In den letzten Jahren haben Forscher immer mehr über die geisterhaften Elementarteilchen namens Neutrinos herausgefunden. Sie wissen zum Beispiel, dass die drei Neutrino-Arten oszillieren, das heißt sich ineinander umwandeln können. Detektoren, die nur für eine Art empfindlich sind, spüren also zu wenige Neutrinos auf. Messungen eines Detektors in Kanada und das japanisch-amerikanische KamLAND-Experiment haben diese Oszillationen inzwischen mit großer Genauigkeit nachgewiesen. Daraus folgt: Anders als lange vermutet, sind Neutrinos nicht masselos, sondern haben eine – wenn auch nur sehr kleine – Ruhemasse.
Neutrinos blieben seit ihrer „Erfindung“ 1930 durch Wolfgang Pauli viele Jahre ein rein theoretisches Konstrukt. Der spätere Physik-Nobelpreisträger hatte ihre Existenz prognostiziert, um eine Verletzung des fundamentalen Satzes von der Erhaltung der Energie beim radioaktiven Beta-Zerfall zu vermeiden. Der experimentelle Nachweis glückte erst 1956. Dazu benutzten Clyde L. Cowan und der spätere Nobelpreisträger Frederick Reines den gleichmäßigen Antineutrino-Fluss eines Kernreaktors, der Forschungszwecken diente. Mit den Worten der Schwedischen Akademie der Wissenschaften „befreiten sie das Neutrino aus seinem Status als Fantasiegebilde und machten es zu einem realen Teilchen“.
Schon bald darauf wurde klar, dass zu den Elektron-Neutrinos der ersten Teilchenfamilie die Myon-Neutrinos der zweiten Familie kommen. Zwar sind beide Arten ungeladen und reagieren nur auf die schwache Wechselwirkung. Doch experimentell lassen sie sich anhand ihrer Eigenschaften unterscheiden. Vervollständigt wird das Neutrino-Terzett durch das Tau-Neutrino, für dessen Existenz es seit 2000 experimentelle Hinweise gibt. Hinzu kommen die entsprechenden Antiteilchen – bei den Antielektron-Neutrinos wurden sie ja sogar als Erste nachgewiesen.
Neben Reaktoren und Teilchenbeschleunigern gibt es auch in der Natur eine Reihe von Neutrino-Quellen. Die prominenteste ist unsere Sonne. In ihrem Zentrum entstehen bei der Kernverschmelzung von Wasserstoff zu Helium unter anderem Elektron-Neutrinos. Raymond Davis jr. und seine Kollegen haben sie 1968 erstmals nachgewiesen. Dabei waren sie unerwartet auf das solare Neutrino-Rätsel gestoßen: Der gemessene Neutrino-Fluss ist zwei- bis dreimal geringer, als es die Modelle der solaren Fusionsprozesse voraussagen. Andere Experimente bestätigten dies. Das europäische Gallex-Projekt konnte 1992 auch die niederenergetischen Neutrinos aus dem Hauptzweig der solaren Fusionskette messen.
Es gab zwei Erklärungsmöglichkeiten des Defizits: Unzulänglichkeiten im Sonnen-Modell – oder reduzierte Neutrino-Raten, weil sich die Teilchen im Sonneninnern und auf dem Flug zur Erde teilweise in andere Neutrino-Arten umwandeln und sich so der Messung entziehen. Inzwischen sprechen alle experimentellen Befunde für die zweite Erklärung.
Den Ausschlag gaben die Resultate des SNO-Detektors nahe des kanadischen Orts Sudbury: Bei Berücksichtigung aller Neutrino-Arten stimmte der Messwert sehr gut mit der Voraussage des Sonnen-Modells überein, während sich für Elektron-Neutrinos allein das Defizit bestätigte. Als Detektor diente ein Tank mit 1000 Tonnen schwerem Wasser. Nur Elektron-Neutrinos spalten zuweilen das Deuterium des schweren Wassers in zwei Protonen und ein Elektron auf, während die Zerlegung in Proton und Neutron von allen drei Neutrino-Arten ausgelöst werden kann. So war es möglich, direkt auf die Oszillationen zu schließen. Das löst das Rätsel: Das „Defizit“ ist das Resultat einseitiger Messverfahren, nicht eines falschen Sonnen-Modells.
Nächstes Ziel ist, das genaue Ausmaß und den Mechanismus der Neutrino-Umwandlungen aufzuklären. Das erfordert neue Experimente. Hier hilft vor allem ein Rückgriff auf Reaktor-Neutrinos – mit denen ja das gesamte Gebiet der experimentellen Neutrino-Forschung begonnen hatte.
„Reaktoren sind bestens verstandene Antineutrino-Quellen“, sagt Andreas Piepke von der University of Alabama. Reaktoren ermöglichen deshalb Experimente unter kontrollierbaren Bedingungen. Alle bisherigen Reaktorexperimente waren in vergleichsweise geringen Entfernungen bis zu einem Kilometer ausgeführt worden – und hatten keine Hinweise auf Oszillationen ergeben.
Vor kurzem hatte ein internationales Forscherteam bei einem neuen Experiment mit wesentlich größerem Abstand von den Reaktoren auf Anhieb Erfolg – sowohl im Hinblick auf den Nachweis von Oszillationen bei Antielektron-Neutrinos, als auch bei der Bestimmung der Oszillationsparameter. Die größeren Distanzen geben den fast lichtschnellen Partikeln mehr Zeit für Umwandlungen und erhöhen somit die Chance, sie nachzuweisen. Das Team, zu dem auch Piepke gehört, nennt sich KamLAND-Kollaboration. Der Name steht für Kamioka Liquid Scintillator Anti-Neutrino Detector. Die Kollaboration besteht aus japanischen Wissenschaftlern von der Tohuku-Universität, einer chinesischen Gruppe und zehn amerikanischen Teams. Für das Experiment hatten sie zunächst einige mögliche Standorte an der amerikanischen Westküste, in Europa und in Japan geprüft und sich schließlich für die japanische Kamioka-Mine entschieden. Sie beherbergt auch den berühmten Super-Kamiokande-Detektor, der 1998 erstmals Oszillationen atmosphärischer Neutrinos nachgewiesen hatte. Die Mine ist ungefähr 180 Kilometer von den meisten Reaktoren entfernt. Etwa 79 Prozent des Antineutrino-Flusses entstehen in 26 Reaktoren, die eine Distanz zwischen 138 und 214 Kilometern haben. Der kugelförmige Detektor in 2700 Meter Tiefe wurde mit 1000 Tonnen einer Nachweis-Flüssigkeit gefüllt. Die dicke Felsschicht fängt von der kosmischen Strahlung erzeugte störende Myonen weitgehend ab. Die Reaktor-Antineutrinos durchdringen dagegen mühelos den Fels.
In einer 145 Tage dauernden Messkampagne vom 4. März bis zum 6. Oktober 2002 gelang es KamLAND erstmals, Oszillationen bei Antineutrinos nachzuweisen. Es wurden 54 Antineutrinos aufgespürt, im Durchschnitt alle 2,7 Tage eines. Das ist ein klares Defizit, denn erwartet wurden ohne Oszillationen 87. Es müssen sich also auf dem Weg zum Ort der Messung 33 Antielektron-Neutrinos in andere Antineutrino-Sorten umgewandelt haben.
Dieses Resultat für Antielektron-Neutrinos unter Laborbedingungen erlaubt Schlüsse über das Oszillationsverhalten der Elektron-Neutrinos von der Sonne, die überwiegend zu Myon-Neutrinos wurden – vorausgesetzt, Elektron-Neutrinos wandeln sich gleich wahrscheinlich in Myon-Neutrinos um wie Antimyon-Neutrinos in Antielektron-Neutrinos. Dann sind die Messungen der Sonnenneutrinos mit denen von KamLAND direkt vergleichbar.
Die Daten schränken den Spielraum der Neutrino-Massen stark ein. Präzisere Messungen werden die Werte in Zukunft verbessern. Doch die Experimente testen lediglich die Differenz von Massenquadraten und können daher keine Antwort auf die Frage geben, welchen Wert die Neutrino-Masse – speziell die Antielektron-Neutrino-Masse – hat: Aufgrund der Oszillationen steht aber fest, dass die Masse nicht Null ist – und deshalb lohnt es sich, direkte Messungen zu realisieren. Das ermöglichen insbesondere Studien des radioaktiven Zerfalls von Tritium, dem schwersten Wasserstoff-Isotop: Mit dem Experiment KATRIN wollen Forscher bis in den Bereich unterhalb eines Elektronenvolts vorstoßen. Ob das genügt, ist allerdings fraglich. Bis dahin müssen sich Physiker mit dem Wissen begnügen, dass die Masse des Elektron-Neutrinos kleiner als 2,2 Elektronenvolt ist.
Georg Wolschin