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Ohren und Adern auf Bestellung

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Ohren und Adern auf Bestellung
Mit neuen Werkstoffen wollen Bio-Ingenieure die Technologie medizinischer Implantate revolutionieren. Wo die Natur versagt, soll Technik Ersatz schaffen – vom bioaktiven Ersatz für verbrauchte Hüftgelenke über künstliche Blutgefäße, Speiseröhren und Ohrmuscheln bis hin zu komplett im Labor konstruierten Austauschorganen für Transplantationen. Ein Blick in die Zukunftswerkstatt der Bio-Ingenieure.

In Hollywood gehören sie zum Inventar: Mensch-Maschinen und Roboter, Androide und kybernetische Organismen. Ob Arnold Schwarzenegger als kugelfester „Terminator“ mit seinen Gegnern aufräumt oder Brent Spiner als „Commander Data“ im Raumschiff Enterprise mit den Leistungen seines positronischen Gehirns verblüfft – der Traum vom künstlichen Körper bringt die Kassen zum Klingeln und beflügelt die Phantasie der Zuschauer.

Visionen haben auch jene Forscher, die in den Labors der realen Welt Biomaterialien als Ersatz für die Natur entwickeln. Zwar sind diese neuen Werkstoffe bisher meilenweit entfernt von der funktionellen Perfektion ihrer natürlichen Vorbilder. Vom menschlichen Körper meist nur geduldet, können die Materialien zahlreiche Aufgaben komplexer Gewebe und Organe nicht übernehmen – noch nicht.

Diesem Mangel abzuhelfen, den Prothesen quasi Leben einzuhauchen – daran arbeitet derzeit eine Fachgrenzen überschreitende Koalition von Verfahrenstechnikern und Zellbiologen, Maschinenbauern, Ärzten und Chemikern. Gemeinsam testen sie die dritte Generation von Biomaterialien, um eine Brücke zwischen belebter und unbelebter Materie zu schlagen. Ein Beispiel ist die knochenähnliche Keramik Hydroxylapatit (HA).

Hydroxylapatit paßt sich an die biologische Umgebung an. Es dient nicht nur als passives Stütz- oder Füllmaterial, sondern greift nach Operationen aktiv in den Heilungsprozeß ein, erklärt Prof. Rudolf-Albrecht Venbrocks, Inhaber des Lehrstuhls für Orthopädie an der Universität Jena. Die Verbindung ist zwar nicht fest genug, um mit den lasttragenden Titan-Schäften mancher Hüftprothesen zu konkurrieren. Als Beschich-tung im Grenzbereich ist Hydroxylapatit jedoch hervorragend geeignet: Es hilft dem Knochen, mit der Prothese zu verwachsen und sorgt so für eine feste Bindung zwischen Implantat und Gewebe.

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Seit drei Jahren erprobt Venbrocks sogenannte Individualprothesen. Sie werden nach einem Abdruck gefräst und versprechen eine höhere Paßgenauigkeit gegenüber vorgefertigten Modellen. Innerhalb von 45 Minuten ist das Implantat einsatzbereit und – dank einer weltweit einzigartigen Plasmaspritzanlage – mit einer hauchdünnen Schicht aus Hydroxylapatit überzogen.

„Der Knochen muß glauben, er hätte Knochen umwachsen“, nennt Venbrocks das Ziel. Zwar kann der Professor die Überlegenheit seiner Methode noch nicht beweisen. Dafür hat er zu wenig Erfahrungen sammeln können. Aufgrund der bisher vorliegenden Befunde aus Tierversuchen kann der Patient jedoch auf eine verlängerte Lebenszeit seiner Prothese hoffen: Versuche mit Ratten zeigten, daß unbeschichtete Titan-Implantate an der Grenzfläche lediglich 60 Prozent Knochengewebe aufwiesen, mit Hydroxyl- apatit dagegen über 95 Prozent. Die daraus resultierende Verkürzung der Heilungszeit belegte inzwischen der Biokeramik-Pionier Larry Hench von der University of Florida in Alachua in mehreren klinischen Studien.

Auf der Suche nach einem Knochenersatzstoff entwickelte Hench bereits 1969 das „Bioglass“, ein Gemisch aus Siliziumdioxid, Soda, Kalziumoxid und Phosphat. Die glatte Oberfläche von Bioglass wandelt sich unter dem Einfluß der Gewebeflüssigkeit bereits eine Stunde nach der Implantation in eine von mikroskopisch kleinen Kratern übersäte Mondlandschaft. Wenig später füllen anorganische Ionen und Kollagenfasern die Krater. Nach sechs Stunden wandern Knochenzellen zum Ort des Geschehens und verankern das Implantat .

Der große Vorteil von Bioglass ist seine rasche und direkte Anbindung am Knochen. Sie erfolgt noch schneller als bei Hydroxylapatit – so das Resultat einer Studie, die Hironobu Oonishi, Direktor des Labors für Biomaterialien der Orthopädischen Abteilung am Nationalen Krankenhaus Osaka-Minami, kürzlich in der Fachzeitschrift Clinical Orthopedics and Related Research veröffentlichte: „Die Studie beweist, daß Bioglass Knochen innerhalb von zwei Wochen wiederherstellen kann. Andere synthetische Materialien brauchen dazu zwölf Wochen“, schwärmt James Meyers, Präsident der Herstellerfirma USBiomaterials Corporation. Er verschweigt dabei allerdings, daß Bioglass zwar Lücken füllen, aber bisher nur an wenig belasteten Stellen des Skeletts eingesetzt werden kann, weil es zu leicht bricht. Auch löst sich diese Keramik zuweilen noch unvorhergesehen auf. Bei Mittelohr-Implantaten hat das wiederholt zum totalen Funktionsverlust geführt.

Für Meyers Kollegen Buddy Ratner sind derartige Unzulänglichkeiten Ansporn, eine Generation neuer bioaktiver Prothesen zu entwickeln. Zellen des Körpers sollen die Prothesen besiedeln und den Heilungsprozeß auslösen. „Wir haben alle Voraussetzungen, um eine Revolution in der Technologie medizinischer Implantate einzuleiten“, erklärt der Direktor des Engineered Biomaterials Project der University of Washington (UWEB) in Seattle.

Für das auf elf Jahre angelegte Projekt hat die National Science Foundation zwölf Millionen Dollar bereitgestellt. Über 30 Firmen sind daran beteiligt, darunter große Konzerne wie 3M, Baxter Healthcare und Dow Corning.

Visionär Ratner hat den Bioingenieur der Zukunft vor Augen: Mit einer Kombination aus quantenmechanischen Berechnungen, Moleküldesign, Nanolithographie und Gentechnik kann er seine Materialien uneingeschränkt kontrollieren. „Diese Euphorie ist typisch für US-amerikanische Wissenschaftler und Unternehmer, die es gewohnt sind, um knappe Forschungsgelder und Risikokapital zu kämpfen“, relativiert Prof. Heinrich Planck, Leiter des Deutschen Zentrums für Biomaterialien und Organersatz in Denkendorf bei Stuttgart, die Erfolgsaussichten der Konkurrenten aus Übersee.

Das Kompetenzzentrum des gelernten Maschinenbauers und Feinmechanikers ist eines von vieren in Deutschland, die vom Forschungsministerium in den nächsten fünf Jahren insgesamt 16 Millionen Mark erhalten werden.

Danach sollen Forschungsaufträge aus der Industrie die Zentren finanzieren. Im Gegenzug sollen diese neue Implantat-Materialien und Know-how vor allem für mittelständische Unternehmen liefern.

Vom Hautersatz über Blutgefäße, Speiseröhren, Ohrmuscheln oder Nasenscheidewände bis hin zur künstlichen Leber und Bauchspeicheldrüse gibt es scheinbar kaum ein Forschungsgebiet, das Plancks Team nicht bearbeitet. „Nichts ist unmöglich, vom Material her ist alles machbar“, lautet das Credo von Planck und seinen Mitarbeitern im Institut für Textil- und Verfahrenstechnik (ITV).

Aus den Polymeren Polyglykolsäure und Polymilchsäure entstehen beispielsweise je nach Mischungsverhältnis und Reaktionsverlauf biologisch abbaubare Kunststoffe unterschiedlicher Lebensdauer. Sie sollen als Knochenstifte, Platten oder Nägel verwendet werden. Aus Polyurethan fertigen die Materialkundler künstliche Gefäße, Herzklappen und Katheter. Auch bei der Gestaltung von Oberflächen haben die ITV-Forscher reichlich Spielraum. Mal rauh, mal glatt, luft- und wasserdicht oder durchsetzt mit Poren unterschiedlicher Dichte und Größe – die Kombinationsmöglichkeiten sind schier unendlich.

Die Probleme stecken im Detail, wie Tierversuche mit einer künstlichen Luftröhre zeigten. Das Kunstprodukt soll einmal Unfallopfern oder Tumorkranken helfen, bei denen die Chirurgen bislang mit ihrem Latein am Ende waren. Die Prothese müßte wie ihr natürliches Vorbild mit Epithelzellen ausgekleidet sein. Sie könnten – von noch intakten Teilen der Luftröhre der Patienten isoliert – im Labor vermehrt und auf dem Kunstgewebe ausgesät werden. Bei der Besiedlung der aus modifiziertem Polyurethan, Teflon oder Gore-Tex geschaffenen Luftröhren konnten Planck und Ärzte der Berliner Charité nachweisen, daß sich auf mehreren Materialien einzellige Zellschichten, sogenannte Monolayer, bildeten.

Als jedoch komplette Prothesen Hunden oder Schweinen eingesetzt und durch einen Katheter mit Zellen beimpft wurden, zeigten sich die Unterschiede zum natürlichen Vorbild: Auf Gore-Tex bildeten sich keine Flimmerhärchen. Die sind aber notwendig, um Schleim und Fremdstoffe aus der Lunge zu transportieren. Auf Polyurethan entwickelte sich lediglich ein löchriger Rasen dahinsiechender Zellen.

Einen Schritt weiter ist das ITV-Team bei der Entwicklung einer Bauchspeicheldrüse aus Polyurethan, die eines Tages Zuckerkranken das Leben erleichtern soll. Der fingerlange Polyurethan-Schlauch basiert auf einem künstlichen Blutgefäß – und unterscheidet sich völlig von bisherigen Ansätzen, technische Blutzuckerpumpen in den Körper einzupflanzen (bild der wissenschaft 2/1994, „Weg von der Spritze“).

In die Wände des PolyurethanSchlauchs wurden kleine Hohlkammern eingearbeitet. Sie können durch eine Kanüle mit Insulin produzierenden Zellen gefüllt werden, die von Schweinen stammen. Unbehelligt vom Immunsystem des Menschen, aber wohlversorgt mit Sauerstoff, erspüren diese Zellen die Konzentration des Zuckers im Blut. Je nach Bedarf bilden sie das Blutzucker- regulierende Hormon Insulin.

Im Tierversuch haben die Schweinezellen der „biohybriden“ Bauchspeicheldrüse bereits sechs Monate durchgehalten. Eingepflanzt in die Unterarm-Arterie menschlicher Patienten könnte das Kunstorgan immer wieder neu mit Hormon-produzierenden Zellen betankt werden.

Während die meisten Kunstorgane und -gewebe gegenwärtig bestenfalls als Überbrückungshilfe dienen, haben sich Biomaterialien in der Orthopädie schon einen Stammplatz erobert. Als Platten, Drähte, Schrauben oder Nägel unterstützen sie den natürlichen Heilungsprozeß. Allein bei Verletzungen des Bewegungsapparates kommen solche temporären Implantate in Deutschland jährlich rund 300000mal zum Einsatz, schätzt Prof. Lutz Claes, Leiter des Kompetenzzentrums der Universität Ulm für Biomaterialien im Knochenkontakt.

Die Mitarbeiter des Zentrums stammen aus 13 verschiedenen Abteilungen der Universität. Sie wollen vorrangig biologisch abbaubare Implantate verbessern. Dadurch könnten vielen Patienten Zweitoperationen erspart bleiben, bei denen bisher Nägel, Schrauben und Platten wieder entfernt werden.

Für die Gratwanderung zwischen der nötigen Anfangsstabilität und einem parallel zum natürlichen Heilungsprozeß verlaufenden Abbau stehen Kunststoffe wie Polyglykolid (PGA), Polylactid (PLA) und Polydiaxanon (PDS) zur Verfügung. Variationen der Kettenlänge und die Kombination verschiedener Substanzen sollen zum Ideal führen: Zu jedem Zeitpunkt nach der Operation soll die Festigkeit von repariertem Knochen plus Implantat den Ausgangswerten des gesunden Knochens entsprechen.

Claes glaubt allerdings nicht, daß dieses Vorhaben allen Patienten zugute kommen kann. Zum einen scheint ein Material, das zum Zeitpunkt der Operation an die Stabilität von Metallen heranreicht und sich Monate oder Jahre später völlig auflöst, unerreichbar. Zum andern müßte das gewünschte Abbauverhalten je nach Patient, Art des Knochens und der Verletzung variieren. In jedem Fall müßte die ideale Mischung der Polymere erst in langen Versuchsreihen ermittelt werden, was gegen den routinemäßigen Einsatz in der Klinik spricht. Trotz aller ungeklärten Fragen spricht sich Claes dafür aus, biologisch abbaubare Implantate häufiger als bisher einzusetzen. „Selbst wenn es uns nur gelänge, den Anteil von derzeit fünf auf zehn Prozent zu verdoppeln, würde das schon Zigtausenden von Patienten eine zweite Operation ersparen.“

Da erscheint die Prognose der US-Forscher Robert Langer und Joseph Vacanti geradezu utopisch: „In den nächsten drei Jahrzehnten wird die Medizin die Transplantationsphase überwinden“, behaupten Langer, Bio-Ingenieur am Massachussetts Institute of Technology, und Vacanti, Chirurg an der Harvard Medical School in Boston. „Wir werden dazu übergehen, Organe künstlich herzustellen“, versprechen die beiden, die sich zur ersten Garde der Gewebeingenieure zählen.

Die Visionäre wollen Zellen auf „bioaktiven“ Materialien aussäen, um eines Tages vollständige Organe ernten zu können. Mit den richtigen Startbedingungen versorgt, würden die Zellen die subtilen Detailarbeiten beim Aufbau dreidimensionaler Gewebe verrichten. Bilder ihres ersten Versuchs sorgten im letzten Jahr für Schlagzeilen: Sie hatten auf dem Rücken einer Maus ein komplettes menschliches Ohr wachsen lassen.

„Der Chirurg“, prophezeien die Mediziner, „ist künftig nur noch der Konzertmeister, der die Verbindung zwischen dem künstlichen Organ und dem Körper des Patienten herstellt.“

Michael Simm

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