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Stephen Hawkings Weltmodell

Allgemein

Stephen Hawkings Weltmodell
Der berühmte Physiker widerruft frühere Ansichten. In seiner neuen Theorie verbindet Hawking den Urknall per „kosmischer Inflation“ mit einem lebensfreundlichen Universum.

Nur wenn die Gesetze der Physik überall und zu jeder Zeit gelten, auch zu Beginn des Universums, ist eine wissenschaftliche Theorie möglich“, sagte vor einigen Jahren Stephen Hawking bei einer Vorlesung an der Universität Cambridge in Großbritannien. Dort hat der 56jährige Physiker den Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik inne – wie einst Isaac Newton und der Physik-Nobelpreisträger Paul Dirac.

Wegen einer Muskelschwund-Erkrankung ist Hawking an den Rollstuhl gefesselt und kann sich nur per Sprachmodul und Computertastatur verständigen. Er gehört zu den prominentesten Wissenschaftlern unserer Zeit: Hawkings Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“ von 1988 wurde mit weltweit über sieben Millionen verkauften Exemplaren zum Bestseller und sogar verfilmt. Auch in der Fachwelt haben seine Arbeiten große Anerkennung gefunden.

Im März veröffentlichte er zusammen mit Neil Turok, der ebenfalls Physik in Cambridge lehrt, eine neue wissenschaftliche Arbeit unter dem Titel „Open Inflation without false vacua“ in der Fachzeitschrift „Physics Letters B“. Sie sorgte schon im Vorfeld für Aufmerksamkeit, denn Hawking revidiert darin seine frühere Ansicht von der Entwicklung des Universums.

1983 hatte er zusammen mit Jim Hartle von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara ein mathematisches Modell entwickelt, um die ominöse „Urknall-Singularität“ zu vermeiden. Aus diesem „Punkt“ sollen vor vielleicht 15 Milliarden Jahren Raum, Zeit, Materie und Energie entsprungen sein, wie die herkömmliche Theorie der Kosmologen behauptet. Das Problem ist nur, daß an dieser Singularität die bekannten physikalischen Gesetze zusammenbrechen und der Urknall damit wissenschaftlich unerklärlich bleibt.

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Durch die Annahme einer vierdimensionalen Halbkugel als Urzustand und mit Hilfe einiger mathematischer Raffinessen – beispielsweise der Einführung einer imaginären Zeit – versuchte Hawking in seinem Weltmodell diese Schwierigkeit zu umgehen. Danach sollte unser Universum zwar grenzenlos, aber räumlich und zeitlich endlich sein, sich also nach einer Epoche der vom Urknall angetriebenen Ausdehnung in vielen Milliarden Jahren wieder zusammenziehen und am Ende selbst verschlingen. Eine problematische Singularität besaß das Hawking-Modell nicht.

Aktuelle astronomische Beobachtungen deuten jedoch darauf hin, daß die Gesamtmasse im Weltall nicht ausreicht, um die Ausdehnung des Raumes zur Umkehr zu zwingen. Unser Universum expandiert demnach immerfort und ist möglicherweise sogar unendlich groß.

Mit diesem Befund nur schwer vereinbaren läßt sich eine seit 1979 entwickelte und inzwischen von vielen Forschern stark favorisierte Vorstellung vom Verlauf der ersten Sekundenbruchteile nach dem Beginn der Zeit. Damals soll der Raum eine „inflationäre Phase“ durchlaufen haben – eine exponentielle Ausdehnung, die das Universum, das zunächst winziger als ein Atom war, ins Riesenhafte aufgebläht hat. Nur dadurch ließe sich erklären, so meinen viele Kosmologen, warum das Weltall als Ganzes sehr gleichförmig aufgebaut ist.

Nach den herkömmlichen Vorstellungen funktioniert diese kosmische Inflation aber nur, wenn die Gesamtmasse des Alls gerade so groß ist, daß die heute viel langsamere Expansion des Raumes allmählich zum Stillstand kommt. Die mittlere Dichte des Universums müßte also gerade am Grenzwert zwischen ewiger Ausdehnung und feurigem Kollaps liegen – bei rund 10-29 Gramm pro Kubikzentimeter oder etwa drei Wasserstoff-atomen pro Kubikmeter. Doch nach den aktuellen astronomischen Messungen beträgt die tatsächliche Materiedichte des Universums nur maximal 20 bis 30 Prozent dieses Grenzwerts.

Mit ihrer neuen Arbeit haben Hawking und Turok nun zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Sie zeigen, daß ein sich ewig ausdehnendes, massearmes Universum sowohl mit der Vorstellung von einer kosmischen Inflation als auch mit dem singularitätsfreien Hawking-Hartle-Modell vereinbar ist.

Dafür griffen die beiden Forscher zu einem sogenannten „anthropischen Argument“: Da es keine Möglichkeit gibt, die tatsächlichen Randbedingungen für die Inflation aus ersten Prinzipien zu errechnen, muß man sich mit Abschätzungen begnügen, die mit der beobachteten Wirklichkeit übereinstimmen. Nur ein Universum, das die Entwicklung erdähnlichen Lebens zuläßt, ist realistisch. Doch die meisten Abschätzungen beschreiben Universen, die zu schnell in sich zusammenstürzen oder wüst und leer sind. Unsere Existenz erlaubt demnach Rückschlüsse auf die kosmischen Anfangsbedingungen. Hawking und Turok bastelten mit dieser Voraussetzung eine mathematische Notlösung.

Doch auch ihr neues Weltmodell beschreibt unser Universum noch nicht korrekt: Es besitzt allenfalls ein Zwanzigstel der Gesamtmasse des beobachtbaren Kosmos. Hawking und Turok sehen in ihrer Arbeit zunächst einmal einen theoretischen Durchbruch und sind davon überzeugt, daß sich dieses Problem mit ausgereifteren Inflationstheorien beheben läßt: „Die Masse in unserem Modell dürfte sich mit der Berücksichtigung weiterer Felder oder zusätzlicher Dimensionen noch erhöhen.“

Die Fachwelt reagierte bislang zurückhaltend. Andrei Linde von der Stanford-Universität in Kalifornien wendet ein, daß die Galaxien in Hawkings Modell so weit voneinander entfernt seien, daß wir eigentlich gar keine sehen dürften. „Ein solches Universum wäre praktisch strukturlos“, erklärt er – und bietet in einem Artikel, der demnächst im Fachblatt „Physical Review“ erscheint, einen alternativen mathematischen Ansatz an. Hawking und Turok halten Lindes Kritik für „irreführend“ und „mathematisch inkonsistent“. Sie haben bereits versucht, sie in einem weiteren, zur Veröffentlichung eingereichten Aufsatz zu entkräften.

Die Überlegungen der Forscher zu den Vorgängen in der kosmischen Frühzeit beruhen allesamt auf groben Vereinfachungen und umstrittenen Abschätzungen, da eine Quantentheorie der Gravitation noch fehlt, die für die Erklärung des Urknalls notwendig ist. „Das ist alles noch sehr spekulativ und unvollständig“, sagt Hermann Nicolai, Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam. „In diesem Formelwerk kann man an vielen Schrauben drehen. Am Ende bleiben wieder alle Fragen offen, und von konkreten Überprüfungen sind wir noch weit entfernt.“

Gerhard Börner vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München spricht gar von einem „Herumstochern in unbekanntem Gelände“ und „zweifelhaften mathematischen Tricks“, weshalb die Arbeit nicht „unverfroren als Erkenntnis“ verkauft werden dürfe. „Im Rahmen einer Theorie der Quantengravitation könnte die Tragfähigkeit der Hawkingschen Überlegungen beurteilt werden. Aber solange eine solche Theorie fehlt, bleiben je nach Temperament Unbehagen oder wohlwollendes Interesse.“

Hawking und Turok räumen ein: „Die einfachen Modelle, die wir diskutieren, sind sicherlich keine endgültige Theorie der Quantengravitation. Aber wir finden es erstaunlich, daß sie Abschätzungen erlauben, die mit den tatsächlichen Verhältnissen recht gut übereinstimmen.“

In zwei Jahren sollen die Temperaturschwankungen in der kosmischen Hintergrundstrahlung – dem elektromagnetischen Echo des Urknalls – präzise vermessen werden. Dazu will die Amerikanische Raumfahrtagentur NASA einen Satelliten namens „Microwave Anisotropy Probe“ starten, gefolgt von der Planck-Mission der Europäischen Raumfahrtagentur ESA im Jahr 2006.

Die gesammelten Daten werden ein Prüfstein für das neue Weltmodell sein: „Wenn es korrekt ist, muß die kosmische Hintergrundstrahlung ein ganz bestimmtes Muster haben“, sagt Hawkings Mitstreiter Turok.

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