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Täter im Pyjama

Allgemein

Täter im Pyjama
Schlafwandler leben in einer eigenartigen Zwischenwelt. Das macht sie zum beliebten Objekt für Schauergeschichten. Doch die Tatarenmeldungen entsprechen selten der schlafwandlerischen Realität. Aggressive zum Beispiel wird nur jeder tausendste Nachtwanderer.

Fassungslos stand der junge Vater eines Morgens am Bett seiner Tochter. Das Mädchen war tot. Erwürgt. Doch noch mehr als der Tod der Fünfjährigen brachte den Mann der Verdacht der Kriminalpolizei aus der Fassung: Sie warf ihm vor, seine kleine Tochter umgebracht zu haben. „Ich habe geschlafen“, beteuerte der verzweifelte Mann immer wieder. „Ich habe die ganze Nacht durchgeschlafen.“ Tatsächlich hatte er das. Und doch hatte der liebevolle Vater seine Tochter erwürgt. Er war Schlafwandler. Angst um seine Familie muß trotzdem kaum jemand haben, der wie jener junge Mann des Nachts auf die Reise geht. Denn gewalttätig – gegen sich oder andere – werden nur wenige Schlafwandler. „ Häufig reagieren sie mürrisch, wenn man sie gegen ihren Willen ins Bett zurückzubringen versucht“, berichtet Prof. Karlheinz Meier-Ewert. Der Neurologe und Psychiater im hessischen Schwalmstadt weiß: „Wirkliche Gewalttaten sind äußerst selten.“

Wie gut – denn viele Menschen sind im Schlaf auf den Beinen und wissen meist nicht einmal davon. Vor allem Kinder unternehmen häufig nächtliche Erkundungstouren. Jedes dritte richtet sich gelegentlich im Bett auf, und nicht wenige verlassen es zumindest ab und an einmal und wagen ein paar Schritte. „Solche Ausflüge beginnen, sobald Kinder laufen lernen, also zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr“, berichtet Prof. Göran Hajak, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Universität Regensburg. Meist wächst sich die nächtliche Wanderlust wieder aus, aber auch unter Jugendlichen gibt es noch 15 bis 20 Prozent „schlafende Spaziergänger“, so die Übersetzung des lateinischen Begriffs Somnambule. Im Erwachsenenalter vertritt sich jeder Fünfzigste bis Hundertste im Traumland die Beine.

Gewalttätig wird nur einer von 1000 Nachtaktiven. Wenn das passiert, ist die Tragik wie im Falle des Tochtermörders allerdings unermeßlich. Denn häufig richtet sich die Gewalt des Schlafwandlers gegen seine Angehörigen – einfach weil sie es sind, denen der nächtliche Spaziergänger begegnet. „Ein aggressiver Somnambule kämpft meist gegen imaginäre Gegner, die ihm im Traum erscheinen. Seine Tätlichkeiten sind dann zwar gegen den Bettnachbarn gerichtet. Der ist aber eigentlich gar nicht gemeint“, betont Meier-Ewert.

So wollte auch der junge Mann seine Tochter nicht töten. „Im Gegenteil, er war ein besonders liebevoller, zugewandter Vater“, sagt Göran Hajak. Allerdings gab seine Frau nach einigem Zögern zu, daß er sie im Schlaf schon häufiger gewürgt und geschlagen hatte. „Aber auch diese Aggressionen waren völlig unabhängig von der realen Situation“, so Hajak. „Nichts deutete darauf hin, daß die Beziehung zu seiner Tochter oder zu seiner Frau gestört war.“ Aus dem Verhalten von Schlafwandlern lassen sich nach Meinung Hajaks denn auch keine psychologischen Schlüsse ziehen. „ Somnambulismus ist ein körperliches Phänomen“, betont der Regensburger Schlafexperte. Seelische Faktoren könnten zwar das Schlafwandeln auslösen, aber die nächtlichen Gewalttaten als Spiegel des Seelenlebens zu interpretieren, hält er für zu weit hergeholt.

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Auf jeden Fall sind die Schlafwandler frei von Schuld. „Sie können sich fast ausnahmslos an nichts erinnern und ihre Taten im Schlaf auch nicht verantwortungsbewußt steuern“, ist Göran Hajak überzeugt. Denn die Spaziergänger der Nacht sind nur zum Teil wach. „Ihre motorischen Funktionen sind wach“, sagt der Schlafmediziner. „Weil Bewußtsein und Erinnerungsvermögen aber weiterschlafen und nicht willkürlich zu beeinflussen sind, tragen die Betroffenen für das, was sie tun, keine Verantwortung. Sie sind auch vor dem Gesetz unschuldig.“

Immer wieder muß der Regensburger Psychiater deshalb für die Justiz herausfinden, ob es möglich ist, daß ein Verbrechen tatsächlich im Schlaf begangen wurde. Eine solche nachträgliche Unter-suchung baut darauf, daß bei Schlaf-wandlern die sogenannte Schlafarchi-tektur ungewöhnlich ist. „Im Schlaflabor zeigt sich, daß der Proband die Augen öffnet und seine Muskeln zum Aufstehen anspannt, gleichzeitig geben die Messungen der Hirnströme deutliche Signale für einen leichten bis mitteltiefen Schlaf“, erklärt Hajak. „Es kommt bei Schlafwandlern gemeinhin nach einer längeren Tiefschlafphase zu einem abrupten Wechsel in die Leichtschlafphase und nicht zu einem kontinuierlichen Übergang, wie das normalerweise der Fall ist. Wenn dieser abrupte Wechsel eintritt, stehen sie auf.“ Weil das EEG (Elektroenzephalogramm) auch den Tochtermörder eindeutig als regelmäßigen Schlafwandler ausgewiesen hatte, wurde der Mann vom Vorwurf des Mordes freigesprochen.

„Die genaue Analyse ist allerdings wichtig“, betont Karlheinz Meier-Ewert. „Denn nächtliche Gewalt kommt auch unter anderen Bedingungen vor.“ Bei einer bestimmten Form der Epilepsie zum Beispiel, der Frontallappen-Epilepsie, die sich aber mit Hilfe der Hirnstrommessung eindeutig vom Schlafwandeln abgrenzen läßt. Oder bei bestimmten Schlaf-Wach-Zuständen, in denen auch ein Teil des Bewußtseins erwacht ist. Solche Zustände durchleben zum Beispiel Frauen, die als Mädchen vergewaltigt wurden, sie leiden an einer sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung. So selten Gewalttaten im Schlaf sind, bei manchen Menschen gebe es sie mit erschreckender Kalkulierbarkeit, meint Meier-Ewert. Bei Herbert P. zum Beispiel: Er führt mit seiner Frau ein ruhiges, ganz normales Leben. Der Tagesablauf der beiden ist derart regelmäßig, daß sie beinahe jeden Abend direkt nach den Tagesthemen ins Bett gehen. Mit einer ebenso verblüffenden Routine schnallt Waltraut P. dann ihren Mann mit Leder-riemen ans Bettgestell – und das nicht auf Grund ungewöhnlicher sexueller Vorlieben. Vielmehr müßte Frau P. sonst um ihr Leben fürchten. Schon öfter hat Herbert P. seine Frau des Nachts gewürgt. Das Ehepaar hat seine Konsequenzen gezogen, und Herbert P. hat sich an seine nächtlichen Fesseln gewöhnt. Es sei schwer zu begreifen, daß die gefährlichen Handlungen ihres Mannes gar nichts mit seinen Gefühlen zu ihr zu tun hätten, sagt Waltraut P. Doch sie merke sehr wohl, daß er nachts nicht bei Sinnen sei. Dies und das Wissen um seinen besonderen Zustand helfe ihr.

Maßnahmen, wie sie das Ehepaar P. ergreift, sind nach Ansicht von Neurologe Meier-Ewert der richtige Weg, die nächtlichen Aggressionen zu zügeln. Allerdings müssen sie nicht immer so drastisch sein. „In den meisten Fällen genügen einfache Strategien“, weiß er. So sollte, wer um seine nächtliche Aktivität weiß, gefährliche Gegenstände wegschließen oder die Tür versperren. Auch kann eine Klingel an der Schlafzimmertür den schlafenden Spaziergänger in die Realität zurückholen, wenn er sich auf die Socken machen will – oder seine Familie wecken, die Schlimmeres verhindern kann.

Zudem sollten die Betroffenen das meiden, was sie persönlich zum Traumwandeln bringt, schlägt Meier-Ewert vor. Denn Somnambule können herausfinden, in welchen Situationen sie gewalttätig werden: Eine fremde Umgebung gehört zu den häufigsten Auslösern. So weiß Karlheinz Meier-Ewert von einem Handlungsreisenden, der seinen Beruf aufgeben mußte, weil er im Schlaf fast jede Nacht einen Teil des Hotel-Mobiliars zu Brennholz schlug. Behandelt werden muß der Somnambulismus trotz solcher möglichen Auswüchse nur ausnahmsweise. Vor allem Jugendliche sollte man gewähren lassen, da sie ohnehin meist die Nacht wieder durchgängig im Bett verbringen, wenn sie älter werden. Zudem sind Gewalttaten unter jungen Schlafwandlern besonders selten.

Selbst wenn Erwachsene unter hartnäckigem Somnambulismus leiden und es sie mehrmals die Woche oder gar mehrmals die Nacht aus dem Bett zieht, sollten sie nach der Meinung von Experten zunächst sanfte Behandlungsmethoden erproben. Denn viele können sich die nächtliche Aktivität einfach abgewöhnen. „Weil das Schlafwandeln beim Übergang von der Tiefschlaf- in die Leichtschlafphase beginnt, hört es oft auf, wenn sich die Patienten daran gewöhnen, immer ausreichend lange zu schlafen“, meint Hajak. Ein geregelter Schlaf-Wach-Rhythmus hilft – neben Vermeidung der persönlichen Auslöser – immerhin der Hälfte der Betroffenen. Von den übrigen Nachtspaziergängern spricht wiederum jeder zweite auf Medikamente an. Schlafmittel halten die Nachtaktiven in der Tiefschlafphase. Umgekehrt können manche Medikamente die Tiefschlafphase verflachen, so daß die Betroffenen sanfter in die Leicht-schlafphase übergehen. Damit sollen die Schlafwandler vor allem vor sich selbst geschützt werden. Zwar umgehen Schlafwandler trotz ihres nur halben Erwachens Hindernisse und können sogar kilometerweit Auto fahren, ohne daß etwas passiert. „Das alles geschieht allerdings verlangsamt“, erzählt Hajak. Es geschehen jedoch immer wieder Unfälle: Auf seiner Wanderung in der Dunkelheit stürzt mancher Somnambule die Treppe hinunter, stolpert über einen Stuhl oder fällt gar aus dem Fenster. „Es ist eine Mär, daß Schlafwandler lässig auf dem Dachfirst spazieren.“

Daß Schlafwandler früher angeblich eine Vorliebe für den Vollmond hatten, könnte seiner Meinung nach allerdings zutreffen. „Zumindest gehen sie Lichtern nach“, sagt er. Allerdings läßt sich heute keine Häufung des Schlafwandelns bei Vollmond nachweisen. Das erklärt Hajak einerseits damit, daß der Mond in den Städten neben den künstlichen Lichtquellen verblaßt. „ Außerdem hat er keine mystische Bedeutung mehr.“ In früherer Zeit beunruhigte er viele Menschen. Meist ist es nämlich Streß, der Somnambule aus den Federn jagt. „Jeder Mensch reagiert anders auf Streß“, meint Göran Hajak. „Manche Menschen bekommen ein Magengeschwür, manche knirschen mit den Zähnen – und manche schlafwandeln eben.“

Schlafwandler (somnambule) gehen nachts auf Wanderschaft – und können sich am nächsten Morgen an nichts mehr erinnern. Die nächtlichen Unternehmungen beginnen meist im ersten Drittel der Nacht und können bis zu 30 Minuten andauern. Wie es zum Schlafwandeln kommt, ist bis heute unklar. Fest steht, daß eine Weckreaktion während des Tiefschlafs den Schlafwandler in Bewegung setzt, ohne daß er ganz aufwacht. Wissenschaftler vermuten als Ursache unreife Gehirnteile. Tatsächlich hören die zumeist jungen Schlafwandler mit ihren nächtlichen Spaziergängen in der Regel auf, wenn sie in die Pubertät kommen. Beim Schlafwandeln werden keineswegs Träume ausgelebt, denn im Tiefschlaf träumen Menschen nicht. Auslöser können hingegen Fieber oder Streß sein. Weil das Schlafwandeln in manchen Familien besonders häufig vorkommt, spielen vermutlich auch die Gene eine Rolle .

Der leere, starre Gesichtsausdruck der Somnambulen, der Mitmenschen Angst macht, rührt daher, daß sie fest schlafen. Sie versuchen, geradeaus zu laufen. Dabei stoßen sie oft an Möbel, die im Weg stehen, oder fallen die Treppe hinunter. Wenn sie sich des Nachts über den Kühlschrank hermachen, versuchen sie häufig, die Lebensmittel samt Verpackung zu essen. Die meisten Schlafwandler sind harmlos. Man sollte sie nicht wecken, denn das kann könnte sie in Panik versetzen. Und falls sich der Nachtaktive gerade in einer heiklen Situation befindet, kann das abrupte Erwachen gefährlich werden. Besser ist es, den Somnambulen sanft wieder ins Bett zu führen. Meist folgt er willig und schläft ruhig weiter.

Kompakt Vor allem Kinder und Jugendliche verlassen nachts ihr Bett. Schlafwandeln ist ein körperliches Phänomen und wird nicht von psychischen Problemen verursacht. Auslöser ist allerdings oft Streß, etwa durch eine ungewohnte Umgebung.

Bdw comunity INTERNET Therapie der Schlaflosigkeit nach Göran Hajak http://www.lrz-muenchen.de/~schlafzentrum/nmedhaj.htm

Schlafmedizinisches Zentrum Uni Marburg http://www.uni-marburg.de/sleep/

Medicine worldwide http://www.m-ww.de/gesund_leben/schlafen/ schlafwandeln.html

Medizinfo, unterstützt von Aventis http://www.medizinfo.com/kopfundseele/schlafen/schwandeln.htm

Lesen Ratgeber bei Schlafstörungen: Göran Hajak, Wolfgang Jordan GESTÖRTER SCHLAF – WAS TUN? Arcis 1997, DM 29,80

Oper Vincenzo Bellini La Somnambula

Christina Berndt

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