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Provokation aus dem Labor

Allgemein

Provokation aus dem Labor
Gen-Forscher werfen den Neandertaler aus unserem Stammbaum. Aufgrund von Erbsubstanz-Resten in einem Fossil folgern Münchner Genetiker: Der Neandertaler ist nur ganz entfernt mit dem modernen Menschen verwandt. Experten für den grobknochigen Eiszeitler sind fassungslos. Ist dieser Gen-Analyse zu trauen?

Die Frage aller Fragen“, schrieb Thomas H. Huxley vor fast 130 Jahren in der ersten Ausgabe des Wissenschaftsfachblatts Nature, „ist die nach dem Platz des Menschen in der Natur. Woher kommen wir, wohin gehen wir?“

Der britische Naturforscher bezog sich auf eine Diskussion, die seit 1856 die Wissenschaftler in zwei Lager teilte: Waren die 16 Knochen, die Steinbrucharbeiter im Neandertal bei Düsseldorf gefunden hatten, Reste eines „fossilen Menschen“? Und wenn ja: Gehörte diese Menschenart zu unseren Vorfahren?

Frage Nummer eins entschied sich bereits 1886: In einer Höhle beim belgischen Ort Spy wurden zwei weitere Skelette mit massiven Knochen und starken Überaugenwülsten entdeckt. Da primitive Steinwerkzeuge und Knochen ausgestorbener Tiere in der Nähe lagen, mußte „Homo neanderthalensis“ ein archaischer Menschentyp sein.

Frage Nummer zwei blieb über 140 Jahre lang heftig umstritten, aber mangels Beweisen offen – bis im Juli 1997 ein Artikel im amerikanischen Fachblatt „Cell“ für gewaltige Aufregung sorgte.

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Ausgerechnet aus den Knochen des ersten Fundes im Neandertal hatten die Münchner Forscher Matthias Krings und Prof. Svante Pääbo winzige Bruchstücke von Erbgut (DNA) isoliert. Diese Fragmente zeigten, so das Fazit der „Paläogenetiker“: Die Abstammungslinien des modernen Menschen und des Neandertalers trennten sich bereits vor rund 600000 Jahren.

Damit ist der Neandertaler auf eine Seitenlinie abgeschoben, die parallel zur Ahnenreihe des modernen Menschen existierte und vor 30000 Jahren endete. Also: Rätsel gelöst, Ende gut – alles gut?

Mitnichten. Jetzt herrscht Eiszeit zwischen Genetikern und Neandertaler-Spezialisten aus der anthropologischen und archäologischen Ecke. Mal frostig, mal gelassen ziehen sich Erforscher und Fans des eiszeitlichen Überlebenskünstlers auf die Position zurück: Meßt doch, was ihr wollt – wir ignorieren es.

„Phantastische Leistung“, gratuliert beispielsweise der weltweit renommierte Anthropologe Prof. Milford Wolpoff aus Michigan den Münchnern. Und fügt hinzu: „Aber ich glaube es trotzdem nicht.“

„Ich kann mich zu den genetischen Ergebnissen fachlich nicht äußern, aber archäologisch sind sie vollkommen unmöglich“, urteilt Prof. Gerhard Bosinski. Er ist Fachmann für den Neandertaler und Leiter des Neuwieder Museums für die Archäologie des Eiszeitalters.

Was die Wissenschaftler so schokkiert, ist die vermeintliche Herabwürdigung eines jahrzehntelang Rufgeschädigten. Anfänglich für eine Art Tiermensch gehalten, hatte der Neandertaler jüngst endlich den Ruf eines tumben Toren abgestreift.

Wie Homo sapiens fertigte auch der grobknochige Eiszeitler ausgezeichnete Werkzeuge, Waffen und Hütten, kümmerte sich um verletzte Artgenossen und bestattete seine Toten mit Grabbeigaben. Wie kann er da lediglich entfernt verwandt sein? fragen die düpierten Anthropologen. „Er stand uns nahe“ zieht sich als didaktische Botschaft durch das „Neanderthal-Museum“ nahe Düsseldorf, mit 17,5 Millionen Mark Spendengeld erbaut und 1996 eröffnet.

Bevor die Paläogenetiker ihre Bombe platzen ließen, wollte Bosinski sogar beide Menschentypen in einer einzigen Art zusammenfassen. Jetzt sagt er: „Wenn sich das Resultat der Genetiker in weiteren Messungen – bei anderen Neandertalern und auch bei Homo-sapiens-Fossilien – bestätigen sollte, müssen wir es wohl akzeptieren. Aber vorerst können wir nur den Kopf schütteln und mit unserer Arbeit weitermachen.“

Haben die Münchner korrekt gemessen? Unter Molekulargenetikern ist die Sorgfalt von Pääbos Arbeitsgruppe unumstritten. So wurde von dieser Seite bislang kein Widerspruch laut. „Wir sind wohl selbst unsere schärfsten Kritiker“, schmunzelt Krings, als er erzählt, wie viele Tests und Überprüfungen sie unternahmen.

Erbmaterial aus Knochen zu extrahieren, die viele 10 000 Jahre alt sind, ist keine leichte Aufgabe. Nach dem Tod zerbricht die DNA in den sich zersetzenden Körperzellen in immer kleinere Stücke (bild der wissenschaft 10/1996, „Das Erbe des Neandertalers“). „Um überhaupt eine Chance zu haben, braucht man kühl gelagerte, unbeschädigte, massive Knochen“, sagt Matthias Krings.

Auch in dieser Hinsicht war der 1856 im Neandertal geborgene Fund ein Glückstreffer. Die Knochen stammten aus den Ablagerungen einer kleinen, kalkhaltigen Höhle, was sie kühl gehalten und vor zersetzenden Stoffen weitgehend geschützt hatte. Nach der Bergung hatten Restauratoren sie mit einem konservierenden Lack überzogen. Zudem war der linke Arm des Neandertalermannes gebrochen und zeitlebens wohl ziemlich unbeweglich.

Der Mann mußte deshalb alle schweren Arbeiten mit dem rechten Arm erledigen, was das Knochengewebe dort verfestigte und die innenliegenden Zellen fest einschloß.

„Aus diesen Gründen war von den über 300 Neandertaler-Funden in Europa und Vorderasien gerade der namengebende optimal für eine Analyse geeignet“, erklärt Dr. Ralf Schmitz, Urgeschichtler am Rheinischen Amt für Bodendenkmalpflege in Bonn. Zusammen mit Gerichtsmedizinern, Pathologen, Präparatoren, Datierungsspezialisten, Anthropologen und Genetikern startete er 1991 ein Projekt des Rheinischen Landesmuseums Bonn zur Neuuntersuchung des Skelett-Schatzes. Fünf Jahre Überzeugungsarbeit, Gutachten, Röntgen- und Mikroskopaufnahmen gingen dem Wagnis voran, die unersetzlichen Fossilien anzutasten.

Im Sommer 1996 setzte die Präparatorin Heike Krainitzki schließlich die Säge an. „Das war ein Gefühl, als ob wir Stücke aus der Mona Lisa herausschneiden würden“, erinnert sich Schmitz. In zwei Tagen schweißtreibender Arbeit entnahm Heike Krainitzki acht Halbscheiben zwischen 0,8 und 3,5 Gramm Gewicht aus dem Oberarm, den Ellen, den Oberschenkeln und einer Rippe.

Sieben Proben erhielt der Göttinger Pathologe und Urgeschichtler Prof. Michael Schultz, um sie im Dünnschliff unter dem Mikroskop zu untersuchen. Mit gewebekundlichen Studien will er beispielsweise herausfinden: Litt der Mann aus dem Neandertal an Vitamin-C-Mangel? In welchem Lebensalter wurde er verletzt? Wie gut war er ernährt – stand er öfters kurz vor dem Verhungern?

Auf diese Weise will Schultz eine individuelle Biographie des Urmenschen erstellen und sie mit der von anderen Neandertalern und unseren eigenen Vorfahren vergleichen. Möglicherweise läßt sich so klären, warum die Neandertaler ausstarben.

Eine der Theorien besagt, daß sie anfällig für Krankheiten gewesen seien, eine andere, daß ihre Kindersterblichkeit besonders hoch war. Vielleicht scheiterten sie auch nur an ihrer optimalen Anpassung an die Eiszeiten: Stämmig und muskulös, wie sie waren, brauchten sie wahrscheinlich eine größere Portion Fleisch und Fett zur Kalorienzufuhr als der grazilere Menschentyp des Homo sapiens, der in den wärmeren Zwischeneiszeiten zuwanderte und zum Nahrungskonkurrenten wurde.

Um so interessanter ist die Frage, ob sich beide miteinander fortpflanzten und ob die neandertaliden Merkmale vielleicht deshalb im Lauf der Zeit verschwanden. So landete die achte Knochenscheibe – vom rechten Oberarm des Mannes aus dem Neandertal – im Reinraum der Paläogenetiker an der Universität München. Nur 0,4 Gramm aus einer 3,5 Gramm schweren Probe des Oberarmknochens brauchte Matthias Krings für die Gen-Analyse. Mit chemischen Lösungsmitteln und Zentrifugen extrahierte er winzige Mengen an Erbgut. „Ich konzentrierte mich auf DNA-Abschnitte aus den Mitochondrien, den Energiezentralen der Zellen“, erzählt der Forscher.

Der Grund: Jede Zelle besitzt einige tausend Mitochondrien. So ist es wesentlich wahrscheinlicher, ein Stück Mitochondrien-DNA zu finden als eines aus dem Zellkern, der nur einmal vorhanden ist. „Dennoch hatte ich am Schluß nur einige Dutzend Moleküle des gesuchten Erbgut-Abschnitts in meinem Extrakt“, berichtet Krings.

Doch die genügten ihm. Mit einer speziellen Methode der Genetiker – der Polymerase-Kettenreaktion – vervielfältigte er die Einzelstücke so lange, bis die Menge für eine chemische Analyse ausreichte. Dann bestimmte er die Abfolge der vier Nukleobasen A, C, G und T, aus denen sich das Erbgut eines jeden Lebewesens aufbaut. Da sich die Reihenfolge dieser vier „Buchstaben“ im Lauf der Evolution durch zufällige Mutationen ändert, lassen sich mit ihr Verwandtschaftsverhältnisse feststellen: An je mehr Stellen sich die DNA zweier Lebewesen unterscheidet, desto ferner ist ein gemeinsamer Vorfahre.

Krings untersuchte eine sogenannte hypervariable Region der Mitochondrien-DNA mit 379 Basen – nicht mehr als 0,00001 Prozent des menschlichen Erbguts – und verglich sie mit der entsprechenden Sequenz von knapp 1000 Menschen aus aller Welt. Das Ergebnis war sensationell:

„Alle heutigen Menschen – egal, ob aus Afrika, Europa, Australien oder Amerika – unterscheiden sich untereinander um durchschnittlich acht Basen. Der DNA-Abschnitt aus dem Neandertalerknochen dagegen differiert an 27 Stellen von dem unsrigen.“ Damit liegt die Neandertaler-DNA genau in der Mitte zwischen dem Homo sapiens und dem Schimpansen – der besitzt an 55 Stellen andere Buchstaben als der moderne Mensch.

Nach heutigem Wissen trennten sich die Entwicklungslinien von Mensch und Schimpanse vor etwa vier bis fünf Millionen Jahren. Krings‘ Resultat bedeutet nicht, daß Mensch und Neandertaler vor genau der Hälfte dieser Zeitspanne, also vor gut zwei Millionen Jahren, verschiedene Wege eingeschlagen hätten: „Man muß zahlreiche Korrekturen anbringen, da die DNA-Positionen unterschiedlich schnell mutieren und auch ein Mehrfachaustausch möglich ist“, sagt er. „So kommen wir auf einen gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Neandertaler, der vor 550000 bis 690000 Jahren existiert haben muß.“

Um sicherzugehen, schickten Krings und sein Doktorvater Svante Pääbo ein weiteres Stück der Knochenprobe an ein unabhängiges Labor der Pennsylvania State University. Als deren Analysen das Ergebnis bestätigten, war der Weg frei für die wissenschaftliche Publikation.

Nach den Untersuchungen hatten die Forscher zwei Gramm Knochensubstanz übrig. Damit kreist Krings zur Zeit den genauen Gabelungszeitpunkt der Stammbaumzweige ein: Er isoliert ein Gen, das die Bauanleitung für ein Eiweißmolekül trägt. Da es aus über 1100 Basen besteht, ermöglicht es eine präzisere Zeitbestimmung als die zuerst verwendeten 379.

Was die Deutung ihrer Resultate betrifft – etwa in punkto Vermischung -, mahnen Krings und Pääbo selbst zur Vorsicht. „Aus 27 unterschiedlichen Basen können wir nicht schließen, daß die beiden prinzipiell keine Kinder zeugen konnten“, sagt Krings. „Was wir aber mit größter Wahrscheinlichkeit sagen können, ist: Der Neandertaler hat nicht zum heutigen menschlichen Genpool beigetragen.“

Das mag spitzfindig klingen. Aber zu dem einfachen Befund können komplexe Szenarien geführt haben: Szenario eins: Es könnte nach dem Gabelungspunkt beider Entwicklungslinien vor 600000 Jahren zunächst Nachkommen gegeben haben. Die könnten ausgestorben sein, ohne Spuren in unserem Erbgut zu hinterlassen. Angesichts der Seltenheit menschlicher Fossilfunde wurden möglicherweise nur aus purem Zufall noch keine Relikte der Mischlinge gefunden. Szenario zwei: Vielleicht verhielt es sich mit Mensch und Neandertaler wie mit Pferd und Esel: Fortpflanzungsfähig, aber nur in der ersten Generation. Männliche Maulesel sind unfruchtbar – möglicherweise waren es auch die Kinder von Mensch und Neandertaler.

Macht dies den glücklosen Eiszeitler für die Forschung weniger interessant? „Ganz im Gegenteil“, argumentiert Ralf Schmitz. „Da sich der Neandertaler kulturell so wenig von uns unterschied, ist die Frage um so wichtiger, warum er ausstarb.“ Daraus, so der Urgeschichtler, ließe sich sicher eine Menge für unser eigenes Überleben lernen.

„Auch Dinosaurier“, fügt Schmitz hinzu, „sind schließlich nicht unsere Vorfahren. Und dennoch begeistert sich jedes Kind für sie.“

Ulrich Eberl

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