Tausende unter Schlammlawinen begraben; Wirtschaftsmetropole im amerikanischen Nordwesten lahmgelegt. So könnten die Schlagzeilen nach der Katastrophe lauten. Wissenschaftler warnen vor dem schlafenden Vulkan Mount Rainier.
Sein schneebedeckter Gipfel hinter der Skyline von Seattle im US-Bundesstaat Washington ist eine Postkarten-Idylle. Doch der Vulkan hat es in sich: Er liegt in einer geologischen Knautschzone, in der sich die Pazifische unter die Nordamerikanische Platte schiebt. Unter dem gewaltigen Druck im Erdinneren erhitzen und verflüssigen sich Plattenreste. Was dabei passieren kann, zeigte sich 1980, als der Mount St. Helens südlich des Mount Rainier explodierte.
Auch Legenden der ansässigen Indianer kunden von der Gefahr des Bergriesen. Wie es dort heißt, wird er manchmal so wütend, daß ihm die Adern platzen und Blut die Flanken hinunterrinnt.
Viel gefährlicher als die Lavaströme seien zähe Lawinen aus Schmelzwasser und Geröll, warnt der Geophysiker Dr. Tom Sisson vom US Geological Survey, Menlo Park. Mindestens 60 dieser sogenannten Lahars wälzten sich in den letzten 10000 Jahren vom Mount Rainier herab. Der größte erreichte vor 5000 Jahren den Puget Sound. An diesem Ausläufer der Bucht von Seattle liegt heute die Seattle-Schwesterstadt Tacoma, der Flughafen der Region sowie ein Marine-Hafen und das Gelände des Boeing-Konzerns. Der jüngste Lahar erreichte vor etwa 200 Jahren das heutige 3000-Seelen-Städtchen Orting 45 Kilometer südwestlich des Vulkans.
Der Mount Rainier ist besonders steil und hoch, deshalb sind Lahars dort sehr häufig. Außerdem wetzen und schaben 26 Gletscher an seinen Flanken. Hinzu kommt ein Phänomen, das die Wissenschaftler gerade erst zu verstehen beginnen: Der Berg wird von innen aufgeweicht. Durch Spalten und Risse dringt Oberflächenwasser ein, wird erhitzt und löst schwefelhaltige Mineralien aus dem Gestein. Schwefelsäure wandelt das Lavagestein in Lehm um, der sich je nach Wassergehalt ausdehnt oder zusammenzieht. Dadurch können die Flanken des Vulkans porös werden.
Die Geowissenschaftler um Tom Sisson wollen keine Panik auslösen. Sie befürchten jedoch, daß schon ein oder zwei Stunden nach einem Erdbeben ein Lahar folgen könnte. Dann bliebe allenfalls genug Zeit, um die Kinder aus den Schulen zu holen und die Täler über die vorgesehenen Evakuierungsrouten schleunigst zu verlassen.
Doch die Bewohner der gefährdeten Gebiete nehmen die Warnungen bislang nicht ernst – anders als die Indianer, die immer Distanz hielten zu dem schlafenden, reizbaren Riesen.
Bruni Kobbe