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Lesende Hunde

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Lesende Hunde
Was kommt nach dem Buch? Unsere Amerika Korrespondentin Désirée Karge hat im Tech Museum of Innovation das Lesevergnügen der Zukunft erlebt.

Cooler Jazz dudelt aus der rechten Armlehne und aus der linken tobt rasender Beifall: Oobie-do John the Sax Man Scat Man, die Hauptfigur in Jonathan Londons Bilderbuch „The Hipcat“, hat es geschafft, ein saxophonspielender Katzenstar zu werden. Auf den nächsten Seiten lese ich von Oobie-dos Abenteuern in der großen Stadt, die mein gemütlicher Plüschsessel mit Bar-Lärm, Autohupen und Katzengejammer untermalt. Bei jedem Umblättern höre ich einen neuen Soundtrack, und wenn meine Hände über die üppig illustrierten Seiten gleiten, ertönen zum Bilddetail passende Geräusche wie brutzelnde Bratpfannen oder kläffende Köter.

Rund ein Dutzend futuristische Leseerlebnisse warten zurzeit auf Besucher des Tech Museum of Innovation im kalifornischen San Jose (www.thetech.com). Eine Crew aus Ingenieuren, Computerexperten und Künstlern des Palo Alto Research Center der Firma Xerox (www.xerox.com) tüftelte gut 18 Monate an den ungewöhnlichen Exponaten, die über das Lesen im 21. Jahrhundert spekulieren. Ihre Botschaft: Lesen ist auch in der Zukunft „in“: „ Interessante neue Medien schaffen viele neue Leseinhalte und umgekehrt – die digitale Revolution macht’s möglich“, sagt Rich Gold, Leiter des Xerox-Teams. Daß es zukünftig nur ein universales, handliches Lesegerät à la Palmpilot geben wird, hält der Wissenschaftler für unwahrscheinlich – „viel zu langweilig, vor allem das Design“.

Alles andere als langweilig sind die von Gold entwickelten „ Tilty tables“: Diese quadratischen Möbelstücke lassen sich um ihren Mittelpunkt nach allen Seiten kippen. Ihr Herzstück ist eine einen Quadratmeter große Tischplatte mit Bildschirm, über den man riesige Dokumente anschauen kann, zum Beispiel einen von Gold kreierten zehn mal zehn Meter großen Comic. Umblättern ist hier passé: Je stärker ich auf die Tischkante drücke, desto schneller flitzen die bunten Bilder über den Tisch und fallen in meine Richtung. Das ist nichts für meinen empfindlichen Magen. „ Kinder werden dabei selten seekrank“, versichert Gold. Doch für das künftige Studieren von Landkarten oder architektonischen Entwürfen scheint ein wenig Übelkeit akzeptabel. „Vielleicht werden wir demnächst an solchen Wohnzimmertischen unsere Zeitung lesen“, spekuliert Gold.

Neue Möglichkeiten des Geschichten-Lesens – oder Erzählens – bietet auch das „Fluid reader“- Programm. Damit können Autoren ihre elektronischen Werke mit versteckten Informationen bereichern: Für die Museumsbesucher hat das Xerox-Team die Kurzgeschichte von „Harry the Ape“ auf einen großen Touchscreen-Monitor gebannt und einzelne Wörter mit kleinen roten Dreiecken markiert. Berührt der Leser ein Dreieck, dann bricht der Satz nach unten ab, und auf dem Bildschirm erscheint in bunter Schrift ein neuer, den Text ergänzender Absatz. Auch der ist mit Dreiecken gespickt. „Eigentlich hat Xerox dieses Programm entwickelt, um bei juristischen Dokumenten die vielen Fußnoten und Randbemerkungen benutzerfreundlich unterzubringen“, kommentiert Gold. „Doch auch Prosa kann damit kreativer werden.“

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Hat der Mensch des 21. Jahrhunderts überhaupt Zeit zum Lesen? Falls nicht, so kann er sich vorlesen lassen – von einem Roboter. Das Xerox-Team hat Kameras, Text-Erkennungssoftware und einen Sprach-Synthesizer in eine einen Meter große Hundeskulptur aus Metall gepackt. Sie begrüßt die Museums-Gäste mit blechernem „ Wuff-Wuff“ und lädt dazu ein, bereitliegende Manuskripte von einem zwei Meter entfernten Noten-Ständer abzulesen. In den Rücken des Hundes ist ein kleiner Bildschirm eingebaut, mit dem man verfolgen kann, wie die Texte eingescannt werden und welche Wörter er gerade ausbellt. Das englische Äquivalent zu „Fischers Fritze“ kommt ihm flott über die Hundelippen, und selbst das Kleingedruckte auf meinem Parkhaus-Schein liest der drollige Roboter fehlerfrei. Zur Belohnung erhält er von so manchem Besucher eine Streicheleinheit. „Da zeigt sich, welche Beziehung wir zur Technik entwickeln können“, schmunzelt Gold, „und wie wichtig dabei das Design ist. Nur wenige Menschen kraulen ihren Heimcomputer.“

Daß Technik animieren und lebendig wirken kann, zeigt auch der von Gold entwickelte „Hyperbolic Reader“ – ein großes, achteckiges Display, das mit einem Joystick gelesen wird. Gold hat hier den Alltag seines neunjährigen Sohnes Henry in zahlreiche Zeichnungen gebannt und mit einem von Xerox entwickelten Programm namens „Hyberbolic treepark“ gekoppelt. „ Diese Software wird bei Xerox für die Darstellung großer Inhaltsverzeichnisse oder Datenbanken mit all ihren Verästelungen verwendet“, erklärt der Künstler. Henrys Umwelt offenbart sich dem Leser, sobald er mit dem Joystick über einzelne Kapitel wie Schule oder Familie fährt. Dabei kommen neue Ebenen zum Vorschein, über die man wieder auf diverse Unterebenen Zugriff hat. Golds Fazit: Buchautoren haben demnächst völlig neue Möglichkeiten für künstlerische Darstellung und Ausdruck. Gold vermutet, daß das Leseprodukt der Zukunft von einem Team hergestellt wird, in dem Autoren, Ingenieure und Designer Hand in Hand arbeiten.

Das gute alte Buch – ein Fall fürs Antiquariat? Gold winkt ab: „Bücher haben noch lange nicht ausgedient.“ Die neuen digitalen Druckmaschinen könnten 300 Seiten starke Werke binnen 20 Sekunden produzieren, inklusive Buchbinden und Umschlaggestaltung. Und das ist gut so – schließlich verdient Golds Arbeitgeber Xerox damit seine Brötchen.

Désirée Karge

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