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Markus Antonietti: Der Gutmensch von Teltow

Allgemein

Markus Antonietti: Der Gutmensch von Teltow
An dem 38jährigen Kolloidchemiker stimmt einfach alles. Im Studium las er 4000 Bücher, mit 29 wurde er habilitiert, drei Jahre später war er Max-Planck-Direktor. Es ist anzunehmen, daß Antonietti jetzt auch der sanften Chemie zum Druchbruch verhilft.

Der Fußboden ist übersät mit Zigarettenkippen und Kronenkorken. An den Abfluß- und Heizungsrohren unter der Decke hängt Toilettenpapier zwischen einem Gewirr von Kabeln. In der Ecke baumelt ein altes Telefon. Hier, in einem Kellerraum unter der Kantine, treffen sich die Musiker der Rockband „Erich C.“ des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Teltow bei Berlin einmal in der Woche zum Üben. Während die Luft vom Zigarettenrauch immer schwerer wird und der Bierkasten immer leichter, spielen sieben Männer und eine Frau selbstkomponierte Lieder, die Leid und Freud eines Wissenschaftlers widerspiegeln. Sie singen die Ballade vom kleinen Doktoranden, der längst durchschaut hat, daß er immer nur der Knecht ist, und vom „Essen aus Abfall“, das es in der Kantine gibt, vom Leben in Brandenburg, das man noch zwei Jahre aushalten muß, weil der Zeitvertrag so lange läuft, aber auch traurig-eindeutige Lieder von Liebe, Sex und Sehnsucht. Der Sänger ist ein zart gebauter Mann im Unterhemd, der in Mick-Jagger-Manier seinen Körper verrenkt und hingebungsvoll ins Mikrofon schmachtet oder rockt: der Institutsdirektor Professor Dr. Dr. h.c. Markus Antonietti.

Auch wenn er manchmal richtiggehend kindlich wirkt: Der 38jährige Chemiker mit Vorfahren aus dem Piemont ist einer der angesehensten Wissenschaftler Deutschlands und auf dem Gebiet der Kolloidforschung sogar weltweit einer der bedeutendsten. Er kultiviert das Image von „jugendlich und harmlos“, trägt auch bei der Arbeit Jeans und Turnschuhe, duzt sich mit seinen – nicht immer darüber erfreuten – Mitarbeitern und fährt Cabriolet. Dabei ist er sich seiner Überlegenheit durchaus bewußt, spielt sie aus, wann immer er glaubt, es sei nützlich. Autorität, so sagt er, beruhe immer auf Kompetenz, und in den Naturwissenschaften sei es eben leicht beweisbar, wer recht habe – ein großer Vorteil. So ist er jederzeit bereit, auch ältere Forscher in ihre Schranken zu weisen, wenn sie glauben, sie könnten ihm widersprechen.

Markus Antonietti ist der klassische Überflieger mit allen Vor- und Nachteilen dieser Spezies, etwa Ungeduld oder Einsamkeit. Schon als Kind war er „einer der bestuntersuchten Schüler, weil niemand glauben konnte, daß es Kinder mit einem Intelligenzquotienten von über 200 gibt“, wie er schmunzelnd erzählt. Abitur machte er mit 18 – nur deshalb so spät, weil seine Eltern ihm nicht erlaubten, eine Klasse zu überspringen. „Sie waren der Meinung, daß jemand mit 16 auf der Uni nicht allzuviel Spaß hat.“ Antonietti ist ihnen heute dankbar dafür. Danach jedoch ging alles blitzschnell. Er studierte in Mainz erst Chemie und dann Physik, promovierte mit 25 in Chemie und habilitierte sich mit 29 in physikalischer Chemie. Sein damaliger Professor und Mentor Hans Sillescu erinnert sich, wie er auf den jungen Mann aufmerksam wurde: „Er war in seinem dritten oder vierten Semester. Wir hatten eine Flasche Wein ausgelobt für denjenigen, der in der Klausur das Maximum von 50 Punkten erreichen würde. Jeder wußte, daß das so gut wie unmöglich war. Aber eines Tages kam der Assistent zu mir und zeigte mir Antoniettis Klausurarbeit. Sie war perfekt.“ Das gute Abschneiden setzte sich im Vorexamen fort. Sillescu schwärmt noch heute, daß Antonietti „der beste Student war, den ich je hatte“.

Mit 30 wurde Antonietti Professor an der Uni Marburg, zwei Jahre später berief ihn die Max-Planck-Gesellschaft zum Institutsdirektor. Mit 37 erhielt er den Ehrendoktor der Clarkson-Universität, die im amerikanischen Potsdam angesiedelt ist.

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Zur Chemie verschlug es ihn aus Trotz. Er studierte das Fach nur deshalb, weil er im Abitur eine Drei erhielt und sich beweisen mußte, daß ihm da eine Ungerechtigkeit widerfahren sei, nur „weil ich mit der Chemielehrerin nicht zurechtkam“. Er wandte sich der Polymerchemie zu und dort der Herstellung von Mikrovernetzungen nach dem Vorbild der Natur. „Schon bei der Diplomarbeit zeigte sich“, erinnert sich Sillescu, „daß er nicht nur ein guter Theoretiker, sondern auch ein begabter Experimentator ist.“ Und Antonietti stellte bereits damals sein Talent als Organisator von Forschung unter Beweis, wobei ihm Doktorvater Sillescu bewußt freie Hand ließ: „Da er viele Kontakte zu anderen Studenten hatte, lockte er eine Reihe interessanter junger Leute in meinen Arbeitskreis.“

Die Welt kleinster polymerer Netzwerke führte Antonietti schließlich zur Kolloidchemie. Dieses Arbeitsfeld, das zu Anfang unseres Jahrhunderts schon einmal intensiv beackert wurde – aber durch den Aufschwung der Polymerchemie etwas in Vergessenheit geriet -, beschäftigt sich mit der „Welt zwischen den Dimensionen“, wie Urvater Wolfgang Ostwald es 1908 beschrieb. Kolloidforscher arbeiten mit Teilchen, die größer als Moleküle sind, aber kleiner als Pulverpartikel – also größenmäßig zwischen 3 und 500 Nanometern liegen. Neuerdings heißt ihre Disziplin auch Nanochemie.

Kolloide kommen in den unterschiedlichsten Ausprägungen vor: als Kombination zweier Feststoffe, als Kombination zweier Flüssigkeiten – etwa von Fett und Wasser -, als Mischung von Feststoffen mit Flüssigkeiten – etwa Lacke – oder als Feststoff in Gasen: Auch Rauch ist ein Kolloid.

Bemerkenswert ist, daß viele Substanzen in fein verteilter Form völlig neue Eigenschaften bekommen. So sinkt der Schmelzpunkt von Gold bis zu 200 Grad. Auch Farbe, Leitfähigkeit, mechanisches und chemisches Verhalten scheinbar wohlbekannter Substanzen ändern sich beim Übergang zum kolloidalen Zustand. Dies liegt auch an der riesigen Oberfläche der Teilchen: Ein Gramm kann eine Oberfläche haben, die größer ist als mehrere Fußballfelder.

Vielfältige Anwendungen lassen sich für die Winzlinge finden: „Wir kennen amorphe Metalloberflächen, die bis zu 1000mal so aktiv sind wie kristalline Systeme“, erklärt Antonietti. „Ein Abgaskatalysator auf Kolloidbasis erreicht damit bereits auf einer deutlich niedrigeren Temperaturstufe die Wirksamkeit heutiger Katalysatoren, ist also deutlich wirksamer.“ Auch die Medizin profitiert: Kolloidale Medikamente können besser vom Körper aufgenommen werden. Außerdem sorgen Kolloide dafür, daß sich Werkstoffe umweltfreundlicher herstellen lassen oder helfen in wasserlöslichen Lacken, organische Lösungsmittel zu vermeiden.

Die Hohe Schule der Kolloidforschung, die Antonietti pflegt, beginnt dort, wo Chemiker Nanometerstrukturen so herstellen, daß die Kolloide genau definierte Aufgaben erfüllen. Hier sieht der 38jährige seine Mission: „Neues schaffen durch Verteilen und Kombinieren“, lautet sein Credo.

Denn: „Für viele Probleme lassen sich Lösungen finden, indem man die Selbstorganisation von Strukturen ausnutzt, wie dies schon der Nobelpreisträger Jean-Marie Lehn vorgeschlagen hat.“

Welche Dimensionen Kolloide wirtschaftlich erreichen können, zeigt ein Blick auf die Erdölindustrie. Durch kolloidale Katalysatoren lassen sich in einem Erdölcracker auch noch die 15 Prozent des Rohöls umwandeln, die heute mangels besserer Möglichkeiten nur mit Mühe als Schweröl verbrannt werden. „Wir stehen mit dieser sanften Chemie ganz bewußt im Gegensatz zur konventionellen Heat-and-Beat-Chemie“, betont Antonietti. „Substanzen werden also nicht mehr mit Gewalt zu Reaktionen gezwungen, sondern organisieren sich – wie in der Natur – in der gewünschten Weise selbst.“ Dieser neuen Chemie wird die Zukunft gehören, gibt sich Antonietti überzeugt. Über die Vielfalt der Materialeigenschaften in der Natur und deren Bauprinzipien meint Markus Antonietti respektvoll: „Hier kann der auf dem Gebiet der Nanochemie arbeitende Wissenschaftler nur bewundernd lernen.“

Etwa bei der Herstellung winziger Kügelchen mit individuellen Eigenschaften: Dazu härtet man ein Polymer in ultrafeinen Tröpfchen-Gußformen aus und läßt es mit sogenannten funktionellen Gruppen reagieren, die beispielsweise Metalle an sich binden. Durch diesen Kniff – verbunden mit der gigantischen Vielzahl der Tröpfchen – entsteht eine Art Aktivkohle, die giftige Schwermetalle aus Flüssigkeiten ziehen kann. Antonietti ist fasziniert vom einfachen Herstellungsprinzip: „In einem Ein-Liter-Kolben können wir sehr schnell eine Fläche produzieren, die einer mittleren Großstadt entspricht – und das Quadratnanometer für Quadratnanometer durch die Selbstorganisationsprinzipien der Natur.“

Was einfach klingt, ist in der chemischen Praxis harte Arbeit. Bis ein System gefunden ist, das sich genau in der erwünschten Art und Weise organisiert, vergehen Jahre. Dutzende von Doktorarbeiten sind dazu nötig. Der Institutsdirektor sieht sich dabei als Koordinator, Berater, Planer. Dabei engagiert er sich genauso begeistert wie in seiner Rolle als Hochschullehrer. An der vor kurzem gegründeten Universität Potsdam, die im Neuen Palais von Sanssouci logiert, liest er Chemie – mitunter vor nur fünf Studenten. Dabei hat er schon 40 Doktoranden, die ihm sehr wichtig sind.

Die Arbeit als Direktor eines Max-Planck-Instituts, als Professor an der Universität Potsdam sowie als Gastprofessor an der belgischen Universität Louvain la Neuve, als Gutachter für Zeitschriften und Forschungsprojekte, als Autor von 30 bis 40 Veröffentlichungen pro Jahr, dazu Forschungsreisen zu Kongressen und Vorträgen – das ist sein berufliches Leben. Auch die Integration der ehemaligen Ost-Mitarbeiter in das 1992 gegründete Max-Planck-Institut gehört dazu.

Privat interessiert sich Antonietti für Musik („ich nehme Gesangsunterricht“), ist ein bibliomaner Leser („während des Studiums habe ich 3000 bis 4000 Bücher gelesen“) und spielt Squash („ich besiege alle meine Jungs aus dem Institut“) – auch dies alles offensichtlich mit unbändigem Ehrgeiz. Und nicht nur die Kinderzeichnungen in seinem Büro sprechen dafür, daß er zu alledem auch noch ein liebevoller Vater seiner beiden kleinen Töchter ist.

Wie schafft Antonietti ein solches Pensum? „Nur mit Spaß. Bei mir hat Spaß die oberste Priorität.“ Aber ihm gilt eben auch Arbeit als Spaß. Außerdem ist der Mann blitzschnell. Er spricht schnell – und das in drei Sprachen, schreibt schnell, hat eine rasche Auffassungsgabe und Entscheidungen gehen ihm leicht von der Hand. Seine Mitarbeiter sprechen mit Hochachtung von seinen intellektuellen Leistungen.

Vielleicht ist diese betonte Ausnahmestellung Grund dafür, warum Antonoietti manchmal fast krampfhaft versucht, so normal wie möglich zu erscheinen. Er sei keineswegs ein abgehobener Wissenschaftler, sagt er. So lehnte er es in Teltow von Anfang an ab, einen für ihn freigehaltenen Auto-Stellplatz zu benutzen. Nach anderthalb Jahren, war dann auch die Verwaltung so weit und ließ den Direktorenparkplatz endlich verschwinden.

Brigitte Röthlein / Markus Antonietti

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