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Maßschleiferei

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Maßschleiferei
Neue Brillengläser für individuelles Sehen. Dank trickreicher Berechnungsmethoden und computergesteuerter Fräs- und Poliermaschinen können jetzt Gleitsichtgläser nach Maß gefertigt werden. Sie sollen die Sehfehler besser korrigieren, als es bisher möglich war.

Mutter hat einen Knick in der Optik. Sie bemerkt ihn, wenn sie ihren Blick zu sehr senkt, während sie in die Ferne schaut. Dann haben Laternenpfähle oder Lindenbäume einen Sprung und verschwimmen nach unten vor ihren Augen. Schuld ist die Zusatzlinse im unteren Teil ihres Brillenglases, mit der sie lesen kann, ohne die Brille zu wechseln. In der Schublade liegt seit einigen Jahren eine Gleitsichtbrille, die das Sehen in allen Entfernungen ohne den störenden Knick ermöglichen soll: Mutter hat sich an das schicke und teure Stück nie gewöhnen können. Das Sehen damit sei anstrengend, und sie fühle sich unsicher, klagt sie. Sie steht mit ihren Schwierigkeiten nicht alleine. „Zwar kommen von 1000 verkauften Gleitsichtgläsern nur 2 wegen Unverträglichkeit zu uns zurück. Aber es gibt eine hohe Dunkelziffer“, sagt Wolf-Dieter Müller, Leiter des Geschäftsfeldes Brillenoptik bei der Firma Carl Zeiss. Er würde das wohl nicht so freimütig sagen, wenn er nicht überzeugt wäre, Ursache und Lösung des Problems gefunden zu haben. Diese Überzeugung teilt er mit den Experten von Rodenstock, dem anderen großen deutschen Brillenglashersteller. Beide Unternehmen lieferten sich in den letzten Monaten ein Kopf-an-Kopf- Rennen um die Gleitsichtgläser einer neuen Generation. Die soll nun tatsächlich individuelles Sehen mit Gleitsichtgläsern ermöglichen. Seit Mai bieten beide Firmen ihre neuen Wunderbrillen in den Optiker-Fachgeschäften an, Rodenstock zunächst mit den leichten Kunststoffgläsern, die „echten“ Silikatgläser sollen folgen. Die beiden Optik-Konzerne kämpfen um Kunden, die in den Augen von Werbefachleuten anderer Branchen wenig attraktiv sind – Frauen und Männer, die älter sind als 45 Jahre. Die haben ein gemeinsames Manko: Sie sehen die Dinge der näheren Umgebung nicht mehr scharf. Die Linse im Auge verliert an Elastizität, die für die Einstellung auf nahe Objekte nötig ist. Meist können sich normalsichtige Menschen mit einer einfachen Lesebrille helfen, doch jeder Brillenträger braucht im Alter eine zusätzliche optische Korrektur für die Nähe. Bei einer Gleitsichtbrille wird diese Korrektur dadurch erreicht, daß die Krümmung der Gläser nach unten hin immer mehr zunimmt. Das klingt einfacher als es ist: „Gleitsichtgläser sind die kompliziertesten optischen Linsen, die man herstellen kann – auch im Vergleich zu Präzisionsobjektiven“, sagt Dr. Peter Baumbach, Leiter der Abteilung „Grundlagen Brillenoptik“ bei Rodenstock in München. Denn in einem Objektiv haben mehrere Linsen Platz, um eine optische Wirkung zu erzielen. Aufgrund physikalischer Gesetze ist es unmöglich, ein Gleitsichtglas herzustellen, das auch dann scharfes Sehen ermöglicht, wenn der Fehlsichtige nahe am Glasrand durch die Brille blickt. Die Kunst der Hersteller besteht darin, die optisch nutzbare Sehfläche möglichst groß zu machen. Die Optikfirmen stehen vor einer weiteren Herausforderung. Baumbach: „ Es gibt rund 6 Milliarden Menschen auf der Erde. Aber es gibt mehr als 20 Milliarden mögliche Fehlsichtigkeiten.“ Denn die Fehlsichtigkeit eines Menschen läßt sich nur mit einer Vielzahl von höchst individuellen Werten vollständig beschreiben. Brillenträger kennen im besten Fall ihre Dioptrienzahl, doch muß der Augenarzt oder Optiker noch etliche andere Größen bestimmen: den sogenannten Astigmatismus, dessen Achslage sowie das Prisma und dessen Basis (siehe Kasten „Rund ums Glas“). Bei Alterssichtigen muß zudem festgestellt werden, welche zusätzliche Dioptrien die Sehkraft im Nahbereich wieder herstellen – die Addition. Um jedem Menschen in kürzester Zeit seine Brillengläser liefern zu können, müßten die Herstellerfirmen ein Lager mit vielen Milliarden unterschiedlicher Exemplare unterhalten – das aber wäre wirtschaftlich nicht zu realisieren. Oder sie fertigen das Glas erst an, wenn sie den Auftrag mit den gemessenen Korrekturwerten haben. Das würde bei bisherigen Gleitsichtgläsern viel zu lange dauern. Der Ausweg aus dem Dilemma: Die Hersteller produzierten Halbfabrikate – Gläser, die auf der Außenseite den Gleitsichteffekt eingeschliffen haben, auf der Innenfläche aber noch nicht bearbeitet sind. Von diesen Halbfabrikaten gab es rund 150 verschiedene: Zwar sind weit mehr Kombinationen von Dioptrienzahl und Addition möglich, doch die Hersteller faßten mehrere dieser Kombinationen zu einem Halbfabrikat zusammen und nahmen die entstehende Ungenauigkeit in Kauf. Diese überschaubare Anzahl von Halbfabrikaten konnten die Firmen vorrätig halten. Nach der Bestellung des Optikers mit den Korrekturwerten seines Kunden schliffen die Hersteller die Innenseite dann so, daß die anderen Komponenten des Sehfehlers – Astigmatismus, Achse, Prisma und Basis – korrigiert wurden. Nachteil dieser Brillen „von der Stange“: Während der eine Brillenträger zum Beispiel im Autorückspiegel andere Verkehrsteilnehmer aus den Augenwinkeln heraus scharf sehen kann, ist dem anderen das nicht möglich. Während der eine ein DIN-A4-Blatt mit einem Blick in seiner ganzen Breite überschaut, kann der andere gerade mal eine Zeitungsspalte ohne Kopfbewegung erfassen. „Mit dieser Situation kann der einzelne Brillenträger wohl vor allem deshalb leben, weil er keinen direkten Vergleich hat“, sagt Physiker Baumbach. Zwar verarbeiteten die Brillenhersteller bei ihren Topmodellen schon in den letzten Jahren die Innenseite der Gläser zu immer komplizierteren Flächen. Doch erst jetzt gelingt, wovon die Experten lange träumten: Das Gleitsichtglas wird komplett erst dann gefertigt, wenn der Auftrag des Optikers vorliegt. So können zusätzliche Daten berücksichtigt werden, etwa der Abstand der Pupillen, Durchbiegung und Vorneigung der ausgesuchten Brillenfassung sowie die Distanz zwischen Augenhornhaut und Brillenglas. „Bei der Berechnung der Gläser haben wir für diese individuellen Größen bislang Mittelwerte eingesetzt“, sagt Gerhard Kelch, Leiter der mathematischen Abteilung im Geschäftsfeld Brillenoptik bei Zeiss. Beim Pupillenabstand wurden beispielsweise 65 Millimeter als optimal angenommen. Bei manchen Menschen stehen die Augen jedoch 75 Millimeter auseinander, bei anderen nur 60 Millimeter. Die Folge: Die Menschen sehen an sehr unterschiedlichen Punkten durch ihre Brillengläser. Diese Punkte hängen auch davon ab, ob die Augen einen Gegenstand in der Ferne oder einen in der Nähe fixieren. Da die Hersteller die unterschiedlichen Pupillenabstände bislang nicht berücksichtigt haben, sah mancher Träger von Gleitsichtbrillen oft durch den unscharf abbildenden Teil der Gläser – und fühlte sich entsprechend unwohl. „Jetzt können wir die Größe des scharfen Bereiches für das Nahsehen mehr als verdoppeln“, sagt Zeiss-Experte Wolf-Dieter Müller. Doch der Fehlsichtige profitiere von den Gläsern der neuen Generation auch, wenn er ferne Objekte anvisiere. Außerdem gewöhne er sich schneller als bisher an seine Gleitsichtbrille. Peter Baumbach vom Konkurrenten Rodenstock sieht das genauso. Einigkeit herrscht auch in anderer Hinsicht: Die Produktion der neuen maßgefertigten Gläser ist nur möglich, weil firmeneigene Fachleute Computerprogramme entwickelt haben, mit denen die beste Geometrie des Brillenglases sehr schnell berechnet werden kann – auf dem Softwaremarkt gibt es solche spezialisierten Programme nicht. Noch vor einigen Jahren benötigte der Computer mehrere Stunden oder sogar Tage, bis er die Gleitsichtfläche eines Halbfabrikats konstruiert hatte. Heute entwirft ein Hochleistungsrechner Hunderte von Gläsern am Tag. Die Daten steuern direkt die Fräsmaschinen. Im Zeiss-Werk im württembergischen Aalen gewähren die Wissenschaftler dem Journalisten einen Blick auf eine solche Maschine: In ihrem Inneren arbeitet sich eine kleine Diamantschneide innerhalb von zwei Minuten spiralförmig bis in die Mitte des Glases vor und formt so eine Fläche, deren Krümmung in jedem Punkt unterschiedlich ist. Danach müssen die Gläser poliert werden. „ Das ist der schwierigste Fertigungsschritt. Wenn die Fläche eines Brillenglases so bleiben soll, wie sie mathematisch berechnet wurde, dürfte sie nur punktförmig poliert werden – eigentlich ein unmögliches Unterfangen“, sagt Baumbach. Wie die Rodenstock-Fertigungsexperten das Problem gelöst haben, verrät er nicht. Auch bei Zeiss bekommen Besucher diese Poliermaschinen nicht zu sehen. Auf Nachfrage stuft Müller die Poliermethode als „ top-secret“ ein – mit einer Erklärung, die der von Baumbach sehr ähnlich ist. So viel Gleichklang ist ungewöhnlich. Doch auf Schmusekurs sind Rodenstöckler und Zeissianer nicht: Die Fertigungstechnologie des Konkurrenten sei weniger ausgereift und unflexibler, sagen die einen. Der Wettbewerber könne mit seiner Methode bestimmte Gläser nicht so leicht und dünn konstruieren, kontern die anderen. Tatsache ist: Bei Rodenstock sind alle optischen Elemente, einschließlich des Gleitsichteffektes, auf der Innenseite des Glases untergebracht. Bei Zeiss bringt das neue Fertigungsverfahren beide Seiten in eine komplizierte Form. Hier wie da hat das individuelle Gleitsichtglas seinen Preis: Es ist bis zu 20 Prozent teurer als die besten Vorgänger-Modelle. Rund ums Glas Dioptrie Die Dioptrie ist ein Maß dafür, wie stark das Licht von einem optischen System gebrochen wird. Das menschliche Auge hat normalerweise eine Brechkraft von rund 60 Dioptrien. Ist die Brechkraft höher oder das Auge zu lang, vereinigen sich die parallel einfallenden Lichtstrahlen nicht auf der Augen-Netzhaut, sondern davor. Die Folge ist Kurzsichtigkeit: Nur nahe Objekte werden scharf gesehen. Die Korrektur erfolgt mit einem Brillenglas, das die Brechkraft des Auges verringert und daher auch als „Minus“-Glas bezeichnet wird. Die Angabe „+2 Dioptrien“ bedeutet dagegen, daß das entsprechende Brillenglas die Brechkraft des Auges um zwei Dioptrien erhöht. Der Träger des Glases ist weitsichtig – ohne Brille würden Gegenstände erst hinter der Netzhaut scharf abgebildet. Astigmatismus und Achse Der vordere Teil des Auges, die Hornhaut, ist normalerweise kugelförmig wie ein Fußball. Drückt man den Ball zusammen, ist seine Oberfläche in Richtung des Drucks stärker gekrümmt als im 90 Grad-Winkel dazu. Ähnlich kann auch die Hornhaut von der Kugelform abweichen, dadurch ist die Fehlsichtigkeit beispielsweise in waagerechter und senkrechter Richtung verschieden hoch. Optiker nennen diese Abweichung Astigmatismus und geben durch die sogenannte Achslage an, in welcher Richtung die Hornhaut gleichsam zusammengedrückt ist. Prisma und Basis Normalerweise liefern beide Augen übereinstimmende Bilder, die vom Gehirn zu einem einzigen Bild verschmolzen werden. Eine Fehlstellung der Augen kann dazu führen, daß die entstehenden Bilder nicht zusammenpassen – diese Menschen haben Schwierigkeiten mit dem räumlichen Sehen. Abhilfe schafft eine Prismenbrille: Sie lenkt einfallendes Licht um den Winkel ab, in dem die Augen falsch zueinander stehen. Die sogenannte Basis gibt an, wie die prismatische Wirkung der Brille ausgerichtet werden muß.

Frank Frick

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