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Spray statt Spritze

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Spray statt Spritze
Neue Ära der Pharmazie: Medikamente zum Einatmen. Ein innovativer Weg, Pharmawirkstoffe in den Körper zu schleusen, macht Furore: das Einatmen als Aerosolwolke. Zuckerkranke, die sich bislang bis zu viermal täglich Insulin injizieren müssen, sollen als erste von der Neuheit profitieren.

The lung is open!” bringt Dr. John S. Patton die Sache auf den Punkt. “Offene Lunge”, das klingt nach Krankheit. Doch von Heilung ist die Rede: “Es ist eine Riesenchance, Arzneimittelwirkstoffe jetzt über die Lunge in den Körper des Patienten zu bringen – eine Chance, die die Pharmaindustrie bislang ungenutzt ließ.” Patton, gelernter Biologe, ist Forschungsleiter des Unternehmens Inhale Therapeutic Systems (kurz: “Inhale”) in San Carlos/Kalifornien. Nach einer Professur an der University of Georgia leitete er eine Arbeitsgruppe der Gentechnologie-Pionierfirma Genentech. 1990 entschloß er sich, zusammen mit Aerosol-Fachmann Robert Platz, zur Gründung von Inhale. Denn nach Jahren intensiver Forschung war ihm klargeworden: “Tief drinnen in der Lunge ist ein Einfallstor in den Blutkreislauf, ein direkter Zugang. Zwar nicht für alles, was wir einatmen – aber doch für viel mehr und vor allem für viel größere Moleküle, als man früher dachte.” Vor allem Eiweißmoleküle – mit bis zu 100 Aminosäure-Bausteinen heißen sie “Peptide”, mit mehr “Proteine” – hat Patton im Visier. In Machbarkeitsstudien und Entwicklungsprojekten mit mittlerweile 15 Wirkstoffen, die alle auf das offene Tor Lunge zielen (siehe Tabelle “Die Inhale-Projekte”), kooperieren die Kalifornier mit namhaften Biotechnologie- und Pharmafirmen wie Biogen, Centeon, Lilly und Pfizer.

Seit 1999 steht auch der Name Hoechst Marion Roussel (HMR) auf der Liste der Inhale-Partner. Am 30. Juni dieses Jahres legten HMR und Pfizer im Industriepark Frankfurt-Höchst den Grundstein für die “weltweit größte Insulin-Anlage”, gaben die Kooperationspartner in einer gemeinsamen Erklärung bekannt. 300 Millionen Mark investieren die Pharmariesen. Die komplette Produktion dieser Anlage soll inhaliert, nicht – wie bisher – injiziert werden. Im Maßstab von einigen Tonnen pro Jahr soll das Insulin künftig die neue Anlage in Frankfurt verlassen. Die Partner wollen damit den gesamten Weltmarkt bedienen. Zunächst reist der Wirkstoff über den Atlantik. Bei Inhale in San Carlos wird das Insulin in inhalierbare Form gebracht und anschließend in Aluminium-Durchdrückpackungen (Blister) abgefüllt. “Wir sind ein Dreiecksverhältnis eingegangen”, sagt Rainer Dickhardt, Geschäftsführer für Technik bei HMR Deutschland. “Inhale stellt die neue Technologie zur Inhalation von Insulin zur Verfügung. HMR produziert das Insulin. Pfizer betreibt die klinische Prüfung. Sobald grünes Licht von den europäischen und amerikanischen Zulassungsbehörden vorliegt, vermarkten HMR und Pfizer das Produkt gemeinsam.” Die Erwartungen sind hoch gesteckt. Zum einen bei den beteiligten Firmen: 142 Millionen Menschen, so die Weltgesundheitsorganisation WHO, leiden aus Insulinmangel an Diabetes (Umgangssprache: “Zucker”) – ein gewaltiger Markt. Doch auch viele Kranke warten mit Ungeduld auf die Innovation.

4,6 Millionen Diabetiker leben allein in Deutschland. Rund 800000 davon – etwa ein Prozent der Bevölkerung – sind “insulinpflichtig”: Ihr Blutzuckerspiegel läßt sich mit geschluckten Medikamenten (oralen Antidiabetika) nicht in Griff bekommen. Sie müssen sich Insulin zuführen, aber per Pille geht das nicht: Da Insulin ein Peptid ist, ein Eiweiß, würde es von Magensäure und eiweißspaltenden Enzymen im Magen-Darm-Trakt verdaut – nicht anders als ein Wiener Schnitzel oder ein Kabeljaufilet. Also muß das lebenswichtige Hormon bislang per Spritze unter die Haut injiziert werden. Das sagt sich leichter, als es getan ist, weiß Dr. Klaus Fehrmann. Er ist Vorsitzender des Deutschen Diabetiker-Bundes e.V. mit Sitz in Lüdenscheid. Und er ist ebenso persönlich betroffen wie die 32000 Mitglieder seiner Vereinigung. “Ein insulinpflichtiger Diabetiker spritzt sich bis zu viermal am Tag”, sagt Fehrmann. “Man lernt damit zu leben, man muß es schließlich. Aber Tag für Tag behelligt man seine Haut mit Einstichen. Da haben wir die Ankündigung, daß man Insulin künftig inhalieren könnte, mit großem Interesse aufgenommen. Viermal sprayen – das wäre eine bedeutende Entlastung gegenüber viermal spritzen.” Das fand auch die Mehrheit von 121 Diabetes-Patienten während dreimonatiger klinischer Tests bis Mitte 1998. Mehr als vier Fünftel der Versuchspersonen, die unter ärztlicher Überwachung an US-Kliniken Insulin eingeatmet anstatt injiziert hatten, gaben nach Ende der Studie an: Am liebsten würden wir so weitermachen. Die Blutzuckerwerte der Inhalationsgruppe waren ebensogut unter Kontrolle wie in der Vergleichsgruppe, die weiterhin Injektionen erhalten hatte. Seit Juni 1999 läuft die letzte Phase der vorgeschriebenen Arzneimittelprüfung: Jetzt sind neben Hospitälern auch niedergelassene Ärzte mit ambulanten Patienten einbezogen. “Das dauert mindestens zwei Jahre”, sagt HMR-Manager Dickhardt, aber dann “macht die Insulintherapie mit dem Inhale-System einen Satz nach vorn”. In der Vergangenheit wurde öfters versucht, Insulin über die Nasen- oder Mundschleimhaut einzusetzen, was bei anderen Medikamenten funktioniert. Aber bei Insulin klappte es nie ohne Zusatz von sogenannten Enhancern – Lösungsvermittlern, die den Übertritt ins Blut verbessern. “Das brachte manchmal Schleimhautprobleme ein, auch Allergien”, sagt Dickhardt.

Das inhalierte Insulin enthält dagegen keinerlei Zusätze, die Allergien auslösen könnten. Auch erkältete Patienten bekamen in den bisherigen klinischen Tests – so Dickhardt – “kaum Probleme beim Einatmen des Medikaments. Das ist eigentlich auch logisch, da Erkältungen sich üblicherweise in den oberen Atemwegen abspielen, inklusive der Bronchien. Aber das inhalierte Insulin gelangt ja bis hinunter in die Lungenbläschen und wird erst dort absorbiert.” Mit konventioneller Spraytechnik, wie sie bei Asthma- und Allergie-Medikamenten schon jahrzehntelang angewandt wird, hat das neue Verfahren überhaupt nichts zu tun. Die Inhale-Wissenschaftler mußten sich auf Neuland wagen und zunächst für drei grundlegende technische Durchbrüche sorgen. Nummer eins: Der Wirkstoff soll trokken eingesetzt werden, damit er in hoher Konzentration möglichst rasch in den Körper des Patienten gelangt – Insulin-Lösungen können nur ein bis zwei Prozent des Wirkstoffs aufnehmen. Doch er darf keinesfalls – wie das sonst bei chemisch reinen Trockensubstanzen die Regel ist – kristallin vorliegen, sonst läßt er sich nicht fein genug verteilen. Die Wirksubstanz muß “amorph” (griechisch: “gestaltlos”) sein. Das kann man sich wie eine erstarrte Glasschmelze vorstellen, in der lange Molekülketten ungeordnet nebeneinander liegen. Ein weiterer Vorteil: Im amorphen Zustand sind sonst rasch verderbliche Eiweißstoffe wie Insulin auch ohne Kühlung vor dem Angriff von Bakterien geschützt. Die Natur arbeitet schon lange mit amorphen Substanzen, wie ein US-Pflanzenforscher an Maiskörnern entdeckte (siehe “Am Anfang war der Mais” auf der linken Seite). Für Inhale ist das Know-how, wie man gelöste Pharma-Eiweißstoffe durch Wasserentzug in den glasartigen Zustand bringt, entscheidend wichtig – ein Firmengeheimnis. Nummer zwei: Der feste Pharmawirkstoff muß in ein derart lungengängiges Aerosol verwandelt werden, daß der Patient es tief genug einatmen kann. Die Inhale-Ingenieure ließen sich dazu ein spezielles Gerät einfallen. Es hat die Maße einer mittelgroßen Stabtaschenlampe. Das Pharmapräparat, hier Insulin, wird in einer Aluminium-Durchdrückpackung in den Inhalator gesteckt. Dann wird der Auslöser betätigt: Ein schallschneller Druckluft-Puls, rein mechanisch nach dem Luftgewehrprinzip erzeugt, läßt das glasartige Wirkstoffklümpchen in eine Feinstaubwolke auseinanderspratzen. Die Staubpartikel müssen genau die richtige Größe haben: bis maximal drei Mikrometer (tausendstel Millimeter). Nur so können sie bis hinab in die nur 200 Mikrometer großen Lungenbläschen (Alveolen) gelangen und dort in die Blutbahn aufgenommen werden. Sind sie größer, bleiben sie unterwegs in den Luftwegen hängen und werden vom Flimmer-Epithel wieder mundwärts hochgestrudelt. Nummer drei: Sicherstellen, daß der Patient nicht zu wenig einatmet. Präzise Dosierung ist für einen insulinpflichtigen Diabetiker äußerst wichtig.

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Die kalifornischen Tüftler lösten das durch eine Rückhaltekammer mit transparenten Wänden, die etwa zwei Drittel des Inhalationsgeräts einnimmt. Der Patient muß sich nicht – wie beim Sprayen – darauf konzentrieren, das Luftholen präzise mit dem Spraystoß zu koordinieren. Denn nach der Zerstäubung steht das Aerosol als stabile, milchige Wolke in der Kammer. Über das Mundstück atmet jetzt der Patient in aller Ruhe tief ein, bis zu dreimal. Die wieder durchsichtig gewordene Rückhaltekammer wird ihm signalisieren: Ich habe alles intus. Ein bis zwei Mikrometer groß ist ein Insulin-Stäubchen und enthält rund eine halbe Milliarde Moleküle. Im Luftstrom rauscht der Wirkstoff in die Lunge hinunter. Etwa 20mal gabelt sich die Röhre und wird enger und enger. Dann ist die Reise zu Ende – eine Alveole ist erreicht. Heiß und feucht ist es in einem solchen Lungenbläschen. Feinste Blutgefäße durchziehen die Wandung, die nur aus einer hauchdünnen Zellschicht besteht. Hier läuft der Gasaustausch ab: Kohlendioxid wird antransportiert und zum Ausatmen in den Luftweg abgegeben, Sauerstoff wird aufgenommen. Ein verschwindend dünner Flüssigkeitsfilm überzieht die Innenwand der Alveole. Beim Kontakt mit der feuchten Alveolenwand zerfallen die Insulin-Partikel rasch und verteilen sich in dem Flüssigkeitsfilm. Inhale-Forschungsleiter John S. Patton wählt einen poetischen Vergleich: “Ich stelle mir das so vor, wie trokkener Pulverschnee auf einen feuchten Gehweg fällt und augenblicklich wegschmilzt.” Was dann passiert, ist unklar, bekennt Patton: “Die Lunge birgt noch eine Menge Geheimnisse – sie ist für Untersuchungen nur sehr schwer zugänglich.” Die Forscher diskutieren mehrere Mechanismen, auf welche Weise große Moleküle von der Innenwand einer Alveole ins Blut gelangen. Fest steht: Es geht. 20 bis 30 Minuten dauert es, bis der Insulin-Peak im Patientenblut sein Maximum erreicht. Patton: “Prinzipiell kann jedes beliebige Molekül über die Lunge aufgenommen werden, sofern es wasserlöslich ist und kleiner als 0,04 Mikrometer. Je kleiner das Molekül, desto rascher wird es absorbiert.”

Zahlreiche vielversprechende Peptid-Wirkstoffe habe die Pharmaindustrie in den letzten Jahren entwickelt und dann ohne Marktauftritt in der Schublade verschwinden lassen: Weil sie im Magen-Darm-Trakt verdaut wurden, ließen sie sich nicht in Pillenform verabreichen. “Diese gescheiterten, aber wertvollen Wirkstoffe hätten jetzt ihre zweite Chance – durch Zufuhr über die Lunge”, plädiert der Inhale-Forscher.

Daß die menschliche Lunge als Medikamententor überreizt oder überlastet würde, befürchtet John Patton keineswegs. “Der Mensch saß eine Million Jahre an qualmenden Feuerstellen und atmete Rauch ein. In diesem langen Zeitraum hat nicht nur der Mensch, sondern auch die Lunge eine Evolution durchlaufen – sie ist heute ziemlich widerstandsfähig.”

Am Anfang war der Mais

Als der Botaniker Carl Leopold in den achtziger Jahren Versuche mit Maiskörnern machte, plante noch keiner die Inhalation von Insulin – und doch hat beides miteinander zu tun. Leopold arbeitete am Boyce Thompson Institute for Plant Research (BTI) in Ithaca, US-Bundesstaat New York. Die Frage trieb ihn um, warum steinharte, getrocknete Maiskörner überhaupt sprießen können, sobald sie gewässert werden. Er entdeckte: Die fürs Keimen notwendigen Eiweißstoffe in den Maissamen überleben die Zeit der Wasserlosigkeit, ohne von Bakterien oder Pilzen befallen zu werden, weil sie durch umgebende Zuckermoleküle in einem glasartigen (amorphen) Zustand geschützt sind. Der Zucker verwandelt sich in ein Material, das einem harten Karamelbonbon ähnelt, wenn das Maiskorn trocknet. Beim Kontakt mit Wasser löst sich die glasartige Schicht, und der Same kann aufgehen und wachsen. Nach dieser Entdeckung kam Leopold auf die Idee, den natürlichen Schutzmechanismus industriell einzusetzen. Das BTI entwickelte eine Technologie, durch die sich biologisches Material stabil lagern läßt, indem man es in den amorphen Zustand überführt. Das sonst notwendige Kühlen oder Einfrieren wird überflüssig. Für die Vermarktung schloß BTI einen Vertrag mit den Innovationsmaklern der Firma Initiatech in Brooktondale/New York. Initiatech erwarb die exklusiven Lizenzrechte, bemühte sich um die Patentanmeldung und machte sich auf die Suche nach dem richtigen Partner. Der fand sich in dem Unternehmen Inhale Therapeutic Systems. Mit Hilfe des BTI-Verfahrens werden dort Pharmaka aufbereitet, um als trockene Aerosolwolken den Weg in die Lunge anzutreten. Swantje Middeldorff

Infos im Internet Informationen des Unternehmens Inhale: www.inhale.com Informationen des Boyce-Thompson-Instituts: www.bti.cornell.edu>

Thorwald Ewe

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