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„Ohne Kritik gibt es keinen Fortschritt“

Allgemein

„Ohne Kritik gibt es keinen Fortschritt“
Der Bundespräsident fordert eine stärkere Diskussion über Chancen und Gefahren des technischen Fortschritts. Am 19. Oktober überreicht er in Hannover den Deutschen Zukunftspreis.

bild der wissenschaft: Sind Sie, Herr Bundespräsident, mit der öffentlichen Wirkung des Deutschen Zukunftspreises zufrieden?

Rau: Der Deutsche Zukunftspreis, der in diesem Jahr zum vierten Mal vergeben wird, hat zwei Ziele. Zum einen soll eine herausragende wissenschaftlich-technische Leistung öffentlich gewürdigt werden. Zum anderen möchte ich mit dem Deutschen Zukunftspreis über die Würdigung einer einzelnen Leistung hinaus das öffentliche Bewußtsein für die wachsende Bedeutung von Wissenschaft und Technik für Wirtschaft und Gesellschaft schärfen. Wissenschaft und Technik können in unserem Land auf breite Unterstützung bauen. Ich wünsche mir aber mehr inhaltliche Auseinandersetzung und eine breitere Diskussion darüber, wie wir die großen Chancen nutzen wollen, die der technische Fortschritt uns bringt, und wie wir unbestreitbare Gefahren vermeiden können. Der Deutsche Zukunftspreis hat in den vergangenen Jahren wachsende öffentliche Resonanz gefunden.

bdw: Was hat sich in den letzten Jahren aus Ihrer Sicht in der deutschen Forschungslandschaft verändert?

Rau: Der stärkste Einschnitt war die deutsche Einheit. Das hat in den fünf neuen Ländern zu schmerzhaften Entscheidungen geführt. Inzwischen ist dort aber eine Forschungslandschaft entstanden, die keinen Vergleich zu scheuen braucht. Eine andere wichtige Entwicklung sehe ich darin, daß heute die bedeutendsten Erkenntnisse aus wissenschaftlicher Arbeit entstehen, die die Fachgrenzen überschreitet. Immer mehr Fragestellungen lassen sich nicht mehr von einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen begreifen und lösen. Hier sehe ich großen Nachholbedarf. Die Diskussionen über die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung kenne ich aus meiner Zeit als Wissenschaftsminister. Doch diese Forderung gehört auch heute weit mehr zur wissenschaftlichen Rhetorik als zur wissenschaftlichen Praxis.

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bdw: Wie bewerten Sie das Verhältnis von Öffentlichkeit zu Wissenschaft?

RAU: Nach meinem Eindruck stehen heute die meisten Menschen Wissenschaft und Technik interessiert, aber auch mit weniger Illusionen gegenüber als früher. Die Hoffnung des alten Fortschrittsglaubens auf eine geradlinige Entwicklung zum immer Besseren ist durch konkrete Erfahrungen verlorengegangen. Dennoch erwarten die Menschen heute von Wissenschaft und Technik neue Erkenntnisse, die dazu beitragen, daß wir besser leben können. Was früher manchmal als Technikfeindlichkeit mißverstanden worden ist, zeigt sich als sehr differenzierte Bewertung unterschiedlicher Felder der Technik. Während eine Mehrheit der Menschen in Deutschland Kernenergie nicht für eine dauerhaft tragfähige Technik der Energieerzeugung hält, gibt es eine große Unterstützung für die verschiedenen Formen der Solartechnik und für das Nutzen der Bio- und Gentechnik zur Herstellung von Arzneimitteln, um nur zwei Beispiele zu nennen. Kritische Diskussionen über den Nutzen und die Grenzen technischer Innovationen sind für mich ganz selbstverständlich. Sie sind das Kennzeichen einer aufgeklärten Gesellschaft, ohne die es keinen technischen Fortschritt geben kann.

bdw: Geht die Forschung stark genug auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ein?

RAU: Die Wissenschaften sind ein wesentlicher Teil unseres Lebens. Sie sind gesellschaftlich und staatlich gewollt und ermöglicht. Aber sie sind nicht autonom, sie stehen im Kontext. Es ist unser aller gutes Recht und unser aller Pflicht, die nötigen Fragen zu stellen, sie öffentlich zu erörtern und überzeugende Antworten einzufordern. In unserer Zeit gehört es zu den Aufgaben der Wissenschaften, ihre Arbeit zu vermitteln, sie transparent zu machen. Das ist ein Gebot der Klugheit und eine Chance für uns alle. Das Wort vom Elfenbeinturm der Wissenschaft hat mit unserer heutigen Situation gewiß nichts mehr zu tun. Die Naturwissenschaften dürfen sich aber auch nicht ins Labor zurückziehen. Sie sollten den öffentlichen Dialog suchen, wo immer das möglich ist.

bdw: Welche Forderungen stellen Sie an Wissenschaft und Forschung konkret?

RAU: In der demokratischen Gesellschaft haben die Wissenschaften eine Bringschuld. Angesichts der historisch einmaligen Möglichkeiten, die der Erkenntnisgewinn der Naturwissenschaften mit sich bringt, wächst die Verantwortung der Politik. Sie hat eine doppelte Aufgabe: Sie muß dafür sorgen, daß Wissenschaft und Forschung nicht nur materiell unter günstigen Bedingungen stattfinden können. Sie muß zugleich dafür sorgen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt nicht in Widerspruch gerät zu universellen Moralvorstellungen. Die Naturwissenschaften sagen uns, was Menschen können. Die Geisteswissenschaften sagen uns, was Menschen sollen. Beides gehört zusammen. Darum liegt mir auch so viel an der Zusammenarbeit über die Grenzen der Fachdisziplinen hinweg.

bdw: Junge Forscher haben oft Schwierigkeiten, unkonventionelle Projekte angehen zu können. Fehlt uns die Offenheit für Neues, mangelt es der Wissenschaft an Risikobereitschaft?

RAU: Nach meinem Eindruck hat sich da vieles gebessert. Gewiß gibt es in den Forschungseinrichtungen innerhalb und außerhalb der Hochschulen noch viele bürokratische Regelungen und stark hierarchisch geprägte Abläufe, die dem Einfallsreichtum und dem Engagement junger Forscherinnen und Forscher unnötige Grenzen setzen. Junge Forscher brauchen bestmög- liche Unterstützung. Dazu gehören Freiräume, in denen sie ungestört und eigenverantwortlich arbeiten können.

bdw: Deutschlands Forschungsstätten sind für ausländische Wissenschaftler offenbar weniger attraktiv als früher. Was ist zu tun?

RAU: Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um die Attraktivität unserer Hochschulen und Forschungseinrichtungen für ausländische Interessenten zu steigern. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die Situation wirklich so dramatisch ist, wie es behauptet wird. Die Statistik zeigt jedenfalls, daß die Zahl der ausländischen Studierenden an unseren Hochschulen in den letzten zehn Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Auch von den Austauschorganisationen – etwa der Humboldt-Stiftung – höre ich, daß das Interesse an einem Forschungsaufenthalt in Deutschland nach wie vor ungebrochen ist. Damit Deutschland für ausländische Studierende noch attraktiver wird, müssen wir an mehreren Stellen ansetzen: Dazu gehören international attraktive Studienangebote und verbesserte Studienbedingungen an unseren Hochschulen, aber auch Verbesserungen im Ausländerrecht und im Aufenthaltsrecht; nützlich wäre sicher, wenn wir das Angebot und die Leistungen unserer Hochschulen stärker und besser im Ausland darstellten. Da kann ein bißchen mehr Selbstbewußtsein nicht schaden.

bdw: Der Zukunftspreis wurde 1997 zum ersten Mal ausgelobt, als man sich um die Zukunft Deutschlands finstere Gedanken machte. Inzwischen ist die Großwetterlage freundlicher. Wird sich die Zielsetzung für den Zukunftspreis deshalb ändern?

RAU: Nein. Ich sehe im Deutschen Zukunftspreis einen wichtigen Beitrag zum notwendigen Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Der Preis weist auf die Voraussetzung aller Innovationen hin: Auf Menschen mit praktischer Phantasie und kreativen Fähigkeiten. Davon können wir gar nicht genug haben. Darum ist es gut, daß wir mit dem Deutschen Zukunftspreis hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler öffentlich auszeichnen.

Wolfgang Hess / Reiner Korbmann / Johannes Rau

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