Warnung Erschrecken Sie nicht, wenn Sie dieses Heft aufschlagen und mitten in der Reportage „Der Anatomiekurs“ landen. Einige Bilder sind auf den ersten Blick etwas für härtere Nerven, geben beim genaueren Betrachten aber sehr viel von der Stimmung wieder, die einen solchen Kurs umhüllt. Der Textautor, Dr. med. Martin Lindner, 32, hat vor zehn Jahren – zusammen mit 640 Kommilitonen – selbst einen solchen Präp-Kurs hinter sich gebracht. Wohl auch deshalb gelang ihm jetzt eine einzigartig einfühlsame Reportage, die offenbart, wie Lebende von Toten lernen. Zusammen mit seinem Freund, dem Fotografen Edgar Zippel, 35, verfolgte er an der Freien Universität Berlin über Monate akribisch, was Studierende der Medizin durchleben. Die beiden hatten bei ihrer Arbeit völlig freie Hand. Sowohl Kursleiter Prof. Reinhart Gossrau als auch Prof. Renate Graf, Leiterin „ Bereich freiwillige Körperspenden“, ließen Text- und Bildautor stets gewähren. Ihnen und den beteiligten Studenten sei Dank dafür. Wir erfahren so etwas aus einer Welt, die kaum einer kennt, und die manchen unter uns abstößt. „Tabubruch und Heilung liegen in unserer Medizin ganz nah beieinander“, sagt Lindner. Das Tabu der Leichenbeschau wurde schon vor Jahrhunderten gebrochen. Längst dienen Experimente an Leichen dazu, Leben zu erhalten oder zu ermitteln, was das Ableben eines Körpers verursacht hat. Just jetzt steht ein neuer Tabubruch zur Debatte: Eine erbitterte öffentliche Diskussion ist darüber entbrannt, ob die biomedizinische Nutzung embryonaler Stammzellen mit einem Ge- oder Verbot belegt werden soll. „Leichen sind keine Menschen mehr“ , sagt der Chirurgie-Professor Jörg Rüdiger Siewert im bdw-Interview auf Seite 37. Doch ab wann ist der Mensch ein Mensch? Bereits mit der befruchteten oder erst durch die eingenistete Eizelle? Für den Fall, daß unsere Gesellschaft für Variante 1 plädiert, sei noch eine Frage nachgeschoben: Sind alle, die sich für Spiralen zur Schwangerschaftsverhütung aussprechen, dann Mordgehilfen?
Wolfgang Hess