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Roland Mertelsmann – Drang zur Weltspitze

Allgemein

Roland Mertelsmann – Drang zur Weltspitze
Der Freiburger Genforscher stellt die Weichen für neue Krebstherapien. Gentherapeut, Krebsarzt, Firmengründer – Roland Mertelsmann hat viele Talente. Obwohl er Bahnbrechendes geleistet hat, sieht sich Mertelsmann selbst nicht als Pionier.

Am selben Tag, als Prof. Roland Mertelsmann in Freiburg mit dem ersten Gentherapie-Versuch in Deutschland begann, überraschte die Pressestelle der Freien Universität Berlin die Fachwelt mit der Nachricht, daß zwei Arbeitsgruppen „bereits vor Monaten“ ähnliche Versuche gestartet hatten. Berlin triumphierte: „Damit sind wir der Universität Freiburg zuvorgekommen.“ Mit diesem Streit trat Deutschland im März 1994 in die Gentherapie-Ära ein.

Mertelsmann hatte, anders als die Berliner Gruppe, schon bei der Planung seiner Versuche die öffentliche Diskussion gesucht. Ihm war der „Input von außen“ wichtig, der die Ängste und Ahnungen von Nicht-Fachleuten widerspiegelt. „Unser Verdienst, wenn man schon davon reden will, war sicher nicht der wissenschaftliche Durchbruch, sondern daß wir die Zivilcourage gehabt haben, an die Öffentlichkeit zu gehen.“

Ein gefährlicher Weg: „Meine Frau hat sich Sorgen gemacht, daß jemand unsere Garage in Brand stecken würde.“ Und auch ein dorniger Weg:

„Meine wissenschaftlichen Kollegen waren nicht gerade begeistert. Es hieß, ich sei PR-süchtig.“ Doch die weitere Entwicklung gab Mertelsmann recht: Die Garage blieb heil, und heute ist ein deutsches Gentherapie-Meeting ohne Roland Mertelsmann wie ein Fußball-Großereignis ohne Franz Beckenbauer.

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Die Frage, erster oder zweiter Gentherapeut Deutschlands gewesen zu sein, interessiert den Professor nicht. Ein Denken in nationalen Kategorien ist ihm überhaupt fremd. Kein Wunder: Seine Frau stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien, zwei seiner drei Kinder sind in den USA geboren. Das Augenmerk über die Grenzen zu richten, predigt er auch seinen Mitarbeitern: „Unsere Konkurrenz sitzt nicht in Freiburg, überhaupt nicht in Deutschland, sondern in Boston an der Harvard University.“

Der Gentherapeut ist zwar eine prominente, aber im Grunde eher unbedeutende Seite des Roland Mertelsmann. „Ich habe mich nie als Pionier der Gentherapie gesehen“, sagt er. Primär sei er Tumorspezialist. Sein Schüler Prof. Lothar Kanz, heute Direktor der Inneren Medizin in Tübingen, hält ihn bei der Hämatologie/Onkologie gar für den „wichtigsten Mann in Deutschland“. Auch international steht Mertelsmanns Ruhm als Krebstherapeut auf soliden Füßen: Die European School of Oncology bezeichnet ihn in einer Liste der modernsten Behandlungsmethoden bei Krebs als einen von sechs deutschen Ärzten unter den führenden Onkologen Europas.

Dem „extrem ehrgeizigen“ Mertelsmann, als den ihn Lothar Kanz bezeichnet, ist jede Anerkennung wichtig – trotz der elf Stipendien und Preise, die er im Laufe seiner Karriere bekommen hat, trotz seiner riesigen, international besetzten Arbeitsgruppe, trotz des „unendlich tiefen Brunnens“ seiner Drittmittel, wie sein Kollege Peter Schollmeyer sagt, und trotz der zahllosen Vorsitze auf Meetings und der Editorenposten in Fachzeitschriften: Als die Nachrichten-Illustrierte „Focus“ vor vier Jahren ihre – mittlerweile per Gerichtsbeschluß aus dem Verkehr gezogene – Ärzte-Hitliste veröffentlichte, suchte er „natürlich“ nach seinem Namen. „Ich war ganz beruhigt, daß ich da doch zu erkennen war“, sagt er und lacht verschmitzt.

Das Lachen ist ihm im Juni dieses Jahres vergangen, als wiederum Focus den „Papst und Pionier der Gentherapie“ in die Affäre um Prof. Friedhelm Herrmann hineinzog. Mertelsmann hatte den, wie er sagt, „unglaublich kreativen bis genialen Wissenschaftler“ aus Boston nach Mainz geholt und später nach Freiburg mitgenommen. In den sieben Jahren der Zusammenarbeit hatte er etliche Aufsätze mit Herrmann veröffentlicht. Eine gute Gelegenheit für Focus, am Stuhl eines ganz Großen zu sägen.

Herrmann nun möglichst weit von sich zu stoßen, um selbst aus dem Schußfeld zu geraten, ist nicht Mertelsmanns Stil: Sollte Herrmann an den Datenmanipulationen mitschuldig sein, sagte er im Juni, „würde mich das außerordentlich bedrücken und traurig stimmen. Doch auch in diesem Fall würde ich ihm alle menschliche Unterstützung zukommen lassen.“

Er lacht gerne, wie die Fältchen um seine Augen verraten. Hilde Vogel, seine Sekretärin, sagt, die Atmosphäre in seinem Arbeitsumfeld sei „super“: „Er ist streng, aber zur richtigen Zeit auch lokker genug, um die Mitarbeiter nicht zu verschrecken.“ Locker geht es auch zu, wenn die komplette wissenschaftliche Arbeitsgruppe einmal im Jahr für ein Wochenende in einen kleinen Skiort in den Schweizer Alpen fährt. Dann wird diskutiert, in der Disko getanzt und natürlich auch Ski gelaufen. Hilde Vogel kümmert sich um Personal, Studenten und Termine. Sie verschafft Mertelsmann bei all seinen Verpflichtungen als Arzt und Direktor der Inneren Medizin, als Forschergröße und gefragter Tagungsteilnehmer die Luft zum Atmen: Wer zu ihm möchte, kommt an ihr nicht vorbei – und es ist schwer, an ihr vorbei zu kommen.

Ihre Aufgabe ist so wichtig, weil seine Aufgaben immer zahlreicher werden. Vorreiter ist Mertelsmann nicht nur als Gentherapeut und Tumorspezialist – er ist auch Pionier in Sachen Technologietransfer.

Parallel zur ersten Gentherapiestudie gründete er auf dem Gelände der Klinik eine kleine Biotech-Firma, die er liebevoll „die Company“ nennt. Doch CellGenix wurde nicht aus purem Pioniergeist ins Leben gerufen. Es war „ein logischer Schritt“, sagt Felicia Rosenthal, die junge Geschäftsführerin der Firma.

CellGenix wurde aus der Notwendigkeit heraus geboren, für die Stammzelltherapie, ein neues Verfahren zur Krebsbehandlung, eine Basis zu schaffen. Wie schon bei der Gentherapie gab es auch bei Mertelsmanns Abstecher in die Welt des Business scheele Blicke von Kollegen, die am Forschungsdogma von der unbefleckten Erkenntnis festhalten. Daß von der Industrie als Partner auch Wissenschaftler und Patienten profitieren, war nicht jedermanns Sache. „Bei der Gründung von CellGenix haben ihn viele angefeindet, die es heute am liebsten genauso machen würden“, sagt Robert Unterhuber von der US-Gentechnik-Firma Amgen.

Die Stammzellen sind nach Auskunft von Felicia Rosenthal ein „Plusminusnull-Geschäft“. Um nicht in den Verdacht zu kommen, sich zu bereichern, hat das Vorstandsmitglied Mertelsmann vorsichtshalber eine Stiftung gegründet, der mögliche Gewinne zufließen. Aus dem Firmenalltag hält er sich zwar heraus, doch sein „Business-Gespür“ macht ihn für Rosenthal zum „Spiritus hinter dem Ganzen“. Ohne seine Kontakte, ohne das Vertrauen, das er bei den Banken genießt, ohne die Hilfe der von ihm initiierten Zentralstelle für Forschungsförderung und Technologietransfer der Universität und ohne seine Diplomatie wäre CellGenix nie entstanden und könnte wohl nicht überleben. Seinen Wirtschafts-Pragmatismus hat Mertelsmann auch an seine Schüler weitergegeben: Lothar Kanz besitzt mit seiner Arbeitsgruppe in Tübingen bereits 15 Patente. „Ohne Mertelsmann“, sagt Kanz, „hätten wir kein einziges.“ Das in Tübingen und Freiburg angewandte Konzept, das vorsieht, eventuelle Gewinne zwischen Universität, Arbeitsgruppe und Erfinder gleichmäßig aufzuteilen, hat Mertelsmann aus Harvard mitgebracht.

Von seinen Auslandskontakten hat Mertelsmann immer profitiert: Schon im Studium schnupperte er am Max-Planck-Institut in Göttingen beim Mitentdecker des genetischen Codes Prof. Heinrich Matthaei internationale Laborluft. Nach einem Jahr als Student am King’s College in London und weiteren Studienjahren in Hamburg verbrachte Mertelsmann ein Jahrzehnt am Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in New York. Dort war er an der Isolierung des blutstimulierenden Faktors G-CSF beteiligt, der Patienten nach einer Chemo- und Strahlentherapie schneller wieder auf die Beine hilft. Sein wissenschaftlich größter Erfolg, sagt Mertelsmann. Das Sloan Kettering Cancer Center verkaufte die G-CSF-Rechte für knapp 100 Millionen Dollar an die Firma Amgen, die das dazugehörige Gen klonierte. Heute setzt Amgen, der Shootingstar der Branche, damit mehr als eine Milliarde Dollar pro Jahr um. G-CSF ist damit einer der größten Erfolge der Gentechnik.

Obwohl auch von US-Universitäten umworben, nahm Mertelsmann nach elf Jahren in den Staaten ein Angebot der Universitätsklinik Mainz an. Nach seinem größten Fehler gefragt, sagt er: „Manchmal denke ich darüber nach, ob ich nicht in den USA hätte bleiben sollen. Für die Familie wäre es besser gewesen, denn die fühlt sich in den USA zu Hause.“

Als er dann vor acht Jahren von Mainz nach Freiburg wechselte, machte der Neue nicht gerade „den Eindruck besonderer Gemütlichkeit“, sagt Peter Schollmeyer. Aber er war „sehr bestimmt, lächelnd und siegesgewiß“. Und er ließ einen Sturm von Innovationen durch die Abteilung fegen.

Alles lief „völlig anders als gewohnt“, erinnert sich Lothar Kanz, damals Oberarzt in Freiburg. Wie Mertelsmann die Abteilung managte, an klinische Probleme und Studien heranging, war völlig neu. Er gründete eine fünfköpfige Clinical Study Group, die mit standar- disierten Formularen die Behandlung eines Patienten von Anfang an dokumentiert und damit ein „Maximum an Kontrolle“ (Mertelsmann) gewährleistet. Die Standardisierung verfolgt vor allem das Ziel, sagt Dr. Sebastian Fetscher, Stationsarzt bei Mertelsmann, die Medizin aus dem Bauch durch Medizin mit Verstand zu ersetzen. Damit war Mertelsmann „der Motor für strukturelle Änderungen in ganz Deutschland“, sagt Kanz.

Mertelsmanns Motivationskünste sind den Kollegen ein Rätsel. Vielleicht liegt es, wie Schollmeyer vermutet, an seinem „Register von verachtender Strenge bis zu gewinnender Liebenswürdigkeit, das sich zwischen den Extremen einer zimmerüberschreitenden Lautstärke bis zum zu Herzen gehenden Lächeln äußert“. „Er erkennt blitzschnell“, ergänzt Lothar Kanz, „wo man Kräfte bündeln kann und wo jemand eine Expertise hat.“ Auch umgekehrt wird für Mertelsmann ein Schuh daraus: Wenn jemand überfordert ist, liegt es nicht am Mitarbeiter, sondern an der Arbeit, die ihm aufgetragen wurde.

Diese Managerqualitäten, gepaart mit „scharfer Intelligenz“ (Rosenthal) und einer „zielstrebigen Art zu denken“ (Fetscher) bringen den Erfolgsmenschen Mertelsmann auf Hochtouren, ob als Gentherapeut, Krebsarzt oder Firmengründer. Kein Wunder, daß bei der rasenden Fahrt kaum noch Zeit für Besinnung und Muße bleibt. „Ich versuche, einen Tag in der Woche keine Termine zu haben, damit ich den Nachmittag mal selbst gestalten kann. Aber das ist inzwischen der Tag, wo immer die Termine reinkommen, die ich woanders nicht unterbringe.“ Vor allem der in den vergangenen Jahren enorm gestiegene Verwaltungsaufwand kostet Kraft. Seit etwa einem Jahr geht er auch deshalb wieder gerne in die Kirche: „Das ist eine Stunde in der Woche, in der niemand von außen an mir zerrt. Dort habe ich das Gefühl, wieder einmal festen Boden unter die Füße zu bekommen.“

Aber Mertelsmanns Akku ist noch lange nicht leer, meint Lothar Kanz: „Weil er die Fähigkeit hat, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und das Unwesentliche beiseite zu lassen oder zu delegieren.“ Doch ab und an kommen dem Erfolgsverwöhnten Ausstiegsgedanken: „Ich würde ganz gerne früher meine Position frei machen, als ich muß – aber das sagen viele in meinem Alter und machen es dann doch nicht.“

Vielleicht ja doch. Er würde sich gerne mehr der Company widmen, oder in das Forschungsmanagement gehen. Als DFG-Präsident? „Eine Position in dieser Art.“ Oder gar als Forschungs- oder Gesundheitsminister? „Ich hätte schon Lust, das zu machen“, sagt er und fügt hinzu: „Aber wenn ich die verkrusteten Strukturen unseres politischen Systems sehe, traue ich mir bei aller Energie nicht zu, die Strukturen aufzubrechen.“

Auf jeden Fall möchte er sein permanent schlechtes Gewissen der Familie gegenüber entlasten. Und er möchte mehr Musik hören, die ihn „Abstand von den Problemen des Alltags“ gewinnen läßt. Und mehr Zeit für Bücher haben wie für seine derzeitige Lektüre, Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“.

Bis sich Mertelsmann verabschiedet, wird er weitere Pioniertaten vollbringen – wenn denn gerade welche anliegen. So wie Frodo Baggins in J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe“, das er seiner Tochter gerade abends vorliest. In dieser Fantasy-Geschichte tummelt sich eine erlesene Riege strahlender und mächtiger Helden – aber Mertelsmann identifiziert sich mit dem kleinen, furchtsamen Hobbit Frodo, der ungewollt in das Geschehen verstrickt wird. Vielleicht, weil der Hobbit am Ende seiner Odyssee nicht nur allen Unbillen getrotzt, sondern, in aller Bescheidenheit, auch die Welt gerettet hat.

Christian Weymayr

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