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Paul Saffo, das Orakel von Menlo Park

Allgemein

Paul Saffo, das Orakel von Menlo Park
Wie ein gelernter Jurist Chefprognostiker wurde. Das „Institute for the Future“ in Kalifornien schaut für Unternehmen in die Zukunft. Offenbar mit Erfolg. Der Direktor ist der Ansicht, mit seinem Institut weltweit einmalig zu sein und behauptet, bei den Prognosen nur selten danebengelegen zu haben.

Wir tragen weder silberne Anzüge, noch schweben wir durch Anti- Gravitations-Räume“, erklärt Paul Saffo. „Die meisten Leute sind enttäuscht, wenn sie uns das erste Mal besuchen.“ Denn „ Institute for the Future“ klingt nach einer Mischung aus NASA-Space-Center und 007-Technik-Labor, „Zukunftsforscher“ nach schrägen Typen im Jean-Paul-Gautier-Look.

Doch Paul Saffo, der Direktor, seine Mitarbeiter und auch das Institut im kalifornischen Menlo Park fallen optisch kaum auf in der schnöden Einöde kalifornischer Business-Parks, die sich in Amerikas High-Tech-Zentrum Silicon Valley aneinanderreihen. Das schmucklose Gebäude mit dem hochtrabenden Namen beherbergt normale Büroräume, in denen sich 30 Angestellte im Week-end-Style bewegen. Anzug und Schlips, geschweige denn Glitzerkostüm, trägt hier niemand, nicht einmal der Direktor.

Der prominente Oberprophet ist alles andere als auffällig: mittleres Alter, mittelgroß, weder dick noch dünn, verheiratet, ein Hund. Saffos Haarpracht beschränkt sich auf Halbglatze, buschige Augenbrauen und Schnauzbart. Sein rundes Gesicht mit den hellblauen, leicht engstehenden Mandelaugen macht ihn auf Anhieb sympathisch. Er wirkt wie der nette Kumpel von nebenan, offen und herzlich. Große Ruhe und Gelassenheit strahlt er aus, was für seinen Job sicherlich hilfreich ist. Bereits 15 Jahre schaut der Langzeit-Denker inzwischen in die Zukunft.

Saffos Tag beginnt um 4 Uhr morgens mit Telefonkonferenzen nach Europa, dann folgen Projektbesprechungen, Kundenmeetings und Firmenbesuche, abends Vorträge oder Interviews. Die Prognosen erstellt er meist in seinem Haus in der Nähe von San Francisco.

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Seine Arbeiten sind gefragt bei über 100 Kunden weltweit, von AT&T, Blue Cross, Coca-Cola über Mattel und Netscape bis Volvo und der Weltbank. Darunter sind auch deutsche Firmen wie Siemens, Bayer oder die Deutsche Telekom.

Die futuristischen Gedanken verbreitet Saffo auch in der Öffentlichkeit. Er schreibt Bücher über Amerikas technologische Zukunft und greift regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften zur Feder, so für Amerikas Techno-Fibel Nr. 1 – das Wired-Magazine – in dem er Kolumnist ist. Saffos analytischer Weitblick ist bekannt – und anerkannt: 1997 wurde er vom Weltwirtschaftsforum in Cologny bei Genf zu einem der 100 globalen Führer von morgen gewählt, „weil er mit seiner Arbeit einen so positiven Einfluß auf internationale Firmen hat“.

Als Futurologe will sich der 45jährige Jurist dennoch nicht angeredet hören: „Ich bin Vorhersager. Ich beobachte und beschreibe, welche Möglichkeiten sich ereignen können.“ Wer von Saffo seine künftigen Möglichkeiten erfahren möchte, muß sich für 60000 bis 100000 Dollar im Jahr in einen Infopool einkaufen. Neue Firmen werden in schon bestehende Interessengruppen eingegliedert, bei denen die Teilnehmer ähnliche Fragen beantwortet haben möchten. Etwa: Wie und wann bringt man ein Produkt auf den Markt? Oder: Welche Zukunftstechnologien braucht ein bestimmtes Unternehmen tatsächlich?

Natürlich erstellt das Institute for the Future auch individuelle Studien. So fertigte Saffo für die US-Prägestelle eine Vorhersage über die langfristige Geldversorgung in Amerika. Für die US-Airforce entwickelte Saffo eine 50-Jahres-Prognose über Veränderungen in der Militär-Technik. Andere Arbeiten beschäftigen sich mit der Zukunft der Post, dem Gesundheitswesen oder der von neuen Lebensmitteln. Solche Arbeiten kosten in der Regel 1,5 bis 2 Millionen Dollar, und werden – wie alle anderen Prognose-Projekte – streng kostendekkend finanziert. So schafft es das Institute for the Future stets, Firmen zu finden, die die Projekte sponsern und als Ge-genwert exklusive Ergebnisse erhalten. „Gemeinnützigkeit entspricht unserer Philosophie“, erklärt Saffo, „denn wir wollen möglichst viele Firmen dazu ermuntern, sich Gedanken um ihre langfristige Planung zu machen.“

Auch am Institut wird gemeinsam in die Zukunft geschaut. Ein Projektteam fertigt für die Kunden einen strategischen Fahrplan für die nächsten 10 bis 30, oder sogar 50 Jahre. Wie gelingt so eine Prognose? „In die Kristallkugel brauchen wir dazu nicht zu schauen“, versichert Saffo mit augen-zwinkerndem Blick auf seinen runden, gläsernen Briefbeschwerer. „Wir benutzen wissenschaftliche Methoden – Statistik oder Marktforschungstechniken –, vor allem aber unseren gesunden Menschenverstand.“

Saffo erzählt, daß er bei seinem „Abwägen der Möglichkeiten“ auf Dinge schaut, die aus dem Rahmen fallen. So wurden 1996 in Los Angeles aus Autos erstmals mehr Airbags – und damit Sensoren – gestohlen als Radios oder Han- dys. Saffo wertete diese Beschaffung von Sensoren als Indiz, daß der Markt für solche Produkte stark anwachsen wird.

„Ich beobachte und ziehe daraus meistens die richtigen Schlußfolgerungen“, charakterisiert Paul Saffo seine Arbeit. Als weiteres Beispiel für seinen Riecher führt er eine Situation Ende der achtziger Jahre an. Damals waren sich innerhalb der Informationstechnologie fast alle Experten einig, daß das Internet nur etwas für Freaks sei und nie den Zugang der Massen finden werde. Anders Saffo. Schon da entwickelte er, der bereits seit 1982 per E-Mail erreichbar ist, für seine Klientel Strategien, wie man das Internet für die Öffentlichkeit interessant macht. Beispiel: Elektronischer Handel. Lange bevor Amazon.com auf die Idee kam, Bücher online zu verkaufen, bekamen Saffos Kunden gesagt, welche interessanten Perspektiven sich mit E-Commerce realisieren lassen.

Selbstbewußt weist der Meister daraufhin, daß er sich bei seinen Prognosen „nur sehr selten“ zu irren pflegt. Allein Saffos Auswahl an mißlungenen Prognosen zeigt, wie erfolgreich er sich fühlt: So habe er dem sogenannten Hand-held-PC bereits 1995 den Marktauftritt vorhergesagt, wirklich eingeschlagen habe der aber erst 1997. Auch den virtuellen Räumen im Internet, den Multi User Dimensions, habe er mehr Bedeutung zugetraut als das heute der Fall ist.

Der gebürtige Kalifornier interessierte sich schon während der Schule für Technik und Juristerei. Später schrieb er sich für Jura ein und studierte gleichzeitig Informatik, Wissenschaftsgeschichte und Anthropologie. Als 26jähriger beendete er das Jura-Studium in Harvard und Stanford mit höchsten Auszeichnungen, was ihm den Sprung in eine renommierte New Yorker Anwaltskanzlei ermöglichte. „Gleich am ersten Tag wußte ich, daß dies nicht der richtige Job für mich ist“, bekennt Saffo heute – und fügt lachend hinzu: „Das war meine erste Lektion im Vorhersagen.“ Doch erst nach drei Jahren warf er wirklich das Handtuch, zog zurück nach Kalifornien, gönnte sich ein Forschungsjahr in Stanford, wo er sich mit der Evolution von Computern beschäftigte. Während dieser Zeit knüpfte der junge Anwalt erste Kontakte zum Zukunftsinstitut, das damals schon seit 15 Jahren bestand. 1984 heuerte er dort als „Gastwissenschaftler“ an – und blieb nach Abschluß seiner Forschungen einfach am Institute for the Future.

Von seinen Studien über die Entwicklung der Technik profitiert Saffo bis heute: „Das ist mein Handwerkszeug“. Saffo sieht sich als Historiker, der sich mit Technologien beschäftigt, die noch nicht vorhanden sind: „Es ist einfacher zu verstehen, was wohl als nächstes kommt, wenn man weiß, was es schon alles gibt.“ Saffo springt von seinem Bürostuhl auf und greift in ein Regal, in dem drei Dutzend Techno-Artefakte der letzten Jahrzehnte ausgestellt sind: Telefone, Fernbedienungen, Kleincomputer drängen sich zwischen Strahlungsmesser, Abakus und Flugzeug-Steuerknüppel. Der „Vorhersager“ fischt aus seiner kleinen Sammlung drei Geräte heraus: Den ersten Business-Laptop Baujahr 85 – ein vier Kilo schwerer schwarzer Kasten. Den allerersten Hand-held-Computer aus dem Jahr 1992 – ein buchgroßer Klotz mit Henkeln, den man nur mit beiden Händen halten kann. Und einen der neuesten Hand-held-PC – flach und leicht, kaum größer als eine Spielkarte.

Die evolutionäre Entwicklung dieser drei Teile liegt im wahrsten Sinne des Wortes auf der Hand. Ausmaße und Gewicht der elektronischen Kompagnons werden immer kleiner und scheinen an einem Punkt angekommen zu sein, an dem es nichts mehr zu mäkeln gibt. „Falsch“, sagt Saffo. „Noch immer ist es äußerst kompliziert, Daten von dem Kleinrechner auf einen großen Computer zu übertragen.“ Man braucht dafür ein Extra-Gerät – und Zeit. Saffo prophezeit: „Man wird also an Hand-held-PC arbeiten, die sich automatisch mit dem Homecomputer vernetzen. Die beiden Geräte erkennen einander und tauschen selbständig Informationen aus.“

Als weitere Folge der zunehmenden Vernetzung sieht Saffo den Handel per Handy. „In den nächsten Jahren werden die ersten Handys mit eingebautem Global Positioning System (GPS) auf den Markt kommen. Wenn Sie um 17 Uhr 30 auf einer Straße in San Francisco entlanggehen und Ihr Handy tschirpt, könnte auf dem Display ein elektronischer Coupon für ein verbilligtes Abendessen aufleuchten. Auftraggeber ist das Restaurant, auf das Sie gerade direkt zulaufen.“

Ab etwa 2015 wird es laut Saffo nicht mehr Silizium sein, worauf die Computertechnik basiert. Die Kapazität dieses Materials sei bis dahin ausgereizt. „An dessen Stelle treten dann Biochips oder Photonen.“ Ungeachtet dieser Entwicklung sieht er eine neue technologische Revolution voraus: „Ungefähr alle 30 Jahre taucht eine wissenschaftliche Disziplin auf, die den Fortschritt der Menschheit ungemein beschleunigt“: Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts bestimmte die Chemie, das zweite Drittel die Physik, und das letzte die Informationstechnologie, die mit dem Bau des Transistors begann.

Die nächsten 30 Jahre sieht Vorhersager Saffo von der Biologie geprägt: „Das menschliche Genom-Projekt wird ein Echo haben, das bis weit ins nächste Jahrhundert reicht.“ Saffo ist sicher, daß in 20 Jahren bei Neugeborenen eine komplette Erbgut-Analyse erstellt wird, deren Ergebnisse allen Ärzten zugänglich sein werden. Parallel dazu prognostiziert der 45jährige eine gentechnologisch ausgerichtete Medikamenten-Revolution, die vergleichbar sei mit den Erfolgen der Antibiotika in den fünfziger Jahren. Auch lebensverlängernde Genspritzen hält er für möglich. Daß solche Visionen bei vielen Menschen Unbehagen auslösen, akzeptiert Saffo: „Keine Frage, Technologie schürt Ängste, da muß man noch nicht mal Genspritzen verabreichen, es reicht schon das Stichwort Jahrtausendwechsel im Computer.“

So viel Paul Saffo über die Zukunft auch weiß, wenn es um seine eigene geht, wird er wortkarg: „Ein Anwalt ist sich selbst der schlechteste Berater“, meint der Mann, sagt dann aber doch noch einen Satz über sich selbst: „Ich liebe meinen Beruf und möchte die Möglichkeit nicht ausschließen, ihn noch sehr lange auszuüben.“

Désirée Karge / Paul Saffo

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