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Tiefschlag der Hormone

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Tiefschlag der Hormone
Gefährden Umweltgifte die männliche Fruchtbarkeit wirklich? Berichte über sinkende Spermienzahlen und zunehmende Unfruchtbarkeit haben die Männer aufgeschreckt. Verantwortlich gemacht werden hormonartig wirkende Substanzen aus der Produktion von Pestiziden und Kunststoffen. Neue Untersuchungen aber schüren Zweifel an einfachen Erklärungen.

Du bist nur noch halb soviel Mann wie dein Vater“ – mit diesem Plakat wurden im Juni 1995 die Teilnehmer an der 4. Internationalen Konferenz zum Schutz der Nordsee im dänischen Esbjerg empfangen. Umweltschützer hievten mit der Aktion die Aussagen von Medizinern in die Schlagzeilen, nach denen nun bewiesen sei, daß in die Meere eingeleitete Chemierückstände die Zahl der Spermien bei Männern verringern würden. Die Chemikalien würden außerdem nicht nur zeugungsunfähig machen, sie seien auch schuld an der steigenden Zahl von Penismißbildungen und Hodenkrebs. Pestizide und Weichmacher in Kunststoffen wurden verdächtigt, die Wirkung weiblicher Hormone (Östrogene) zu imitieren.

Die Veröffentlichung einer Forschergruppe am Universitätshospital Kopenhagen hatte im September 1992 den Stein ins Rollen gebracht. Ein Team um Prof. Niels Skakkebaek war durch den Vergleich von 62 Studien über die Qualität des menschlichen Spermas in allen Erdteilen zu dem Schluß gekommen, daß die mittlere Spermiendichte zwischen 1938 und 1990 von 113 Millionen auf 66 Millionen je Milliliter Samenflüssigkeit abgenommen habe. Im Mai 1993 formulierten dann Skakkebaek und der Reproduktionsbiologe Prof. Richard Sharpe aus Edinburgh in der medizinischen Zeitschrift Lancet eine Hypothese zur Erklärung: Die abnehmende Spermiendichte werde möglicherweise durch östrogenartig wirkende Chemikalien auf männliche Embryonen im Mutterleib verursacht.

Der durch Umweltgifte erhöhte Östrogenspiegel im mütterlichen Blut soll die Vermehrung der sogenannten Sertoli-Zellen hemmen, die in den Hoden die Spermien reifen lassen. Der Lancet-Artikel hat eine dreißigjährige Vorgeschichte mit drei Hauptkapiteln, deren Inhalt schnell erzählt ist:

Bereits in den sechziger Jahren hatte eine östrogenartig wirkende synthetische Verbindung, Diethylstilböstrol (DES), Schlagzeilen gemacht. DES, vorübergehend als eine Art Wunderdroge bei einer drohenden Frühgeburt in Mode, wurde eine Zeitlang in den USA und zum Teil auch in Europa Millionen von schwangeren Frauen in hohen Dosen verabreicht. Dann stellte sich heraus, daß der künstlich herbeigeführte Östrogenüberschuß bei den Töchtern der mit DES behandelten Frauen das Risiko vergrößerte, an einer seltenen Form von Vaginalkrebs zu erkranken. Auch bei den Söhnen der DES-Frauen wurden Nebenwirkungen beobachtet: Sie litten unter Hodenhochstand, Spermienanomalien, Harnröhrenspalten, Vergrößerung der Prostata, Immunschwäche und Verhaltensstörungen. 1971 wurde DES verboten.

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Das zweite Kapitel beginnt im Jahr 1981 mit einem Chemieunfall am Lake Apopka in Florida. Dort waren größere Mengen des chlorhaltigen Insektizids Dicofol ins Wasser gelangt. Ein paar Jahre später hatten die Alligator-Männchen im Lake Apopka deutlich kleinere Penisse. Die von den Alligatorweibchen abgelegten Eier blieben meist unbefruchtet. Gleichzeitig verschob sich bei manchen Fischarten und bei den Möwen, die sich von den Fischen ernähren, das Verhältnis der Geschlechter: Es wurden immer mehr Weibchen gezählt.

Ende der achtziger Jahre machte sich die Biologin Theodora Colborn daran, das Phänomen zu untersuchen. Sie arbeitet heute für die US-Abteilung des Worldwide Fund for Nature (WWF) und in einer Umweltschutzkommission der US-Regierung. Ihrer Überzeugung nach gibt es für die „Verweiblichung“ der Tierwelt nur eine Erklärung: Das Dicofol hat wie eine geballte Ladung von Östrogenen gewirkt.

Im Juli 1991 ging dann im amerikanischen Racine/Wisconsin eine Gruppe von Toxikologen, Ökologen, Endokrinologen, Entwicklungsbiologen und Psychiatern an die Öffentlichkeit. Die Forscher sorgten sich um die in schadstoffbelasteten amerikanischen Seen beobachteten auffälligen Störungen der Fortpflanzungsfähigkeit und des Sexual- und Brutpflegeverhaltens von Fischen, Reptilien, Vögeln und Säugern und warnten vor ähnlichen Wirkungen auf den Menschen.

Skakkebaeks Studie von 1993 schien diese Befürchtungen zu bestätigen. Doch im vergangenen Jahr häufte sich Kritik an seiner Arbeit. Zunächst widersprach der New Yorker Mediziner Prof. Harry Fisch der These von den abnehmenden Spermienzahlen. Er hatte Anfang 1996 Samenproben von mehr als 1200 Männern aus New York, Minnesota und Los Angeles ausgezählt und war für die drei Städte auf durchschnittliche Werte von 131, 101, und 73 Millionen Spermien pro Milliliter gekommen – in jedem einzelnen Fall weit mehr als Skakkebaek den Männern bescheinigt hatte. Sein Kollege Alvin Paulsen von der Washington-Universität hatte in Seattle von 1972 bis 1993 statt einer Verringerung sogar einen Anstieg der Spermienzahl um zehn Prozent registriert. Damit war die Konfusion perfekt.

Eine harsche Methodenkritik veröffentlichten kurz darauf der Privatdozent Dr. Alexander Lerchl und Prof. Eberhard Nieschlag vom Institut für Reproduktionsmedizin der Universität Münster im Deutschen Ärzteblatt. Danach stehen alle bisher genannten Zahlen im Zweifel:

Zum einen, das zeigten Vergleiche, kommen die heute üblichen computergestützten Zählverfahren im Schnitt auf niedrigere Werte, als wenn das menschliche Auge durch das Mikroskop schaut, wie es noch in den vierziger und fünfziger Jahren üblich war. Dann gibt es große Unterschiede je nach Region. Finnen haben im Durchschnitt eine erheblich höhere Spermiendichte als Engländer. In den USA bringt es ein Kalifornier auf durchschnittlich 73 Millionen Samenzellen, ein New Yorker auf die genannten 131 Millionen. Auch die Anzahl der Tage sexueller Enthaltsamkeit vor der Samenspende, ja selbst die Jahreszeiten und der bevorzugte Unterhosentyp wirken sich auf die Spermiendichte aus. Liebhaber von legeren Boxershorts haben mehr Spermien als die Träger hodenquetschender Minislips.

Ein besonders schwerer Einwand gegen das Zusammenlegen verschiedener Studien betrifft die Zählweise in den Untersuchungslabors. Die Forscher vom Institut für Reproduktionsmedizin der Universität Münster verschickten unterschiedliche Ejakulatproben an verschiedene Labors und verglichen die Ergebnisse. Dabei kam es zu Abweichungen um 70 Prozent.

Wie es also wirklich um die Qualität und Quantität der Spermienproduktion steht, weiß heute niemand. Dennoch hat der Streit der letzten Jahre wichtige Erkenntnisse gebracht. Vor allem die hormonartig wirkenden Schadstoffe aus der chemischen Produktion bleiben im Brennpunkt des Interesses. Denn – das ist unbestritten – schon wenige Mikrogramm mehr oder weniger von echten Östrogenen oder Östrogen-Imitaten aus der Umwelt genügen, um die Geschlechtsdifferenzierung eines Embryos im Mutterleib nachhaltig zu stören.

1991 änderte deshalb die US-Umweltbehörde EPA ihre Prinzipien der Bewertung von Chemikalien. Während bis dahin die Krebsgefahr im Vordergrund stand, bekam jetzt ihr möglicher Einfluß auf Fortpflanzung und Entwicklung von Fischen, Vögeln und Menschen ein stärkeres Gewicht.

Bis heute wurden über 50 Verbindungen identifiziert, die in den Hormonhaushalt eingreifen. Darunter befinden sich bekannte Gifte wie das bei uns seit langem verbotene Pestizid DDT, einige der über 200 Polychlorierten Biphenyle (PCB) und Dioxin, aber auch Naturstoffe wie Lignane (zum Beispiel Indol-3-Carbinol aus Broccoli) oder Isoflavonoide (aus Soja). Dabei muß man drei Klassen dieser Pseudohormone unterscheiden: Die einen werden zwar von den Östrogen-Rezeptoren wie das natürliche Hormon akzeptiert, sie schaffen es aber nicht, östrogensensible Gene zu aktivieren. Weil sie die Östrogen-Rezeptoren nur blockieren, wirken die hormonartigen Substanzen aus Broccoli und Soja eher positiv – als Anti-Östrogene in der Flut natürlicher und künstlicher Hormone. Damit verringern sie das Risiko von Brust-, Prostata- und Dickdarmkrebs. Im Übermaß können aber auch sie zu Fruchtbarkeitsstörungen führen.

Zur zweiten Klasse gehört das synthetische Östrogen DES, das beim Ankoppeln an die Zellrezeptoren genetische Programme auslöst, die – auch bei Männern – weibliche Funktionen aktivieren.

Die dritte Gruppe von Stoffen übt ihre verweiblichende Wirkung nicht dadurch aus, daß sie an den Östrogen- Rezeptoren andockt, sondern indem sie die Rezeptoren für das männliche Hormon Testosteron (Androgen-Rezeptoren) blockiert. Das ist der Fall beim DDE, einem Abbauprodukt des Pestizids DDT.

Eine Konzentration von 60 Teilen in einer Milliarde (60 ppb) reicht aus, um die Wirkung der Testosterone spürbar zu dämpfen. Bei den Alligatoren des Lake Apopka wurden bis 5800 ppb nachgewiesen. Ähnlich wie DDE wirken das als Ersatz für DDT eingeführte Insektizid Methoxychlor sowie das Pilzbekämpfungsmittel Vinclozolin. „Männlichkeitsblokker“ (Anti-Androgene) können also die Fruchtbarkeit ebenso beeinträchtigen wie „Verweiblichungshormone“ (Umwelt-Östrogene), die bislang am meisten Aufsehen erregt haben.

Schwieriger ist die Einordnung der als Kühl- oder Isolierflüssigkeit eingesetzten PCB. Je nach ihrer räumlichen Molekülstruktur wirken diese chlorhaltigen Kohlenwasserstoffe als Östrogene oder Anti-Östrogene. Die Umweltbehörde EPA arbeitet inzwischen mit dreidimensionalen Molekülmodellen, die auch die Verteilung der elektrischen Ladungen berücksichtigen und es so erlauben, das östrogene oder anti-östrogene Potential der verschiedenen PCB realistisch abzuschätzen. Noch komplizierter wird das Bild dadurch, daß manche dieser Substanzen gar nicht mit den nachgeschalteten Hormonrezeptoren reagieren, sondern schon in den Auf- oder Abbau von Hormonen selbst eingreifen.

Besonders kontrovers werden seit 1995 die möglichen östrogenartigen Effekte von Alkylphenolen (AP), Alkylphenolethoxylaten (APEO) und Phtalaten diskutiert. Es handelt sich dabei um Allerwelts-Chemikalien, die sich als Weichmacher oder Antioxidantien in Kunststoffen und Waschmitteln finden. Ihr östrogenes Potential wurde ganz zufällig bei der Untersuchung des Einflusses von Östrogen auf menschliche Brustkrebszellen entdeckt:

In einem Labor an der Tufts Medical School in Boston waren die Kontrollproben immer wieder mit einem östrogenartig wirkenden Stoff verunreinigt. Wie sich herausstellte, handelte es sich um p-Nonylphenol, das im Plastik der Prüfröhrchen steckte. Diese Überraschung und ihre Folgeuntersuchungen waren der Anlaß für die Plakat-Aktion der Umweltschützer bei der Nordseekonferenz 1995 in Dänemark. In ihrem Buch „Die bedrohte Zukunft“ (siehe „Zu unseren Themen“, Seite 123) nimmt die Biologin Theodora Colborn die sinkende Spermiendichte zwar noch als Tatsache an – trotz der methodischen Zweifel. Sie sagt aber auch, direkt beweisbar sei der Zusammenhang mit den hormonähnlich wirkenden Chemikalien in der Umwelt nicht. Viel ernster als Probleme mit der Fruchtbarkeit schätzt sie andere Effekte der Umwelt-Östrogene ein: sinkende Lernfähigkeit, abnehmende Toleranz gegen Streß und steigende Aggressivität.

Schützenhilfe erhielt Theodora Colborn vor Jahresfrist von dem schottischen Reproduktionsbiologen Prof. Richard Sharpe. Er berichtete von Experimenten an trächtigen Ratten mit DES und ähnlichen Chemikalien im Trinkwasser. Der männliche Rattennachwuchs wurde im Schnitt zwar größer, produzierte aber bis zu 21 Prozent weniger Spermien als die Tiere der unbehandelten Kontrollgruppe. Weil die Ergebnisse angezweifelt wurden, läßt der Chemiekonzern Monsanto die Untersuchung zur Zeit wiederholen. Die Kunststoffindustrie beeilte sich zudem mit dem Hinweis, Weichmacher – wie verschiedene Phtalate – würden nur im Reagenzglas, nicht aber unter realistischen biologischen Bedingungen östrogenartig wirken.

Dieser Argumentation widersprachen im Juni 1996 die amerikanischen Hormonforscher Prof. Steven Arnold und eine Reihe von anderen Autoren in einem Artikel im Wissenschaftsmagazin Science. Dort wiesen sie auf mögliche Kombinationswirkungen verschiedener schwacher „Umweltöstrogene“ hin. Sie hatten bei Experimenten im Reagenzglas beobachtet, daß schwach östrogen wirkende Pestizide wie Dieldrin, Endosulfan oder Toxaphen tausendmal stärker wirken, wenn sie gleichzeitig auf einen Organismus einwirken.

Widerspruch dazu gab es im Oktober in Kaiserslautern auf einem Symposium über die Wirkung von Hormonen in der Nahrung. Dort herrschte die Meinung vor, die Kombinationswirkung mehrerer schwacher Östrogene würde sich allenfalls summieren, aber nicht multiplizieren.

Experten der chemischen Industrie wie Claus-Dierk Hager von der Hüls AG oder Gerhard Gans von der BASF bestreiten darüber hinaus, daß die östrogene Wirkung von Phtalaten und AP/ APEO mit der Wirkung von DES verglichen werden könne. Denn während das synthetische DES zehnmal stärker wirkt als natürliches Östradiol, haben Umwelt-Östrogene aus der Kunststoffproduktion erst in der tausend- bis millionenfachen Konzentration die gleiche Wirkung. Deshalb dürften sie nicht von vornherein als Gefahr für den Menschen gewertet werden.

Der Hormonforscher Prof. Hermann Bolt, Leiter des Instituts für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund, und seine Mitarbeiterin Dr. Gisela Degen stimmen dieser Einschätzung zu.

Sie warnen davor, die Verweiblichungssymptome, die man bei Fischen oder Reptilien beobachtet hat, ohne weiteres als Gefahr für Säuger – den Menschen eingeschlossen – zu interpretieren. Diese können weibliche Hormone viel besser neutralisieren – besonders für männliche Embryonen ein lebensnotwendiger Schutz gegen den Organismus der Mutter.

Dennoch: Nicht einmal die chemische Industrie erlaubt es sich, die vermehrten Hinweise auf eine sinkende Fruchtbarkeit von Männern, auf eine Zunahme von Tumoren und Mißbildungen der Genitalien sowie von hormonabhängigen Intelligenz- und Verhaltensstörungen auf die leichte Schulter zu nehmen.

Die Verantwortlichen schließen nicht aus, daß die Umweltorganisationen mit ihren Warnungen eine Lücke in der bisherigen Risiko-Bewertung von Chemikalien gezeigt haben. Die Chemie-Verbände in Deutschland (VCI), Europa (CEFIC), Nordamerika (CMA) und Japan (JCIA) haben deshalb im vergangenen Jahr elf Millionen Dollar für ein dreijähriges Forschungsprogramm zur Verfügung gestellt, das die strittigen Fragen bis zum Jahr 1999 klären soll.

Edgar Gärtner

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