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Raketen statt Küchen

Allgemein

Raketen statt Küchen
Prestigeträchtige Erfolge im Weltraum sollten vom ärmlichen Lebensstandard der russischen Bevölkerung ablenken. Welche Rolle die bemannte Raumfahrt dabei spielte, beleuchtet die amerikanische Historikerin Cathleen Lewis. Cathleen Lewis ist Historikerin und Kuratorin am renommierten Smithsonian National Air and Space Museum in Washington, DC. Die jährlich bis zu 10 Millionen Besucher dort begeistert die Spezialistin für die Geschichte der russischen Raumfahrt seit 25 Jahren mit wechselnden Ausstellungen. Fast 100 Memorabilien aus der russischen Raumfahrt-Ära hat Cathleen Lewis (Jahrgang 1958) unter ihren Fittichen – von einem unscheinbaren Schlüssel zu Sputnik und einem Trainingsanzug von Juri Gagarin bis hin zur riesigen Apollo-Sojus-Raumkapsel.

bild der wissenschaft: „Die Russen können nicht mal Kühlschränke bauen, aber sie schicken einen Satelliten ins All” – meinte ein US-Reporter, als im Oktober 1957 Sputnik die Erde umkreiste und damit den Wettlauf zum Mond einläutete. Hatten die Amerikaner den Startschuss überhört?

Cathleen Lewis: Die Öffentlichkeit empfand das so. Dabei hat damals hier in den USA sowohl die Armee als auch die Marine an dem Projekt gearbeitet: Sie wollten ein System schaffen, mit dem nukleare Waffen verschossen werden konnten. Wir waren wirklich nicht sehr weit hinterher.

Mit der Gründung der NASA nur ein Jahr später im Oktober 1958 demonstrierte die USA dann deutlich, dass sie bei der Eroberung des Weltraums mitmachen wollte. Was gab es für Ziele und inwiefern waren diese anders als in der UdSSR?

Es gab dabei zwei Ansätze: eine militärische Seite – es sollten Interkontinentalraketen entwickelt werden – und die Umsetzung des lang gehegten Menschheitstraums von der bemannten Raumfahrt. In Amerika waren diese beiden Ansätze getrennt, auch in den Institutionen. Die militärische Komponente ist bis zum heutigen Tag geheim. Die öffentliche Seite der Raumflüge repräsentierte die NASA. In der Sowjetunion war das Raumfahrt- programm hingegen nur ein Nebenprodukt eines sehr einseitig ausgerichteten Militärprogramms.

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Am 12. April 1961 schrieb Juri Gagarin Weltgeschichte – als erster Mann im All. Was bedeutete dieser 90-Minuten-Flug für die Menschen in seiner Heimat?

Das war eine sehr sensible Zeit in der Geschichte der Sowjetunion. Das Land musste sich immer noch wirtschaftlich vom Zweiten Weltkrieg und von der Entstalinisierung erholen. Und dann war da plötzlich Juri Gagarin, der das tat, was die USA nicht konnte – und die USA war für die damalige UdSSR eine Supermacht. Sein Flug war das positiv herausragende Ereignis in der Geschichte der Sowjetunion schlechthin seit dem Zweiten Weltkrieg.

Wie hat man in der damaligen Sowjetunion auf Juri Gagarins Flug reagiert?

Es gab spontane Feiern. Menschenmassen versammelten sich auf dem Roten Platz, um Juri Gagarin zu begrüßen, als er nur zwei Tage später, am 14. April 1961, in Moskau eintraf. Es war die erste öffentliche Feier nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Russen waren sehr aufgeregt. Sie waren die Ersten! Und diese Stimmung, dieses Gefühl existiert bis heute. Juri Gagarins Flug steht für das großen Potenzial, das in der Sowjetunion steckt.

Juri Gagarin war also ein Volksheld?

Absolut! Und er ist es immer noch. Die Stadt, in der Gagarin geboren wurde, ist nach ihm umbenannt worden, und alle Straßen, die damals seinen Namen bekamen, tragen ihn bis heute. Nach dem Fall der Sowjetunion wurden viele Denkmäler abgebaut – nicht aber die von Gagarin, obwohl er eine Ikone der damaligen Sowjetunion war.

Wurden in der Sowjetunion Konsumgüter entwickelt, die mit dem Thema „Raumfahrt” zu tun hatten?

Es gab Versuche, insbesondere unter Nikita Chruschtschow, so etwas zu tun, aber das war nicht sehr erfolgreich. Es gab eine Ausstellung von amerikanischen Konsumgütern in Moskau 1959. Das war auch der Ort, an dem die berühmte Küchen- Debatte zwischen Richard Nixon und Chruschtschow stattfand: Chruschtschows Argument war, dass man zwar durchaus Küchen bauen könnte – er aber würde Raketen herstellen.

Es gab also keine Münzen, Poster, Bleistifte oder T-Shirts mit Raketen oder dem Sputnik drauf?

Nein. Und es gab auch kaum Bemühungen, Menschen zum Sammeln bestimmter Sachen anzuregen. Als Erstes kamen Briefmarken heraus, später hatte man Anstecknadeln aus Emaille, die „Znachki”, die zu Tausch- und Sammelobjekten wurden. Sie waren erstmals im Sommer 1957 bei der Weltjugendkonferenz in Moskau verbreitet worden. Mit dem Sputnikstart genossen Znachki dann große Beachtung, und nach Gagarin explodierte dieser Austausch.

Wenn nicht durch Popkultur, wie sonst hat man die Kosmonauten in der UdSSR wahrgenommen?

Auf Briefmarken und Denkmälern. Die Kosmonauten haben Schulen besucht, und in Kinderzeitschriften und in Journalen der Pionierorganisationen konnte man Kurzbiografien über sie lesen. „ Ogonek”, das ist so etwas wie die russische Version des amerikanischen Life Magazine, brachte Fotostrecken über die Kosmonauten und ihre Angehörigen.

Gab es besondere Filme, in denen die Raumfahrt das Thema war? In Hollywood boomten ja Serien wie „I dream of Jeannie” mit Larry Hagman und Barbara Eden oder die ersten James- Bond-Filme.

Ja, sehr populär waren in den 1960er-Jahren Kinofilme des russischen Regisseurs Pawel Kluschanzew. Das waren jedoch eher wissenschaftliche Dokumentationen über Raumfahrt, also eine Kombination aus Spezialeffekten und Vorlesung. Regisseur Stanley Kubrick hat mal gesagt, dass er nie „2001: A Space Odyssey” gedreht hätte, wenn er nicht die Filme von Kluschanzew gesehen hätte.

Was bedeutete es damals, ein Kosmonaut zu sein?

Damit war man „Held der Sowjetunion” und wurden herumgezeigt wie zu früheren Zeiten Stalins Falken, die mutigen Kampfpiloten. Die Kosmonauten durften reisen. Gagarin verließ Russland bald nach seinem Flug, um auf Ost-Europa-Tournee zu gehen und dann nach Kuba und Mexiko. German Titow, der zweite Mann im Orbit, war dabei, als die Berliner Mauer gebaut wurde. Er tourte sogar im Herbst 1962 durch die USA und traf sich mit John Glenn in dessen Haus in Washington DC zu einem Grillfest.

In der Nähe von Moskau gab es damals die Stadt „ Star City”, eine geheime Enklave, in der Kosmonauten ausgebildet wurden und mit ihren Familien lebten. Warum dieser Geheimkult?

Das ging zurück auf Stalin. Er ließ an geheimen Orten Camps errichten, die wie Gefängnislager funktionierten. Dort wurden spezielle Projekte vorangetrieben, zum Beispiel die Entwicklung von Tupolew-Flugzeugen. Nach der Entstalinisierung wandelten sich diese Camps zu privilegierten Inseln – wie eben Star City – mit speziellen Programmen, eigenen Geschäften, eigenen Schulen und so weiter.

Pablo Picasso kommentierte die Mondlandung mit: „ Es bedeutet mir nichts, ich habe keine Meinung dazu und es ist mir egal.” Haben die Russen im Juli 1969 ähnlich wie Picasso gedacht?

Die Sowjetunion war eines der wenigen Länder, wo die Mondlandung nicht live übertragen wurde. Es gab lediglich bestimmte Zentren, die so etwas zeigten. Als dann die Nachricht publik wurde, war die Enttäuschung in der Bevölkerung sehr groß. Boris Chertok, einer der Ingenieure im russischen Raumfahrtprogramm, schrieb in seinen Memoiren, dass ein Taxifahrer ihn damals fragte: „Woran lag es, dass wir das nicht konnten?” Das zeigt, wie die Russen damals dachten.

Das Rennen um die Mondlandung hatten die Russen verloren. Aber es gab andere historische Meilensteine, die sie setzten – etwa Walentina Tereschkowa als erste Frau im Weltall, Konstantin Feoktistow 1964 als erster Wissenschaftler im Orbit oder Saljut 1 als erste Raumstation. Warum war das alles für die Sowjetunion so wichtig?

Es ging dabei ums nationale Prestige. Das hatte in der Sowjetunion mehr Bedeutung als in den USA, weil es vereinend wirkt. Das Raumfahrtprogramm war für die Bevölkerung das einzig Sichtbare, womit die russische Regierung damals für eine nationale Identität sorgen konnte.

Das Apollo-Programm wurde 1972 eingestellt. 45 Astronauten waren darin involviert, 12 Männer haben den Mond betreten. Warum ging es nie wieder dorthin oder weiter hinaus?

Das Interesse der Amerikaner am Raumfahrtprogramm lässt sich so ausdrücken: Es ist eine Meile breit und nur einen Zoll tief. Solche Programme sind teuer, und es gab damals andere Dinge, die die Bevölkerung beschäftigten – etwa Vietnam, die Bürgerrechtsbewegung und der Beginn einer Rezession Anfang der 1970er-Jahre.

Lassen Sie uns auf 50 Jahre bemannte Raumfahrt zurückblicken: Was waren die Highlights?

Ganz eindeutig der Flug von Gagarin und die Mission Apollo 11. Die USA und die Sowjetunion haben auf allen Ebenen enorme Leistungen erbracht. Die Technologien dazu mussten schließlich erst einmal entwickelt werden – angefangen von den Raketen, über die Flugcockpits, die Überlebenssysteme und so weiter. Was langfristige Projekte angeht, ist die Internationale Raumstation ein Highlight. Sie ist ein Beispiel dafür, dass Menschen jahrelange Konflikte und sogar Weltkriege überwinden können, um gemeinsam an einer Sache zu arbeiten.

Und was lief nicht so gut?

Es wurde nicht das erreicht, was man sich in den 1960er-Jahren erhofft hatte – und zwar auf beiden Seiten. In den USA dachte man, eine permanente Raumstation mit künstlicher Schwerkraft entwickeln zu können, eine Wernher-von-Braun-Station. Man sprach davon, Menschen zum Mars zu bringen und dort Außen-stellen zu errichten. Diese Ziele waren wichtig für alle, die damals an solchen Programmen arbeiteten. Aber bis heute reisen wir noch in dem Orbit-Bereich, in dem Gagarin bereits vor 50 Jahren war.

Wie steht es mit speziellen Entwicklungen für das Raumfahrtprogramm, von denen wir heute profitieren?

Die meisten Technologien, die als Spin-offs gelten, haben diesen Titel nicht verdient, denn es gab sie schon vorher. Zum Beispiel die Materialien der Apollo-Raumanzüge: Das waren Stoffe, die Firmen wie Dupont bereits in den 1950er-Jahren hergestellt hatten. Dupont wollte für den kommerziellen Markt eine synthetische Version von natürlichen Fasern entwickeln. Und letztlich entstanden auf diese Weise Kevlar und kugelsichere Westen.

Was ist mit den Einsichten aus den medizinischen Versuchen?

Sie sind sehr nützlich, denn es war ja unbekannt, ob ein Mensch überhaupt außerhalb der Erde leben kann. Die Amerikaner haben den Schimpansen Ham ins All geschickt, auf der russischen Seite waren es Hunde wie Laika, Belka und Strelka. Wichtig war auch die Erkenntnis, dass unsere Knochen im All Kalzium verlieren. Bis heute versucht man herauszufinden, welche Mechanismen dabei eine Rolle spielen. Das ist von großer Bedeutung, wenn man irgendwann Mondbasen errichten oder zum Mars fliegen will.

Allein das Apollo-Programm verschlang damals 25 Milliarden US-Dollar. Es ist das zweitteuerste zivile Projekt – kostspieliger war nur der Panama-Kanal –, in das die USA jemals investiert hat. War es das Geld wert?

Wenn es die perfekte Gesellschaft gäbe, dann hätte man zuerst Welthunger und Armut besiegt und wäre erst dann auf Entdeckungsreise gegangen. Aber so ist es leider nicht. Manche extravaganten Projekte werden auf Kosten von anderen realisiert. Gut ist, dass solche Unternehmungen die Fantasie der jungen Menschen anregen und Begeisterung wecken. Menschen aus der ganzen Welt sind in den 1960er-Jahren in die USA oder nach Russland gegangen, um Natur- und Ingenieurwissenschaften zu studieren.

Haben Gagarin, Apollo & Co die Welt verändert?

All diese Projekte waren für die Sowjetunion und die USA eine Gelegenheit, sich in einem nichtmilitärischen Wettbewerb zu messen. Dieses geteilte Erbe, die bemannte Raumfahrt, ebnete für beide Seiten den Weg zur Zusammenarbeit. Und das ist sehr bedeutend.

Virgin-Records-Gründer Richard Branson ist gerade dabei, private Raumflüge zu organisieren und plant sogar einen Weltraumtourismus. Was geschieht in den nächsten 50 Jahren in der bemannten Raumfahrt?

(lacht) Ich bin Historikerin. Die Zukunft kann ich leider nicht vor-hersagen. Branson will anscheinend ein Charles Lindbergh der Raumfahrt werden. Ist dies überhaupt möglich? Ich weiß es nicht. Was die NASA angeht: Ihr Budget steht unter großem Druck. Sie kann nur weiter bestehen, wenn sie Grundlagenforschung und -entwicklung auch in Zukunft leistet. Ab einem bestimmten Punkt müssen dann aber private Unternehmen weitermachen. Ein Beispiel sind die Flugzeug-Abteilungen der NASA, die hochspezialisierte Techniken entwickelt haben, wie man sie nun in der neuen Boeing 787 wiederfindet.

Werden Sie am Smithsonian Museum „50 Jahre bemannte Raumfahrt” feiern?

Natürlich! Und zwar mit John Glenn und Scott Carpenter, den einzigen noch lebenden Mitgliedern der Mercury Mission. Sie halten Vorträge, und es gibt eine Sonderausstellung zum Thema. ■

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