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Stromwechsel

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Stromwechsel
In einem alten Kohlekraftwerk entsteht die modernste Solarzellenfabrik der Welt. Marbach am Neckar, die Geburtsstadt Schillers, erhält eine neue Attraktion. Mit der in Baden-Württemberg ersonnenen CIS-Technologie will der Schraubenfabrikant Reinhold Würth den Markt für Solarzellen umkrempeln.

Montag, 19. Juni 2000. „Dieser Tag ist ein Höhepunkt in meinem wissenschaftlichen Leben“, freut sich Prof. Harry Hahn, 85. Am 19. Juni wurde die weltweit modernste Solarzellenfabrik vor den Toren Stuttgarts in Betrieb genommen. Was Hahn besonders freut: Die in Marbach am Neckar produzierten Zellen basieren auf einer Substanz, die er Ende der vierziger Jahre in seinem Heidelberger Universitätslabor synthetisiert hatte: Kupfer-Indium-Diselenid (Chemikerkürzel: CuInSe2). Als „Hahnsche Verbindungen“ gingen solche Substanzen, die sich aus drei überwiegend metallischen Bestandteilen zusammensetzen, in die russische Wissenschaftsliteratur ein. Im Westen geriet Hahns Leistung in Vergessenheit. Erst aufgrund eines Artikels, der vor wenigen Jahren im Lokalteil der Stuttgarter Zeitung erschien, wurde die Fachwelt wieder auf ihn aufmerksam. Wenn eine Tageszeitung über eine so kompliziert klingende Verbindung wie Kupfer-Indium-Diselenid berichtet, steckt meist ein Umweltfrevel dahinter. Nicht so in diesem Fall: Kupfer-Indium-Diselenid ist ein ausgezeichneter Grundstoff für Solarzellen. 1974 hatten Forscher der amerikanischen Bell Labs entdeckt, daß diese Verbindung Licht in Strom umwandeln kann. Anfang der achtziger Jahre begann sich auch Dr. Hans-Werner Schock vom Institut für Physikalische Elektronik (IPE) der Universität Stuttgart mit dem Material zu beschäftigen, das kurz und bündig unter „CIS“ firmiert und inzwischen unter vielen Solarzellenforschern den Ton angibt. Vor allem Schocks physikalisch-technischem Geschick ist es zu verdanken, daß der Wirkungsgrad der mit CIS beschichteten Glasplatten im Labor deutlich gesteigert werden konnte: von 6 Prozent im Jahr 1982 auf 17 Prozent Mitte der neunziger Jahre. Ursachen waren: • modifizierte Beschichtungstechniken, • Einbindung von Atomen wie Gallium oder Schwefel, um die Umwandlung von Licht in Strom zu verbessern, • die Einbindung von Fensterglas als Trägersubstanz. Dessen Natriumgehalt erhöht die Zahl der Ladungsträger, verringert den elektrischen Widerstand und steigert somit indirekt den Wirkungsgrad. Dieser Fortschritt resultiert aus einer Panne: In die bis dahin nur mit natriumarmem Spezialglas bestückte Beschichtungsanlage war aus Versehen schnödes Fensterglas geraten. 1988 wurde von Lothar „Cleverle“ Späth, dem damaligen Ministerpräsidenten, mit Geldern der Industrie die gemeinnützige Stiftung „Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg“ (ZSW) ins Leben gerufen. Dort setzen sich Physiker und Ingenieure seither das Ziel, wissenschaftlich erfolgversprechende Energieerzeugungstechniken so auf den Weg zu bringen, daß auch die Industrie eine Fährte wittert. Die Produktionsentscheidung für die CIS-Technologie fiel 1998. Reinhold Würth aus Künzelsau, bis dahin vielen nur bekannt als erfolgreicher Schraubenproduzent (31200 Mitarbeiter weltweit, Unternehmensslogan: „Die Montageprofis“) und Kunstmäzen, entschloß sich zur Industriefertigung – mit 20prozentiger Beteiligung der Energie Baden-Württemberg und einer 0,5 Prozent-Beteiligung des ZSW. Zur Freude von Denkmalschützern – denn die Solarzellenfabrik wurde in einen stilechten Industriebau aus den dreißiger Jahren integriert. Von 1940 bis 1981 war dort aus Steinkohle Strom erzeugt worden. Jetzt stehen neben musealen Generatoren und Feuerungskesseln modernste Beschichtungsanlagen. Und während die alten Boliden noch immer mit einem Hauch aus Öl und Staub umgeben sind, arbeitet die CIS-Produktion unter strengen Reinraumbedingungen. Reinhold Würth, 65 – seit wenigen Monaten Honorarprofessor an der Universität Karlsruhe – ist Mäzen und scharfer Rechner zugleich. Wenn er in den nächsten Jahren mit Hilfe öffentlicher Finanzspritzen rund 50 Millionen Mark in eine Solarzellenproduktion steckt, tut er dies gewiß nicht nur aus Altruismus. Er hat die Vision, über CIS-Solarzellen der Photovoltaik zum Durchbruch zu verhelfen. CIS-Zellen bieten Vorteile gegenüber Solarzellen aus Silizium (Weltmarktanteil 1999: 97 Prozent) Vorteile: • Die stromerzeugende Schicht ist nur zwei Mikrometer dick – und damit ungleich rascher abgeschieden als kristalline Siliziumschichten, die mindestens 100mal dicker und damit in der Herstellung deutlich teurer sind. • Der Wirkungsgrad indu- striell hergestellter CIS-Zellen liegt bei zehn bis zwölf Prozent und fällt auch im Laufe der Zeit nicht ab. Zwar lassen sich Solarzellen aus amorphem Silizium ähnlich günstig herstellen wie CIS-Zellen, doch deren Wirkungsgrad erreicht gerade mal sechs Prozent. • Größter Vorteil der CIS-Technologie ist, daß die Zellen bis zu einer Größe von 120 mal 60 Quadratzentimeter maßgeschneidert werden können. Während Siliziumzellen oft mühsam zugeschnitten und wieder verlötet werden müssen, um für die Anwendung fit zu sein, lassen sich CIS-Zellen über einen winzigen Handgriff an der CNC-Steuerungsanlage vollautomatisch zurechtschneiden. Daß die an dem Stuttgarter Universitätsinstitut IPE ausgetüftelte und am ZSW professionalisierte Entwicklung auch im industriellen Maßstab funktioniert, verantwortet Bernhard Dimmler, technischer Geschäftsführer der Würth Solar GmbH & Co KG. Der Diplom-Ingenieur hat viele Jahre selbst an IPE und ZSW gearbeitet, kennt die Entwicklung aus dem Effeff und ist gleichwohl froh, die erste Aufbauphase in Marbach nun hinter sich zu haben. „Die Qualitätssicherung spielt bei uns hier eine zentrale Rolle“, betont er. Denn es ist ein großer Unterschied, ob ich an einem Institut einen Rekordversuch zum Wirkungsgrad unternehme, oder ob ich beim kon- tinuierlichen Prozeß industrieller Fertigung einen Mindestwirkungsgrad garantieren muß.“ Ab August will Dimmler die ersten verkaufsfähigen Produkte ausliefern. Von 2002 an sollen CIS-Zellen mit einer Jahreskapazität von einem Megawatt – das entspricht einem Hektar Solarzellenfläche – hergestellt werden. Mittelfristig will Würth Solar den Jahres-Output auf mindestens zehn Megawatt steigern. „ Erst wenn wir in diesem Maßstab produzieren, können wir die Herstellkosten so herunterfahren, daß damit wirklich Geld zu verdienen ist“, verrät Dimmler. Wie schwierig es ist, als Newcomer durchzustarten, zeigt sich an der CIS-Zellenproduktion von Siemens im kalifornischen Camarillo. Dort wurden nach Schätzungen des Fachblatts „Photon International“ 1999 CIS-Zellen mit einer Kapazität von 500 Kilowatt hergestellt, was gerade einmal einem Weltmarktanteil von 0,25 Prozent (Gesamtproduktion: 202 Megawatt) entspricht. Siemens- Solar nimmt dazu keine Stellung. Die Siemens-Technologie arbeitet mit erprobter, aber aufwendiger Beschichtungstechnik. Für Marbach wurden dagegen 80 Prozent der Anlagen neu konzipiert – eine Investition, die sich nach Aussage von Hans-Werner Schock auszahlen wird: „Langfristig läßt unsere Entwicklung beim Wirkungsgrad noch einiges erwarten.“ Nimmt alles seinen geplanten Weg, wird der Kunde für eine Kilowattstunde Solarstrom aus einer CIS-Zelle in wenigen Jahren „ deutlich unter einer Mark“ – so Bernhard Dimmler – bezahlen müssen. Bei Solarzellen aus kristallinem Silizium betragen die Stromerzeugungskosten dagegen etwa 1 Mark 50. Einen Makel hat die Unternehmensgruppe Würth bestimmt nicht: Systeme zu verkaufen und danach das Weite zu suchen. Schon jetzt unterhält der Würth-Konzern mehr als 70 Auslandsstützpunkte. Sie sind der optimale Ausgangspunkt, um die CIS-Zellentechnologie in heiße Länder zu tragen. „Unsere große Stärke ist der After Sales Service“, erklärt Dimmler. „Wir wollen zufriedene Kunden, auch bei der Solarenergie.“ Ein Pilotvorhaben in dem sonnenverwöhnten, aber bettelarmen Mali ist bereits gestartet. Friede, Freude, Eierkuchen? Nicht ganz! Harry Hahn, der alte Mann der Kupfer-Indium-Diselenid-Synthese, der nie daran dachte, daß die von ihm erstmals hergestellte Verbindung eine Stromquelle ist, hebt angesichts moderner Forderungen, Forschungspolitik am Angewandten auszurichten, den Finger: „Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, wie wichtig zweckfreie Grundlagenforschung ist und daß sie urplötzlich zu einem gesellschaftlich verwertbaren Ergebnis führen kann.“

Wolfgang Hess / Kurt Henseler

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