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Stets zu Diensten

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Stets zu Diensten
Ob als Schöpfer neuer Dienstleistungs- arbeitsplätze oder als Chef der Fraunhofer- Gesellschaft – Hans-Jörg Bullinger geht jeden Job mit Verve an.

bild der wissenschaft: Vor fünf Jahren haben Sie, Herr Prof. Bullinger , im bdw- Interview beklagt, dass deutsche Unternehmen zu wenig über Arbeitsplätze schaffende Dienstleistungen nachdenken. Klagen Sie immer noch?

Bullinger: Es hat sich etwas getan – nicht zuletzt durch ein neues Programm des Bundesforschungsministeriums, das sich den Dienstleistungen widmet. Wir erkennen dadurch sowohl Chancen bei reinen Dienstleistungen, wie sie Banken oder Softwarehäuser anbieten, als auch bei den Produkt begleitenden Dienstleistungen. Ansätze sind bereits gemacht: Wenn ein Lastwagenhersteller wie Daimler-Chrysler nicht nur Lkws, sondern auch deren Versicherung, Kundendienst, Finanzierung oder die Software für die Routenplanung mit verkauft, handelt es sich um ein solches Modell. Wenn ein Maschinenbauer wie die Firma Trumpf in wenigen Jahren ein Viertel des Umsatzes über Schulungen, Teleservice und dergleichen zu machen gedenkt, zeigt das, wie viel Potenzial in Produkt begleitenden Dienstleistungen steckt.

bdw: Der Neue Markt mit seinen hoch gelobten Dienstleistungsarbeitsplätzen hat sich als Seifenblase entpuppt.

Bullinger: Die spektakulären Hoffnungen der Internetfirmen sind nicht aufgegangen. Dennoch spielen hochwertige Dienstleistungsarbeitsplätze inzwischen bei uns eine wichtige Rolle.

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bdw: Haben Sie Zahlen?

Bullinger: Nach der soeben vorgestellten Dienstleistungs-Statistik in Deutschland sind von 1990 bis 2000 in unternehmensnahen und weiteren wissensintensiven Dienstleistungen 1,9 Millionen Arbeitsplätze zusätzlich entstanden. Damit hat das Arbeitsplatzangebot dieses Bereichs pro Jahr um 6,5 Prozent zugenommen. Insgesamt arbeiteten 2000 in Deutschland 68 Prozent aller Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor. 1970 waren es lediglich 45 Prozent, 1990 knapp 60 Prozent.

bdw: Nach einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung verdanken Staaten mit besonders hoher Beschäftigung dies vor allem einem Mehr an Dienstleistungsarbeitsplätzen in Bildung, Gesundheit oder Personenschutz. Das gilt für Großbritannien, Australien, Neuseeland, aber auch für Schweden und Dänemark. Unter international konkurrenzfähigen Arbeitsplätzen stellt man sich etwas anderes vor.

Bullinger: Gegenfrage: Kennen Sie fünf große Wirtschaftsprüfungsgesellschaften in Deutschland oder fünf große Unternehmensberater?

bdw: Ernst & Young, Cambridge Consultants, McKinsey, Boston Consultants, PricewaterhouseCoopers…

Bullinger: …typisch deutsche Unternehmen, die Sie da nennen. Wenn Sie ein Päckchen verschicken wollen, fällt Ihnen womöglich nur United Parcel Service ein. Spaß beiseite: Wir Deutschen müssen uns die Frage gefallen lassen, warum nicht wir solche Vorzeigeunternehmen in die Welt gesetzt haben. Andere Länder, allen voran die USA, waren deutlich aktiver. Es ist höchste Zeit, sich dem weltweiten Wettbewerb um die Führerschaft im industrienahen Dienstleistungsbereich zu stellen.

bdw: Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber wo bleibt Ihre Antwort auf die Frage, warum in angelsächsischen und skandinavischen Staaten so viele Arbeitsplätze in Bildung, Gesundheit oder Personenschutz entstanden sind?

Bullinger: Das ist keine Frage des Bedarfs. Er ist bei uns auch da. Sondern es geht darum, ob solche Arbeitsplätze finanzierbar sind. Beispielsweise geht es in den Bereichen Gesundheit und Personenschutz um Dienstleistungen, bei denen wir in Deutschland noch eine Reihe von Hausaufgaben zu lösen haben. Etwa: Muss man wirklich Mindestlöhne definieren? Können solche Dienstleistungen von der Mehrwertsteuer freigestellt werden -– ähnlich wie in den USA? Wirklich weiter kommen wir in der bundesdeutschen Beschäftigungspolitik allerdings nur, wenn wir uns mehr um die wissensintensiven Dienstleistungen kümmern. Wie wachstumsstark dieser Sektor ist, zeigt die Statistik der vergangenen 30 Jahre. In dieser Zeit hat der Anteil wissensintensiver Dienstleistungen an allen Dienstleistungen von 22 auf 55 Prozent zugenommen.

bdw: Wie definieren Sie wissensintensive Dienstleistungen?

Bullinger: Das sind Dienstleistungen, bei denen die Ressource Information und Wissen der wichtigste Inputfaktor darstellt. Charakteristisch ist zudem, dass sie häufiger weniger standardisiert sind und durch hoch qualifizierte Mitarbeiter in einem intensiven Interaktionsprozess zwischen Anbieter und Nachfrager erstellt werden. Es geht hier also um hoch qualifizierte Beratung oder Entwicklung.

bdw: Heißt wissensintensive Dienstleistungen anbieten, das berufliche Schicksal selbst in die Hand zu nehmen – also verstärkte Selbstständigkeit?

Bullinger: Das ist tatsächlich eine riesige Chance, die auch zunehmend genutzt wird. So hat diese Entwicklung an den Universitäten zu einem Boom bei Unternehmensausgründungen geführt. Allein durch unser Fraunhofer- und unser Universitäts-Institut sind in den letzten zehn Jahren rund 650 Arbeitsplätze in 37 neu gegründeten Unternehmen entstanden.

bdw: Gut für die Mitarbeiter Ihres Instituts – doch die Arbeitslosigkeit im Bund ist in dieser Zeit von 2,6 auf 4 Millionen gestiegen. Wie schafft unsere Volkswirtschaft die Trendwende?

Bullinger: Unser Lebensstandard unterscheidet sich erheblich von dem in Mexiko, Malaysia oder Südkorea. Dabei werden auch dort Qualitätsautos und hochwertige Elektronik hergestellt. Wenn es uns nicht gelingt, solchen Ländern durch unsere Kreativität dauerhaft voraus zu sein, haben wir keine Berechtigung und auf Dauer auch keine Chance mehr, dass es uns weiter besser geht als den Menschen dort. Uns bleibt nur, uns zu einer Gesellschaft zu entwickeln, in der das Schaffen von Neuem im Vordergrund steht und das Verwalten einer Position in den Hintergrund tritt – egal, ob man bei einem Ministerium, einer Versicherung, einem Softwarehaus oder einem Automobilhersteller arbeitet. Deshalb ist für uns wichtiger denn je, Erkenntnisse der Forschung rasch umzusetzen. Hier sehe ich eine besondere Herausforderung für die Fraunhofer-Gesellschaft, deren Aufgabe es ist, eine Brücke zu bilden zwischen dem, was in der akademischen Grundlagenforschung erarbeitet wurde und dem, was die Wirtschaft braucht.

bdw: Am 22. Oktober werden Sie der Öffentlichkeit als Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft vorgestellt. Sicher werden Sie in Abrede stellen, dies schon immer angestrebt zu haben.

Bullinger: Was die Frage des Werden-Wollens oder Geworden-Seins angeht, mag es unterschiedliche Sichten geben. Wer wie ich einen guten Teil seines Berufslebens bei der Fraunhofer-Gesellschaft verbracht hat und nach über 20 Jahren Institutsleitung zu wissen glaubt, wie ein solches Institut funktioniert, darf hinterfragen, wie das Zusammenspiel der Institute untereinander organisiert ist oder werden kann. Es ist interessant, ganz andere Themenbereiche als das eigene Fachgebiet ins Visier zu nehmen. Da ich hier an der Universität Stuttgart schon viele Jahre das Fach Technologiemanagement erforsche und lehre, habe ich einen intensiveren Bezug zu diesem Amt als mancher Kollege.

bdw: Bisher war die Fraunhofer-Gesellschaft in den Augen der Öffentlichkeit eine Institution, die die Produktionstechnologie vorantreibt. Sie dagegen beschäftigen sich vor allem mit der Organisation von Arbeit. Ist Ihre Berufung eine Weichenstellung?

Bullinger: Zunächst sollte der Präsident keine Disziplin bevorzugen. Andererseits gehört mein bisheriges Institut zum Bereich Informations- und Kommunikationstechnik, kurz I+K. Dieses Technologiefeld hat bei der FhG bereits heute mehr Mitarbeiter als die Produktionstechnik, und es wird weiter zulegen. Eine meiner wichtigsten Aufgaben wird es sein, die unter meinem Vorgänger, Prof. Hans-Jürgen Warnecke, begonnene Integration der Großforschungseinrichtung GMD sowie des Heinrich-Hertz-Institutes in Berlin voranzubringen. Ideal ist es, wenn deren Mitarbeiter und die Mitarbeiter der I+K-Institute der bisherigen Fraunhofer-Gesellschaft aufeinander zugehen. Dazu müssen sie sich untereinander wertschätzen. Hier kann ich mithelfen, Wege zu ebnen. Meine zweite wichtige Aufgabe wird es sein, Themenverbünde voranzutreiben.

bdw: Was meinen Sie damit konkret?

Bullinger: Mit Daimler-Chrysler arbeiten wir im Themenbereich Digitale Fabrik zusammen. Da geht es um die Verbindung von Produktionstechnik und Informationstechnik, um zu einer völlig neuen Fabrikgestaltung zu kommen. In Zukunft werden Maschinen erst beschafft oder Produktionssysteme in Betrieb genommen, wenn die Produktion den Testlauf auf Basis digitaler Modelle und Szenarien bestanden hat. Wenn dabei Ingenieure und Informatiker eng zusammenarbeiten, können Kosten eingespart werden – vor allem bei der oft problematischen Anlaufphase neuer Produkte und Produktionssysteme. Das Problem solcher Verbünde ist immer noch, dass viel zu wenig über das eigene Fachgebiet hinaus gedacht wird.

bdw: Haben Sie diese Hausaufgabe in Ihrem Institut lösen können?

Bullinger: Die Ergebnisse, die wir in den letzten 20 Jahren abgeliefert haben, sind nicht ganz schlecht, um das mal schwäbisch bescheiden auszudrücken. Wenn es denn sogar ein Erfolg ist, was wir geschaffen haben, liegt das vor allem daran, dass es uns gelungen ist, die tägliche Zusammenarbeit von Ingenieuren mit Informatikern, mit Betriebswirten und mit Sozialwissenschaftler so einzuüben, dass gute Resultate herauskommen und sich die Mitarbeiter auf ihrem Fachgebiet weiterentwickelt haben.

bdw: Werden Sie während Ihrer Präsidentschaft weitere bisher selbstständige Forschungseinrichtungen in die Fraunhofer-Gesellschaft eingliedern? Oder wollen Sie Institute abstoßen, die nicht mehr in das Portfolio passen?

Bullinger: Um Partner der Wirtschaft zu sein, braucht man eine Mindestgröße. Schon deshalb, weil man stets unter einem hohen Termin- und Flexibilitätsdruck steht. Diese Grundgröße hat Fraunhofer seit längerem erreicht. Jetzt müssen wir vor allem darauf achten, dass unsere Forschungsgebiete noch im richtigen Mix sind für das, was Gesellschaft und Wirtschaft nachfragen. Hier werden immer wieder Ergänzungen vorzunehmen sein. Zweitens haben wir auch künftig Interesse daran, agile Arbeitsgruppen in die FhG zu integrieren, die in einem wichtigen Arbeitsbereich tätig sind, in ihrer bisherigen Institution freilich an Grenzen stoßen. Drittens könnte politisch auch künftig gewünscht werden, mehr Übersichtlichkeit zu schaffen und Institutionen zusammenzulegen. Wir sind stark genug, uns einem solchen Wunsch zu stellen und zu prüfen, ob wir ihm entsprechen können.

bdw: Muss die Fraunhofer-Gesellschaft nicht mehr internationales Engagement zeigen?

Bullinger: Wir haben uns in den USA engagiert – dort schöne Erfolge erzielt, aber auch blutige Nasen geholt, wie alle, die in den USA Erfolg suchen. Wir brauchen die USA, um uns mit den Besten zu messen. Wir müssen uns auch an Asien orientieren. Unser Ziel ist es dennoch nicht, mit dem Fraunhofer-Modell Amerikaner und Asiaten zu beglücken. Wir sind eine deutsche Forschungsgesellschaft. Doch die Wirtschaft kooperiert mit uns nur, wenn sie das Gefühl hat, dass wir uns in der Welt der Technik, der internationalen Kundenmärkte und der Produktionsstandorte auskennen.

bdw: Die Max-Planck-Gesellschaft verweist stolz darauf, dass 41 Prozent ihrer wissenschaftlichen Mitglieder seit 1996 aus dem Ausland berufen worden sind. Wie steht es um die Internationalisierung Ihrer Institute?

Bullinger: Wir beschäftigen deutlich weniger aus dem Ausland kommende Kollegen. Der Hintergrund ist simpel: Wenn ich bei Fraunhofer – also in der angewandten Forschung – jemanden einstelle, muss er sofort Ertrag erwirtschaften und die Sprache des Landes, also Deutsch, beherrschen. Anders als bei Max-Planck oder den Universitäten genügt es somit nicht, ein exzellenter Wissenschaftler zu sein, sondern die Leute müssen hierzulande auch kommunizieren können.

bdw: Wie viel Prozent Ihrer eingeworbenen Forschungsmittel kommen von ausländischen Partnern?

Bullinger: Etwa 20 Prozent. Fairerweise muss man sagen, dass darin viele EU-Projektmittel sind.

bdw: Das Massachusetts Institute of Technology gilt als weltbeste Forschungshochburg, wenn es um Technologie geht. Wo steht Fraunhofer?

Bullinger: Ein solcher Vergleich ist auch ein Gesellschaftsvergleich. Die Amerikaner sind noch mehr aufs Ergebnis fokussiert als wir, noch mehr auf Umsetzung mit einem schnellen Rückfluss investierter Gelder. Wenn man sieht, was die Ehemaligen des MIT an Fördermitteln für diese Institution beschaffen, kann ich nur blass werden. Auch wenn man das MIT nicht wirklich mit der FhG vergleichen kann, ist es keine Frage, dass für viele unserer Institute das Maßstab ist, was am MIT erarbeitet wird. Deshalb pflegen wir gute Kontakte, und wir versuchen, von dort zu lernen – wie man Interdisziplinarität organisiert, wie man Projektgruppen auf Zeit ausbildet, wie man Patentinitiativen verbessert. Wenn es um konkrete Problemlösungen in Betrieben geht, behaupte ich, dass die Fraunhofer-Gesellschaft ein Stück besser als das MIT ist.

Prof. Dr. Hans-Jörg Bullinger

ist der neunte Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) und seit 1. Oktober im Amt. Die Fraunhofer-Gesellschaft ist Europas größte Institution der angewandten Forschung mit derzeit 56 Forschungseinrichtungen, 11000 Mitarbeitern und einem Etat von 900 Millionen Euro. Bullinger (Jahrgang 1944) leitete seit 1981 das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) und das Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) an der Universität Stuttgart, dem er weiterhin durch Lehrverpflichtungen die Stange hält.

Wolfgang Hess

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