgewicht und Stabilität, weil wir selbst so kurzlebig sind.

Zwangsläufig stellt sich dann aber die Frage: Wird Naturschutz beliebig? Sind alle Naturzustände gleichwertig? Ganz sicher nicht. Dadurch, daß ein ökologisches Gleichgewicht, wenn überhaupt, nur zeitlich begrenzt existiert, kann nicht umgekehrt geschlossen werden, daß Natur – im umgangssprachlichen Sinne – chaotisch ist oder beliebig. Unter bestimmten Umweltbedingungen ist immer nur eine begrenzte Auswahl aus der riesigen Zahl der Arten lebens- und fortpflanzungsfähig.

Gerade weil Natur sich nicht identisch wiederholt, ist jede gewachsene Lebensgemeinschaft, jeder Teil der Natur ein einmaliges, nicht wiederholbares und auch nicht „ausgleichbares“ Objekt. Naturschützer machen sich etwas vor, wenn sie sich die Zustimmung zu Bauprojekten mit Naturersatz an anderer Stelle abhandeln lassen. Kein Ökosystem, daß einer Straße weichen muß, kann ersetzt werden.

Es kommt doch auch – hoffentlich – keiner auf die Idee, den Kölner Dom abzureißen, weil der Platz mit lukrativen Bürohäusern bebaut werden könnte, und dafür am Stadtrand einen neuen Dom zu bauen.

Warum werden vergleichbare Ansinnen bei Lebensräumen von Tieren und Pflanzen, die – mit oder ohne den Menschen – eine lange Geschichte haben und gleichermaßen einmalig sind wie ein wertvolles Kunstwerk, meist anders beantwortet?

Kurt Jax / Jürgen Nakott

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