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Rot-grüne Siegfried-Fans

Allgemein

Rot-grüne Siegfried-Fans
Die Lieblingsmusik verrät einiges über ihren Hörer – zum Beispiel über seine politische Neigung oder seine gesellschaftliche Stellung.

„Steig in meine kleine Wolke ein. Nur wir zwei allein. Was könnte schöner sein?“ Stefanie Hertels Gesangsrhetorik bedarf keiner Antwort. Natürlich könnte nichts schöner sein, als die 21jährige Volksmusikerin auf einem Wolkenritt zu begleiten. An diesem Abend aber scheint es ihrem Publikum schon zu reichen, solchen Liedchen zu lauschen und sich dabei schunkelnd in den Armen zu liegen.

Auf Jung und Alt gleichermaßen schwappt die Welle der Begeisterung über. „Alles geht, wenn man es will, wirklich will. Glaub daran und du wirst bald schon sehen“, stimmt die Oma mit der Enkeltochter in das Lied ein, und beide strahlen mit den Scheinwerfern des TV-Senders um die Wette, der das Ereignis in die deutschen Wohnzimmer überträgt. Was das Fernsehen hier an Wirklichkeit konstruiert, ist Familienidylle pur. Bilder, die sich nahtlos in das Wertesystem der Volksmusik fügen. „ Familiensinn und der Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit sind bei diesem Publikum sehr stark ausgeprägt“, sagt der Berliner Musiksoziologe Dr. Hans Neuhoff. „Die Liedtexte entsprechen diesen Vorstellungen.“ Und weil auch das Fernsehen von der Sehnsucht seiner Zuschauer lebt, plaziert es Enkeltochter neben Oma in der ersten Reihe – selbst wenn die meisten Omas ohne Enkel da sind. „Im Durchschnitt sind die Konzertbesucher von Stefanie Hertel 60 Jahre alt“, weiß Neuhoff.

Der Experte in Sachen Volk und Musik hat eine Mission: Beschreibe den Musikhörer als Sozialfigur. Seine Methode: Hautnah dabei sein – ohne Fernsehfilter. Auf der Suche nach der unverstellten Wirklichkeit hat der Soziologe nicht nur Hertels volkstümlicher Sangeskunst sein wissenschaftliches Ohr geliehen. Er betrieb Feldforschung in den einschlägigen Kreisen nahezu aller Musikrichtungen. Mit seinen Mitarbeitern stürzte er sich in das Berliner Nachtleben – Opernhäuser, Jazzkaschemmen, Countryschuppen, Kammermusiksäle, Rockarenen, Poppaläste und Technotempel: Überall horchten sie die Fan-Gemeinde aus – fragten nach Musikgeschmack und Kleiderordnung, nach Wertvorstellungen, Bildungsstand und Lebenszielen.

6500 ausgefüllte Fragebögen liegen jetzt auf Neuhoffs Schreibtisch und geben Auskunft: Stefanie Hertels Fans sind keine Weltverbesserer, zeigen wenig gesellschaftliches und politisches Engagement und streben auch nicht nach Führungspositionen. Statt dessen klagen sie über Orientierungsschwierigkeiten: „Heute ändert sich alles so schnell, daß man oft nicht weiß, woran man sich halten soll“, sagen 70 Prozent von ihnen. Neuhoff zieht aus solchen Daten seine Schlüsse: Wenn Stefanie Hertel von Heimat, Familie und Glück trällert, ist für ihre Getreuen die Welt für ein paar Stunden wieder im Lot. Die Sängerin verkörpert für ihr Publikum, was es sonst so schmerzlich vermißt: Sie hält familiäre Werte hoch und sprüht vor ungebrochener Lebensfreude. Hertel-Fans erleben gemeinsam, sie fassen sich an und bewegen sich in eine Richtung.

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„Genau das suchen Volksmusik-Liebhaber beim Konzertbesuch“, analysiert Neuhoff. Daß zum Publikum von Stefanie Hertel besonders viele ostdeutsche Fans gehören, wundert den Wissenschaftler nicht. Für ihn ist das ein klares Indiz: Gerade die Musikhörer aus dem Osten suchen beim Schunkeln mit der Lichtfigur der Volksmusikszene jenen sozialen Halt, der ihnen vor zehn Jahren mitsamt dem Staat abhanden kam. Daß jeder vierte Hertel-Fan die PDS wählt, ist sicher Berlin-spezifisch. Wenn die Wildecker Herzbuben in Garmisch inbrünstig ihr „Herzilein, du mußt nicht traurig sein“ intonieren, werden wohl kaum PDS-Wähler mitschunkeln. Aber Werte wie Heimat und Familie sind dem Publikum in den bayrischen Bergen nicht minder wichtig.

Ganz anders die Freunde klassischer Musik: Im Opernhaus trafen die „musikalischen Sozialforscher“ bei Richard Wagners „ Götterdämmerung“ eher auf Individualisten: 40 Prozent leben in einem Ein-Personen-Haushalt. Und: Der Klassik-Konsument ist gesellschaftlich engagiert, beruflich in den höheren Etagen zu Hause und politisch überwiegend rot oder grün gefärbt. „Auch die Tiefenfunktion des Veranstaltungsbesuchs ist eine andere“, sagt Neuhoff. „Hier wird kollektiv individuelle Affektkontrolle praktiziert.“ Im Klartext: Der Wagner-Fan sucht nicht die Gemeinschaft der Schunkelnden, sondern die gemeinschaftliche Selbstbeherrschung als Ritual der „aufgeschobenen Befriedigung“ – stundenlang auf engstem Raum hilflos Wagners aufwühlendem Klanggewitter ausgeliefert zu sein,

ohne den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Wer dieses Los aus freien Stücken wählt, trainiert zugleich Fähigkeiten, wie sie auch zur Bewältigung komplexer und langandauernder wirtschaftlicher Prozesse erforderlich sind, meint Neuhoff. Daß sich das heute auch ein rot-grünes Publikum zutraut und damit das Image des rechtskonservativen Wagner-Hörers widerlegt, sei Folge der Bildungsrevolution nach 1968. „Erst danach erschloß sich ein breiteres Publikum die Oper und lernte den Qualitäts-Aspekt in der Musik schätzen“, meint der Soziologe.

Die Fülle an Daten wird noch viele solcher Zusammenhänge offenbaren, erwartet Neuhoff. Klar ist jetzt schon: Ob Wagner-, Metallica-, Hertel- oder Grönemeyer-Fans, sie alle suchen beim Konzert nicht nur Musik, sondern – beim Schunkeln oder Schweigen – ihre „Peer-group“ zur Bestätigung ihrer sozialen Leitwerte. Musik und Konzertbesuch erfüllen nicht nur ästhetische, sondern ebenso soziale und emotionale Bedürfnisse. Mag der Geschmack dabei noch so verschieden sein, die Funktion ist dieselbe:

Ob das Publikum mit Stefanie Hertel auf einer Wolke in die heile Welt schwebt oder mit Wagners Siegfried den Heldentod stirbt – zuhören heißt dazugehören, heißt eintauchen in ein gemeinsames Wertesystem.

Eine allgemeine funktionale Betrachtung von Musik aber, statt ihrer elitären ästhetischen Beurteilung, hätte weitreichende Konsequenzen – nicht nur für die Kunstwissenschaften, sondern auch für die Kultur- und Subventionspolitik. „Warum subventioniert der Staat Opernhäuser, die meist ohnehin nur von Besserverdienenden besucht werden“, fragt Neuhoff, „während die Rentnerin aus Brandenburg die Karte für ihr Lieblingskonzert ganz aus ihrer eigenen Tasche bezahlen muß?“

Kathryn Kortmann / Thomas Müller

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