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Noten in Not

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Noten in Not
Die Handschriften Johann Sebastian Bachs sollen vor dem Zerfall gerettet werden. Er gilt als größter Komponist aller Zeiten. Doch sein Nachlaß – fast 8000 Notenblätter, die in der Berliner Staatsbiblothek lagern – leidet an Tintenfraß. Mit einem trickreichen Verfahren wollen Experten die wertvollen Originale restaurieren.

Unser Weg führt über knarrende Holztreppen, durch ein Labyrinth von Kellerräumen mit endlosen Regalen verstaubter Bücher. Noch eine Metalltreppe hinunter, und dann stehen wir vor einer gepanzerten Metalltür. „Das ist also unser Heiligtum“, sagt der Bibliothekar, als die schwere Tür aufschwingt. Dahinter kommt ein vielleicht zehn Meter langer schmaler Raum zum Vorschein, in dem verschlossene Archivschränke in Reih und Glied stehen. Etwas trist, wo hier doch ein Erbe der Weltkultur lagert, das bei Sammlern schätzungsweise 600 Millionen Mark bringen würde. „ Könnte ich mal einen Blick …“ „Nein“, unterbricht der Begleiter freundlich, „die Blätter mit den Handschriften sind in Kassetten verpackt, und die Schränke sind verschlossen.“ Verstehe. Jedes Herausnehmen würde das wohltemperierte Klima der Preziosen stören. Rund 300 Werke mit 7784 Notenblättern von Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750), des wohl größten Musikergenies aller Zeiten, lagern im Keller der Berliner Staatsbibliothek – rund 80 Prozent aller noch erhaltenen Handschriften des Meisters, darunter Brandenburgische Konzerte, Matthäus- und Johannespassion, Weihnachtsoratorium und viele Kantaten. Doch mit dem musikalischen Erbe haben die Bibliothekare viel Bekümmernis: Zwei Drittel des Bestandes sind vom Zerfall bedroht. Am schwersten beschädigt ist das monumentalste Werk Bachs: die h-Moll-Messe. Die Notenschrift ist zum Teil nicht mehr sichtbar, weil sich ein brauner Schleier wie ein Leichentuch über die musikalische Reliquie gelegt hat. Notenköpfe rieseln aus dem fragilen Papier, und das Sanctus gleicht einem Schweizer Käse. Schuld ist die Tinte, die der Komponist benutzte. Sie enthielt Eisensulfat, Gallsäure und Gummi Arabicum, die sich Bach aus der Apotheke besorgte und selbst mischte. Ob Bach wußte, daß es sich bei dieser Mixtur um eine tickende Zeitbombe handelt? Schon 1687, zwei Jahre nach Bachs Geburt, stand in dem Lehrbuch „Die Kunst zu tuschen“: „So zu viel Vitriol (Eisensulfat) darunter, wird die Tinte gar leichtlich das Papier, worauf man mahlet, durchfressen.“ Selbst wenn Bach das gelesen hat, es hat ihn wohl kaum gekümmert – schließlich rechnete er angesichts seiner bescheidenen Stellung als Leipziger Thomaskantor nicht damit, daß in ferner Zukunft, nämlich 1997, die zwölfseitige Kantate „Ach Gott, vom Himmel sieh darein (BWV 2)“ für 1,3 Millionen Mark ins Archiv der Staatsbibliothek wandern würde. Was beim Tintenfraß genau im Papier passiert, ist einfache Chemie: Die Tinte setzt im Laufe der Zeit Schwefelsäure und Eisen-Ionen frei, die Messen und Motetten mürbe machen. Die Schwefelsäure spaltet die langkettigen Zellulose-Moleküle in kurzkettige Zucker-Moleküle – das Papier verliert seine mechanische Festigkeit. Am harmlosesten ist der Rost, der bei der Oxidation der Eisen-Ionen entsteht. Doch nicht alles Eisen rostet: Ein Teil der tückischen Eisen-Ionen löst die Oxidation der Zellulose an der Luft aus, das sich braun verfärbt und am Ende sogar sich selbst vernichtet. Die Ionen wirken als Katalysator, verbrauchen sich also nicht, und der Prozeß kommt nicht zum Stillstand. Das hat zur Folge, daß die Eisen-Ionen im Laufe der Jahrhunderte immer weiter aus den Notenlinien oder Notenköpfen ins Papier wandern und ihr zerstörerisches Werk entfalten. Der Zahn der Zeit nagt nicht an allen Papieren gleich. Verblüffenderweise sind die älteren Originale aus Bachs Mühlhausener und Weimarer Zeit besser erhalten als die Blätter aus den späteren Leipziger Jahren. Prof. Robert Fuchs, Leiter des Studiengangs Schriftgut-Restaurierung an der Fachhochschule Köln, sieht die Schuld beim Vitriol: Je nach Bergbaugebiet ist es unterschiedlich verunreinigt. In Sachsen enthält es Zink und Kupfer, das den Tintenfraß begünstigt. Glück im Unglück: Bach benutzte Hadernpapier, das zu jener Zeit übliche, aus Lumpenresten geschöpfte Papier. Hätte Bach schon Papier aus Holzschliff verwendet, das Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, stünde es um seine genialen Kompositionen noch schlimmer, weil dieses Material aggressive Säure enthält. Aus diesem Grund haben die Berliner Staatsbibliothekare auch die alten Papp-Einbände entfernt, in denen die Bach-Originale später in bester Absicht aufbewahrt wurden. Im Tresorraum herrschen konstant 50 Prozent Luftfeuchtigkeit, die Temperatur beträgt kühle 18 Grad Celsius, „weil dann die Chemie langsamer abläuft“, wie Dr. Hartmut Böhrenz, Leiter der Abteilung Bestandspflege an der Staatsbibliothek, erklärt. Kälter wäre besser, doch dann würde die Luftfeuchtigkeit auf den Blättern kondensieren, wenn sie aus dem Magazin in den Lesesaal gebracht werden – aber das erlauben die Gralshüter sowieso nur selten. Die Uhr für Bachs Nachlaß zeigt fünf vor zwölf, warnen die Restauratoren, nachdem noch Mitte der neunziger Jahre das Problem heruntergespielt wurde. Um die am schwersten beschädigten Schriften zu retten – etwa ein Viertel des Bestandes –, haben sich die Restauratoren zu einem radikalen Schritt entschlossen: Nach jahrelanger Forschung und Treffen internationaler Experten 1997 und 1998 in Berlin entschied man sich für das Verfahren der Papierspaltung. Dabei wird das vom Tintenfraß malträtierte Papier in der Mitte auseinandergerissen, ein dünnes Papier zur Stabilisierung eingelegt und wieder zusammengeklebt. Die Technik wurde bereits vor über 100 Jahren in England praktiziert, doch erst Günter Müller von der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena hat sie in den sechziger Jahren weiterentwickelt. Sein Schüler Dr. Wolfgang Wächter vom Leipziger Zentrum für Buch-Erhaltung, hat das Verfahren so perfektioniert, daß es sogar maschinell abläuft. In Leipzig können 2000 Seiten pro Tag gespalten werden. Sogar die Pariser Nationalbibliothek und die Library of Congress in Washington wollen das Leipziger Know-how nutzen. Die Berliner Staatsbibliothek hat für die Spaltung der Bach-Handschriften eine eigene Werkstatt eingerichtet, in der von Hand gearbeitet wird – nicht weil es sicherer ist, sondern weil „ Bach in der Maschine“ von manchen Kritikern als Blasphemie aufgefaßt werden könnte. Jeder „Patient“ wird passend zur individuellen Diagnose behandelt. Pro Tag durchlaufen etwa zehn Blätter den mehrstufigen Prozeß, der von den zwei Mitarbeiterinnen, die zuvor an alten Büchern und Zeitungen geübt haben, hohe Konzentration erfordert: Zuerst wird Tiergelatine, die über Nacht aufgequollen wird, zum Kochen gebracht. In einer Anleimmaschine wird Trägerpapier mit der Gelatine beleimt und auf beide Seiten des Notenpapiers geklebt. Das muß extrem schnell geschehen, weil die Gelatine in Sekundenschnelle abbindet. Das Papier wird zwischen folienbeschichtete Holzpappen gelegt, um die Feuchtigkeit im Papier zu halten. Dieses Sandwich kommt in eine hydraulische Presse und wird bei 80 Bar 10 bis 15 Minuten gepreßt. In dieser Zeit dringt die Feuchtigkeit ins Papier ein und weicht es auf, während die Gelatine die Oberfläche des Papiers stabilisiert. Die Gelatine stoppt zudem die zerstörerischen chemischen Prozesse im Papier. Die Restauratoren setzen sich auf Hockern gegenüber und klemmen das Papier am überstehenden Trägerpapier zwischen die Knie. Dann ziehen sie von den Ecken her die beiden Trägerpapiere auseinander, wobei das Notenblatt im aufgeweichten Kern auseinanderfällt und Vorder- und Rückseite an den Trägerpapieren haften. Beim Auseinanderziehen zeigt sich die Stärke der Methode: Die Notation aus Bachs Feder bleibt auf der Vorderseite, während die braunen Verfärbungen mit der Rückseite abgezogen werden. Das gespaltene Original wird innen mit Methylzellulose beleimt, dann wird hauchdünnes, säurebeständiges Japanpapier hineingelegt. Das wiegt unter zehn Gramm pro Quadratmeter, ein Zehntel von normalem Schreibpapier, und enthält Kalziumbikarbonat als Säurepuffer. Dieses Kernpapier ist so dünn, daß es das Notenblatt kaum dicker oder steifer macht. In einer Presse wird das jetzt aus fünf Schichten bestehende Papiersandwich fünf Minuten lang bei 50 Bar verklebt. Nach einem Tag im Trockenraum kommen die Blätter in große Netztaschen, die in ein Edelstahlgitter sortiert werden. Dieser Container wird nacheinander jeweils rund 20 Minuten in drei Bäder getaucht: Das erste Becken enthält Wasser und das Enzym Korrolase bei rund 60 Grad Celsius. Das Enzym baut die Gelatine ab. Das zweite Becken enthält Wasser bei 70 Grad Celsius. Darin wird die Aktivität des Enzyms gestoppt. Im dritten Becken werden die Chemikalien mit 70 Grad Celsius heißem destilliertem Wasser herausgespült. Die dampfenden Blätter werden zwischen Filz gelegt und kurz in einer Presse mit 80 Bar entfeuchtet. Dann werden beide Trägerpapiere abgezogen. Überstehendes Kernpapier wird abgeschnitten. Fertig. Beim Papierspalten werde das Original zerstört, wenden Skeptiker ein, zu denen auch Robert Fuchs gehört. Dr. Antonius Jammers, Generaldirektor der Staatsbibliothek widerspricht: „Das Papier ist ja schon zerstört. Am Kölner Dom wird auch ständig gearbeitet, trotzdem bleibt es ein mittelalterlicher Bau.“ Nach der Restauration können Musikwissenschaftler mit den Notenblättern arbeiten wie gewohnt: Wasserzeichen zur Datierung der Komposition bleiben sichtbar, ebenso Bachs Arbeitsweise, zum Beispiel die Abfolge der Tintenschichten bei der Korrektur mißlungener Passagen – Details, die auf der existierenden Mikrofiche-Ausgabe nicht zu sehen sind. Um auf Nummer Sicher zu gehen, arbeitet die Staatsbibliothek seit Jahren mit Experten wie Prof. Gerhard Banik, Chemiker und Papierfachmann an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart. Ziel dieses Präludiums: Das Verfahren soll sich in 50 Jahren nicht wieder als tickende Zeitbombe entpuppen. So wurde darauf geachtet, daß der Leim zum Einkleben des Kernpapiers nur lösliche Bestandteile enthält. Das Kernpapier kann dadurch jederzeit wieder entfernt und der alte – beschädigte – Zustand rekonstruiert werden. Antonius Jammers: „Wir werden künftigen Generationen, sollten sie eine bessere Idee haben, den Weg nicht verbauen.“

Bernd Müller

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Lak|ka|se  〈f. 19; unz.; Biochem.〉 Enzym, das den gelben Saft des zur Familie der Wolfsmilchgewächse gehörenden Lackbaumes zu tiefschwarzem Japanlack oxidiert

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