Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

THEORIE STATT TIERVERSUCH

Allgemein

THEORIE STATT TIERVERSUCH
Privat finanzierte Wissenschaftsinstitute wie das Heidelberger Institut für Theoretische Studien sind in Deutschland eine Rarität. Die beiden Geschäftsführer Andreas Reuter und Klaus Tschira blicken gerade deshalb zuversichtlich in die Zukunft. Das Gespräch führte Wolfgang Hess Andreas Reuter ist zusammen mit Klaus Tschira Geschäftsführer des HITS sowie der EML GmbH. Der 61-jährige Informatikprofessor ist außerdem Inhaber des Stiftungslehrstuhls „Verteilte Systeme“ an der Universität Heidelberg. Zuvor war er Professor an der Universität Kaiserslautern. Zusammen mit dem Turing-Preisträger Jim Gray veröffentlichte der promovierte Ingenieur das auch ins Chinesische und Japanische übersetzte Standardwerk „Transaction Processing“. Von 1997 bis 2004 engagierte sich Reuter bei der Gründung und dem Aufbau der International University in Bruchsal.

bild der wissenschaft: Auf welche Forschungsergebnisse Ihres Instituts sind Sie besonders stolz, Herr Reuter?

Andreas Reuter: Unsere Computer-Linguistik-Fachleute nutzten 2006/07 erstmals die Inhalte des elektronischen Lexikons Wikipedia für die Analyse textlicher Beziehungen. Inzwischen werden unsere Ergebnisse weltweit angewandt. Sie machen es mit viel geringerem Aufwand als bisher möglich, dass Computer Wörter – zum Beispiel Suchbegriffe – nicht nur erkennen, sondern deren Bedeutung in einem bestimmten Zusammenhang auch einordnen können. Von „Verstehen“ kann man natürlich noch nicht reden. Auch Suchmaschinen bedienen sich der von uns gefundenen Zusammenhänge. Ein zweites Beispiel sind theoretische Verfahren, die helfen, neue Medikamente zu entwickeln. Sie ersetzen langwierige und teilweise gefährliche Labortests. So können wir in unseren Rechnern große Teile bisheriger Laborversuche simulieren und dabei nachahmen, wie bestimmte Wirkstoffe auf Proteine und Enzyme wirken. Dadurch verringert sich die Zahl der Tierversuche deutlich.

Seit einem Jahr haben Sie mit Volker Springel einen mehrfach ausgezeichneten Wissenschaftler in Ihren Reihen, der seine Karriere beim Max-Planck-Institut für Astrophysik begonnen hat. Sicher erhoffen Sie sich von ihm eine gute Außenwirkung.

Andreas Reuter: Herr Springel hat äußerst interessante Ideen, wie man nach der vermuteten, aber immer noch nicht nachgewiesenen Dunklen Materie suchen kann. Dazu bildet er die Entwicklung des Universums von etwa 300 000 Jahren nach dem Urknall bis heute auf dem Rechner nach, wobei er alle wesentlichen physikalischen Gesetze zugrunde legt. Springels Simulation liefert Ergebnisse, wo sich Dunkle Materie ansammeln müsste – gibt also Hinweise, in welchen Regionen des Universums nach ihr zu suchen ist.

Anzeige

Wenn Springels Ansätze zum Erfolg führen, wäre er ein Nobelpreis-Kandidat. Und im Fall des Falles wäre das Heidelberger Institut für Theoretische Studien HITS schlagartig weltbekannt.

Andreas Reuter: Dann hätten wir – das heißt er – in der Tat einen Hit gelandet.

Was ist bei dem privat finanzierten Forschungsinstitut HITS anders als bei öffentlichen Forschungseinrichtungen in Deutschland?

Andreas Reuter: Wir schaffen Arbeitsbedingungen, die für die besten Köpfe – national und international – so interessant sind, dass sie bei uns eine Zeit lang arbeiten wollen. Eine unserer Freiheiten ist: Wir sind nicht an das öffentliche Personal- und Besoldungsrecht gebunden oder an ein oft stark reglementierendes Universitätsgesetz. Bei den Qualitätsstandards orientieren wir uns aber strikt an den Regeln der Scientific Community. Deshalb spielt die Qualität der Publikationen bei uns ebenso eine Rolle wie die Einwerbung externer Forschungsmittel.

Herrschen bei Ihnen ähnliche Verhältnisse wie an privaten US- Forschungseinrichtungen, bei denen der Präsident mit jedem Wissenschaftler individuelle Anstellungsverträge aushandeln kann?

Andreas Reuter: Es gibt Ähnlichkeiten. Dabei müssen wir nicht nach Amerika gehen. Auch die Max-Planck-Gesellschaft ist sehr flexibel in der Vertragsgestaltung mit ihren wissenschaftlichen Mitgliedern und richtet sich an den Bedürfnissen der Wissenschaftler aus.

Bekommen die am HITS angestellten Wissenschaftler auch mehr Geld als öffentlich angestellte Forscher?

Andreas Reuter: Wir sind auf eine gute Kooperation mit Universitäten und anderen öffentlichen Forschungseinrichtungen angewiesen und wollen nicht den Ruf bekommen, wir seien eine Luxusherberge für Wissenschaftler. Mit unseren Möglichkeiten gehen wir deshalb verantwortungsbewusst um.

Was veranlasste den Stifter Klaus Tschira, die Forschungsabteilung des European Media Laboratory 2010 in Heidelberger Institut für Theoretische Studien umzubenennen?

Klaus Tschira: Wie man weiß, gehört meine Liebe den Naturwissenschaften. Seit Jahren hatten wir vor, das EML Research auszudehnen. Da kam es gelegen, dass hier in der Nachbarschaft zu meiner Klaus Tschira Stiftung Gebäude und Gelände frei wurden. Diese Erweiterungsmöglichkeit ließ uns nochmals über den Namen nachdenken. Wir entschieden uns für Heidelberger Institut für Theoretische Studien, weil unsere Forscher von der Astrophysik bis zur Zellbiologie mit computerbasierten Methoden riesige Datenmengen verarbeiten und auswerten – ein durch und durch theoretischer Ansatz, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen.

Nur die wenigsten Menschen mit Vermögen setzen einen großen Teil davon ein, um Wissenschaft zu fördern. Wollten Sie dadurch etwas schaffen, das Ihnen dauerhaft Image bringt?

Klaus Tschira: An einem Imagegewinn liegt mir überhaupt nichts. Statt mich zu fragen, wieso ich mich mit meinem Vermögen für die Wissenschaft engagiere, sollten Sie eher andere Wohlhabende fragen, warum sie ihr Geld in Großjachten und nicht in der Wissenschaft anlegen. Doch zurück zu meiner Motivation. Da ich sehr breit an Naturwissenschaften interessiert bin, kann ich durch eine solche Förderung das mir Angenehme mit Nützlichem verbinden, also jene Disziplinen unterstützen, deren Ergebnisse mir wichtig sind.

Finanziert sich das HITS völlig über die Klaus Tschira Stiftung?

Andreas Reuter: Nein, so ist es nicht. Wir haben die Vorgabe, uns am Wettbewerb um Drittmittel zu beteiligen. Derzeit erhalten wir Fördermittel vom Bundesforschungsministerium BMBF und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG. Außerdem bekommen wir Förder-mittel von der EU sowie von amerikanischen Forschungsfördereinrichtungen.

Welche Dimension hat diese Fremdfinanzierung?

Andreas Reuter: Manche Gruppen sind bis zur Hälfte fremdfinanziert.

Blickt die Wissenschaftsszene in Deutschland inzwischen neidvoll auf das HITS?

Klaus Tschira: Das kann ich schlecht beantworten. Ich vermute, manche finden mein Engagement ganz gut – spekulieren vielleicht auch ein bisschen darauf, einmal daraus Nutzen zu ziehen. Andere wiederum schauen sicher mit Neid auf die Förderung durch die Klaus Tschira Stiftung.

Wie beurteilen Sie die Sache, Herr Reuter?

Andreas Reuter: Nach der Gründung des EML 1997/98 gab es schon seltsame Reaktionen. Beispielsweise von den Finanzbehörden, die uns jahrelang nachzuweisen versuchten, dass das Ganze gar nichts mit Forschung zu tun habe, sondern ein besonders cleveres Modell der Steuerhinterziehung sei. Doch das hat sich gegeben. Natürlich dauert es eine Weile, bis man in der Wissenschaft überhaupt wahrgenommen wird, wenn man bei null beginnt. Doch inzwischen haben wir uns deutschlandweit – in Ansätzen auch international – einen guten Ruf erarbeitet. Auch die Beziehung zur Wissenschaftslandschaft im näheren Umfeld hat sich in den letzten Jahren sehr positiv entwickelt. So haben wir seit 2007 mit der Universität Heidelberg ein Rahmenabkommen, das gemeinsame Projekte, gemeinsame Doktoranden und gemeinsame Berufungen vorsieht. Der Astrophysiker Volker Springel beispielsweise ist seit 2010 Professor an der Universität, hat seinen Arbeitsplatz aber am HITS und erhält von uns seine Bezüge und seine Ausstattung.

Klaus Tschira: Dass wir in kurzer Zeit ein so gutes Ansehen erworben haben, ist in erster Linie das Verdienst von Andreas Reuter.

Andreas Reuter: Einspruch! Ohne unsere guten Gruppenleiter wäre das Institut nicht so durchgestartet.

Von außen betrachtet erscheint das HITS etwas diffus. So unterhalten Sie je eine Arbeitsgruppe in Astrophysik, Computerlinguistik und Zellbiologie. Wo ist hier der Zusammenhang? Erreichen Sie mit Ihren kleinen Gruppen überhaupt eine kritische Masse?

Andreas Reuter: Klar ist, dass es in der Wissenschaft Fragestel- lungen gibt, die nur von einer großen Gruppe erarbeitet werden können – so bei der Kernfusion, bei der Teilchenphysik, in Bereichen der Molekularbiologie. Große Mannschaften braucht man in den experimentellen Bereichen. Doch der Wissenschaftsbetrieb besteht ja nicht nur darin, möglichst große Datenmengen zu ge-winnen, sondern er muss sich auch darüber Gedanken machen, wie man diese Daten sinnvoll nutzt. In den vergangenen Jahrzehnten ist weltweit sehr viel Geld in die experimentelle Wissenschaft geflossen. Und die Disziplinen, die über die Ergebnisse der experimentellen Forschung nachdenken, wurden demgegenüber vernachlässigt.

Was meinen Sie damit konkret?

Andreas Reuter: Moderne Forschungsapparaturen produzieren so viele Daten, dass sich diese nicht mehr durch einfaches „ Draufschauen“ verstehen lassen. Terabyte oder Petabyte – also Billionen oder Billarden von Messdaten lassen sich nicht in einer Grafik darstellen. Deshalb werden selbst aufwendig erhobene Daten heute oft nicht mehr angeschaut und interpretiert. Man muss sich überlegen, wie man diesen Datenozean erschließt. Der theoretische Ansatz, neue Methoden zur Verarbeitung größter Datenmengen zu entwickeln, eint alle unsere Forschungsgruppen. Ein Biologe, der sich mit riesigen Sammlungen von Sequenzdaten beschäftigt, könnte von einem Wissenschaftler Nutzen ziehen, der sich mit großen astrophysikalischen Datenmengen auseinandersetzt und seine Daten durch einen interessanten theoretischen Ansatz auf das beherrschbare Maß bereits reduzieren konnte.

Was erhoffen Sie sich in den nächsten drei Jahren vom HITS?

Andreas Reuter: Wir machen Grundlagenforschung. Und solange die Gruppen im Sinn der Grundlagenforschung erfolgreich sind – also Reputation erlangen im Kollegenkreis – können sie in ihren Disziplinen machen, was sie wollen. Das heißt: Aus der Zielsetzung der wissenschaftlichen Arbeit unserer berufenen Gruppenleiter halten wir uns heraus. Was die Entwicklung am HITS generell angeht, wollen wir in den kommenden drei Jahren die geplante Zielgröße von etwa 10 wissenschaftlichen Gruppen erreichen. Dann werden wir etwa 120 hochqualifizierte wissenschaftliche Arbeitsplätze haben. Wissenschaftlich erhoffe ich mir, dass wir auf zwei oder drei Gebieten die Entwicklung neuer Standardmethoden zur Datenauswertung wesentlich mitprägen können.

Natürlich wünschen wir Herrn Tschira noch viele Lebensjahre. Doch was geschieht mit dem HITS nach seiner Zeit?

Andreas Reuter: Wir sind gegenwärtig dabei, Strukturen zu schaffen, die das Institut dauerhaft festigen und es von der Person des Gründers dereinst entkoppeln.

Klaus Tschira: Mein Ziel ist, das HITS von der Klaus Tschira Stiftung unabhängig zu machen, damit es auf jeden Fall bestehen bleibt – ganz gleich, was meine Nachfolger in der Stiftung beschließen. ■

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

♦ Ze|re|bral|skle|ro|se  〈f. 19; Med.〉 Verhärtung der Gehirnsubstanz [<zerebral … mehr

Schweins|af|fe  〈m. 17; Zool.〉 zu den Meerkatzenartigen gehörende Schmalnase mit Schwanz: Macaca nemestrina

Art dé|co  〈[a:r deko] f.; – –; unz.〉 dem Jugendstil folgende Stilrichtung in der Kunst u. bes. im Kunstgewerbe von etwa 1920 bis 1940 [verkürzt <frz. art décorative … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige