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Majak – das russische Atomfanal

Allgemein

Majak – das russische Atomfanal
Die ehemals geheime Plutoniumfabrik am Südural öffnet sich dem Westen. Erstmals durften deutsche Journalisten jene Anlage besuchen, in der das Plutonium für die russische Atombombe produziert wurde und die mehrere Strahlenkatastrophen verursachte.

Der Bürgermeister wünscht sich nichts sehnlicher, als daß sich Betriebe der Leichtindustrie in seiner Stadt ansiedeln – Betriebe, die auch Arbeitsplätze für Frauen und Jugendliche anbieten. „Teilen Sie den deutschen Unternehmern mit, daß sie beachtliche Investitionsvergünstigungen bekommen“, gibt Sergei Tschernyschow uns mit auf den Weg. Bürgermeister Tschernyschows Begehrlichkeit unterscheidet sich nicht von der vieler Kollegen. Dennoch wäre er nach einem solchen öffentlichen Ansinnen vor einem Jahrzehnt verhaftet und als Staatsfeind abgeurteilt worden. Tschernyschow ist das Oberhaupt der 86000 Einwohner zählenden sibirischen Stadt Osjorsk, die – nahe am Ural – etwa 100 Kilometer nordwestlich von Tscheljabinsk liegt und selbst in modernsten Atlanten nicht verzeichnet ist. Lange Zeit durfte niemand etwas von Osjorsk erfahren, nur wenige Eingeweihte wußten, was sich hinter der Stadt verbirgt. Erst Gorbatschows Perestroika brachte Licht in das Dunkel.

Osjorsk ist eine der zehn geschlossenen Städte Rußlands, die zum sowjetischen Nuklearkomplex gehörten und gegründet worden waren, weil die Führer der sowjetischen KP ihr Land mit allen Mitteln zur militärischen Supermacht ausbauen wollten. Osjorsk, das bis 1995 noch nicht einmal einen eigenen Namen hatte und schlicht Tscheljabinsk 65 hieß, war der Ort, in dem alle Mitarbeiter der Firma Majak wohnen mußten.

Majak war über mehrere Jahrzehnte eine gigantische Werkstatt der Hölle, in der das Plutonium für die sowjetischen Atombomben hergestellt wurde. Am 9. November 1945 kamen die ersten Bautrupps in die Taiga. 1949 explodierte die erste sowjetische Atombombe in der Nähe der kasachischen Stadt Semipalatinsk – mit Plutonium aus Majak. Der geistige Vater dieser Bombe war Prof. Igor Kurtschatow. Auch er lebte zeitweise in Tscheljabinsk 65 – in einer feudalen sibirischen Villa (bild der wissenschaft 12/1995, „Die Akte Cheljabinsk“).

Bis zu 22000 Menschen arbeiteten für Majak. „Wir waren stolz, an dieser vaterländischen Aufgabe teilzuhaben“, erklärt Wladimir Konstantinow, der 1953 nach Majak kam. „Ich würde wieder hier anfangen.“ Die Motivation der Mitarbeiter war hoch, Zwangsarbeiter gab es offenbar nicht.

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Osjorsk wirkt für russische Verhältnisse außerordentlich gepflegt. Grünflächen lockern die Wohngebiete auf, und selbst die unvermeidlichen Wohnblocks in unverkennbarer sowjetischer Betonplatten-Bauweise sind weit freundlicher anzusehen als anderswo. Zudem ist die Siedlung an drei Seiten von malerischen Seen umgeben. Fast kommt Ferienidylle auf in dieser Stadt.

Wäre da nicht der Zaun der sie an all den Stellen umschließt, wo kein Wasser ist. Betreten und verlassen kann man Osjorsk noch immer nur mit einer speziellen Genehmigung. Selbst nahestehende Verwandte der Einwohner dürfen nur einmal im Jahr eingeladen werden.

Und wäre da nicht die ionisierende (vulgo: radioaktive) Strahlung. Sie ist allgegenwärtig in dieser Ecke der Erde: Auch wenn Uhren an öffentlichen Gebäuden oder am Hotel Ural – die neben Temperatur und Zeitanzeige die Gammastrahlenbelastung anzeigen – den Eindruck vermitteln, als sei alles im Lot.

Vier atomare Tragödien haben sich hier abgespielt. 50000 Menschen dürften nach Schätzungen von Dr. Alexander Aklejew, dem Direktor des Tscheljabinsker Forschungszentrums für Strahlenmedizin, gesundheitliche Schäden davongetragen haben. Die Zahl der Opfer läßt sich nach seiner Auffassung aufgrund der unzureichenden Datenerhebung beim besten Willen nicht mehr ermitteln. Durch die Langlebigkeit von radioaktiven Isotopen wie etwa Strontium 90 – das ins Knochengerüst eingebaut, den Organismus über Jahrzehnte mit Strahlung traktiert – sterben allerdings noch immer Menschen wegen Majak.

In den wilden Anfangsjahren von 1948 bis 1952 waren insbesondere die Arbeiter der chemischen Anlage zur Plutoniumaufbereitung Strahlendosen ausgesetzt, die im Jahresschnitt ein Sievert und bei manchen bis zu acht Sievert erreichten. Die Spitzenwerte lagen damit 160mal höher als Beschäftigte von strahlenexponierten Arbeitsplätzen nach internationalem Standard heute erhalten dürfen (0,05 Sievert).

Damals wurden Arbeiter erst abgelöst, wenn ihre Strahlendosis mehr als 0,25 Sievert pro Viertelstunde betrug. (Jahresmittelwert der Majak-Mitarbeiter 1996: 0,003 Sievert). Den Arbeitern war es nach solchen Einsätzen „so übel“, daß sie nach Hause geschickt wurden. „In der darauffolgenden Woche sind aber alle wieder angetreten“, erklärt Jewgeni Wassilenko, der heutige Leiter der Strahlenschutzabteilung von Majak.

Radioaktive Abfälle wurden gedankenlos – wie anfangs auch in den USA – in den nahen Tetscha-Fluß entsorgt. Der Fluß war Lebensader von rund 50000 Menschen, die darin badeten, wuschen, mit dem Wasser ihre Felder bewässerten, es auch tranken.

Erst 1951 reagierten die Behörden. Wohl aufgeschreckt von einer zunehmenden Zahl an Strahlenkranken und neuen Erkenntnissen über die Gefährlichkeit der Radioaktivität, wurden die Majak naheliegenden Siedlungen an der Tetscha geräumt. Die Menschen wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion umgesiedelt – Angaben weshalb, erhielten sie nicht. Die wahren Gründe haben sie erst durch die Perestroika erfahren.

Das dritte Desaster ereignete sich am 29. September 1957. In einem Abfallsilo für hochradioaktives Material fiel die Kühlung aus. Durch die Strahlungsenergie erhitzte sich die Flüssigkeit und 80 Tonnen Atommüll flogen durch die Luft. 90 Prozent des Materials kontaminierten die Plutoniumfabrik Majak. Der Rest rieselte aus einer radioaktiven Wolke, die der Wind nach Nordnordost blies, auf einer Strecke von 300 Kilometern auf den Boden. 437000 Menschen wurden einer erhöhten Strahlung ausgesetzt.

Teile dieser kontaminierten Fläche sind bis heute Sperrgebiet. Die Belastung des Bodens durch Beta-Strahler beträgt dort bis zu zehn Millionen Becquerel pro Quadratmeter (ein Becquerel ist der Zerfall eines Atomkerns pro Sekunde). Über die Zahl der bei diesem Unglück unmittelbar Getöteten, an den Folgeschäden Verstorbenen oder heute noch Kranken gibt es immer noch keine klaren Aussagen.

Zur vierten der bisher bekanntgewordenen radioaktiven Verseuchungen kam es im Sommer 1967, als der Karatschai-See teilweise austrocknete und dessen radioaktiv verseuchten Sedimente vom Wind verblasen wurden. Die dadurch verstrahlte Fläche war deutlich kleiner als beim Unglück von 1957, auch die Strahlenbelastung lag deutlich darunter. Der Karatschai – 1951 als Abfallkippe angelegt, als Majak nicht mehr in die Tetscha verklappen durfte – ist weiterhin eine Zeitbombe. Die Gammastrahlung am Ufer liegt bei mehr als 0,03 Sievert pro Stunde (30000 Mikrosievert). Die gesamte eingeleitete Aktivität 120 Millionen Curie (ein Curie sind 37 Milliarden Atomkern-Zerfälle). Diesen Wert zeigte der Geigerzähler im vergangenen Monat, als deutsche Journalisten dank der Vermittlung des Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit GSF in Neuherberg sowie des russischen Atomministeriums erstmals den Komplex Majak besuchen konnten.

Heute werden in den See keine radioaktiven Abfälle mehr eingeleitet, die Russen sind dabei, ihn auszutrocknen und mit einer dicken Schicht aus Gestein und Beton abzudeckeln. 39 der ehemals 52 Hektar großen Seefläche sind auf diese Weise bereits „saniert“. Die in Majak arbeitenden Experten vertrauen darauf, daß dieses Problem damit fürs erste aus der Welt geschafft ist. Los ist man es allerdings nicht. Denn nun drohen Teile der radioaktiven Fracht ins Grundwasser zu versickern.

Auch heute fließt noch immer – radioaktiv unbelastetes – Wasser aus der Atomfabrik in die Tetscha. Dieses Flüßchen ist in unmittelbarer Nähe von Majak in vier Staustufen aufgestaut, die eine Fläche von 320 Hektar einnehmen. Auch dieses Gewässer ist verseucht und enthält immer noch eine Aktivität von 100000 bis 200000 Curie.

Diese „Altlast“ sollten drei Schnelle Brüter mit der Leistung von je 800 Megawatt beseitigen. Der Inhalt der Seen sollte ihnen als Kühlwasser dienen und so allmählich verdunsten. Die Radioaktivität des gespeicherten Wassers wollte man über Ionentauscher konzentrieren, die Restmengen verglasen und endlagern.

1984 begann der Bau der Brüter. 1991 wurde er durch ein Referendum im Tscheljabinsker Bezirk gestoppt. Inzwischen hat die Regierung die Vorbehalte für nichtig erklärt und für den Bau erneut grünes Licht gegeben. „Doch nun fehlt es uns an Geld, das Vorhaben abzuschließen“, sagt Wiktor Fetissow, der Generaldirektor von Majak.

Auf dem eloquenten und weltläufig wirkenden Fetissow lastet eine schwere Bürde: Die ehemals so stolze Atomwaffenschmiede der Sowjets ist zu einem Betrieb degeneriert, der künftig als Ort verschwiegener Atomkatastrophen immer häufiger im selben Atemzug mit Tschernobyl genannt werden wird. Die militärische Produktion von Majak ist in den letzten sieben Jahren auf ein Zehntel zurückgegangen. Seine 14000 Mitarbeiter beschäftigt Fetissow nun vor allem in der Wiederaufarbeitung von Brennstoffen aus russischen und ukrainischen Kernkraftwerken. Viel verspricht sich Fetissow von der Produktion radioaktiver Isotope für den medizinischen und lebensmittelhygienischen Weltmarkt: „Hier haben wir unsere Produktion in den letzten vier Jahren verdreifacht.“

Wie lange das Werk Majak noch in der Lage ist, seinem viel zu großen Mitarbeiterstamm die Löhne pünktlich auszubezahlen, weiß indes niemand. Die Gefahr, daß die Mitarbeiter angesichts der bedrohlichen wirtschaftlichen Lage auf eigene Rechnung mit spaltbarem Material handeln könnten, besteht für Fetissow nicht. „Ich versichere Ihnen, daß ein Verschwinden von Material ausgeschlossen ist“, erklärt der Generaldirektor zuversichtlich. Gewiß, die Sicherheitsbestimmungen in Majak sind streng und die Kontrollen scharf. Dennoch steigt in Osjorsk angesichts der schlechten wirtschaftlichen Gesamtsituation die Kriminalität. Schon sind etliche Parkplätze der anscheinend so hermetisch abgeschirmten Stadt mit einem zwei Meter hohen Metallzaun gegen Autodiebe zusätzlich gesichert.

Sergei Tschernyschow, der 40jährige Bürgermeister von Osjorsk, weiß, warum er dringend neue Arbeitsplätze in seine Stadt bringen muß. Doch selbst wenn das Niveau der Arbeiter hoch und das der Löhne niedrig ist, bleibt die Frage, warum westliche Investoren sich ausgerechnet in einer abgeriegelten Stadt am Rand des Südurals engagieren sollten, die zudem das Menetekel von atomaren Havarien ertragen muß.

Wolfgang Hess

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