Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Titelthema: Globalisierung – Nicht ohne Fair play!

Allgemein

Titelthema: Globalisierung – Nicht ohne Fair play!
Im 21. Jahrhundert sollen von der Öffnung der Grenzen alle profitieren. Die Geschichte spricht dagegen.

Unversehens finden sich zwei Vordenker – an entgegengesetzten Polen der politischen Meinungsbildung angesiedelt – auf einer gemeinsamen Plattform wieder: Prof. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Leiter der Max-Planck-Forschungsstelle für Verhaltensforschung in Andechs, und Prof. Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Leiter des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Während der eine gern von politischen Rechtsaußen zitiert wird, gilt der andere als Kronzeuge der ökologisch und sozial denkenden Linken. Was sie eint, ist ihre ketzerische Frage, ob in unserer Welt, die an der Schwelle zum 21. Jahrhundert gerade alle Schranken abbaut, nicht doch Grenzen notwendig sind.

Eibl-Eibesfeldt verweist auf die Konflikte überall dort, wo verschiedene Herden von Menschentieren um Rohstoffe, Raum und Nahrung konkurrieren, und er fragt, ob Kriege und Morde nicht vermeidbar wären, wenn nur jede Volksgruppe in ihren Grenzen bliebe. Dabei mag der eine an die Massaker zwischen Hutu und Tutsi in Afrika denken, der andere an die Aggression gegenüber vermeintlichen türkischen Arbeitsplatzkonkurrenten vor der eigenen Haustür.

Auch von Weizsäcker betont die schützende Funktion von Grenzen, wenn er sich den Thesen der Globalökonomen entgegenstellt. Die Globalisierer versprechen zwar wachsenden Wohlstand für jedermann gerade durch die Aufhe- bung aller Schranken, durch den ungehemmten Fluß von Energie, Rohstoffen, Waren, Informationen und Geld. Doch genau dieses „für jedermann“ ist bisher durch die Geschichte stets widerlegt worden. Jedes Öffnen von Grenzen – ob freiwillig oder unfreiwillig – hat vor allem die Starken stärker gemacht. Weil aber die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, sind Verlierer und Verluste bald aus den Gedanken verdrängt.

Der internationale Kongreß „Grenzen-los?“ hat dies vor wenigen Wochen noch einmal bewußtgemacht, wenn auch die Erinnerung an Verlorenes und die Mahnung, was demnächst verloren zu gehen droht, die Globalisierungsdampfwalze kaum verlangsamen wird.

Anzeige

Bernd Guggenberger, Professor für die Ökonomische Analyse politischer Systeme an der FU Berlin, erinnerte an das Beispiel Indonesien: Auf den rund 13600 Inseln dieses Pazifikstaates gab es ursprünglich 1100 Sprachen, „vielleicht sogar 1100 Philosophien“. Seit Beginn der Kolonialisierung und Industrialisierung sind noch 30 Sprachen übriggeblieben, demnächst würden es wohl noch 3 sein. Aber wie viele Sprachen und Philosophien wiegen einen Dollar auf?

Der freie Welthandel, dem die Grenzüberschreitungen von Kolumbus und Magellan den Weg bahnten, bescherte einigen Menschen Reichtümer und vielen Menschen Gewinn. Er besiegelte aber auch das Schicksal der meisten Völker in Süd- und Nordamerika. Millionen haben verloren, nicht nur ihre Traditionen, auch Leben und Gesundheit.

Denen aber, denen die Kulturen und Völker auf der anderen Seite des Globus egal sind, solange es ihnen selbst gut geht, hält der britische Europa-Parlamentarier Sir James Goldsmith Statistiken entgegen, nach denen in allen Industrieländern die Einkommen der Arbeiter und Ungelernten fallen, während die Unternehmensgewinne steigen. „Die Starken sind es, die die Globalisierung fordern“, sagt er, „weil sie ihnen die Möglichkeit verschafft, die Schwachen gegen die Schwächsten auszuspielen.“

Niemand bestreitet, daß die Öffnung der Grenzen vielen der ärmsten Menschen mehr Einkommen gebracht hat: den Teppichknüpfern und Hemdenschneidern in Indien, den Gurkenpflükkern aus Polen, den Bauarbeitern aus Portugal. Gemessen an den Verhältnissen, in denen sie vorher gelebt haben, geht es ihnen besser. Den grenzenlos operierenden Unternehmern auch. Mit den eingesparten Löhnen – sie erhalten die gleiche Arbeitsleistung für 5 statt für 50 Mark – bessern sie ihre Gewinne auf.

Am obersten und am untersten Ende der Wohlstandstreppe steigen also die Menschen einige Stufen höher – für die vielen in der Mitte allerdings heißt es: „Gehe zwei Stufen zurück.“ Unter der Drohung „weniger oder nichts“ sind zumindest in den USA und Großbritannien inzwischen viele Menschen zwangsläufig bereit, unsichere Jobs mit niedrigeren Löhnen zu akzeptieren.

Zur Rechtfertigung lassen die „global player“ ihre nationalen Regierungen – die politischen Wegbereiter der grenzenlosen Weltgesellschaft – auf die neuen Arbeitsplätze verweisen. Das sieht in der Statistik gut aus, auch wenn die Summe der Löhne und Gehälter nur auf mehr Köpfe verteilt wird. Das Ergebnis ist Annäherung auf niedrigerem Niveau: Selbst Facharbeiter müssen in den USA Stundenlöhne von 19 Mark akzeptieren. Auch in Deutschland verschiebt sich der gemeinsame Mittelpunkt zwischen denen in der Mitte der Treppe und denen an ihrem Fuß nach unten, nicht durch Nivellierung, sondern durch Polarisierung: Immer weniger Menschen arbeiten immer länger, aber immer mehr gar nicht. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik lebten so viele Menschen von Arbeitslosengeld – auch eine Folge der Globalisierung.

Zwei Schlagzeilen aus dem Wirtschaftsteil einer großen deutschen Zeitung – am gleichen Tag, auf der gleichen Seite – machen anschaulich, was Zahlen nur abstrakt ausdrücken:

„Kräftiges Wachstum, aber auch mehr Arbeitslose erwartet“, „Champagner gewinnt, Sekt stagniert, Spumante verliert“.

Dabei scheint die Annahme erlaubt, daß die Arbeitslosen und Einkommensschwachen eher auf Sekt verzichtet haben, statt auf Champagner umzusteigen. Den trinken die Gewinner. Klaus Steilmann, Unternehmer und Mitglied des Club of Rome, kommentiert: „Der Wirtschaft geht es glänzend, die Gesellschaft geht pleite.“

Unter diesen Umständen geraten die Verfechter der grenzenlosen Liberalisierung in Argumentationsnot. Da ist der Tübinger Volkswirt Prof. Joachim Starbatty. Er warnt in einem Aufsatz eindringlich davor, die Globalisierung zu dämonisieren. Selbstverständlich würden vom freien Fluß der Waren alle mehr profitieren, als wenn sich einige aus Angst vor dem Wettbewerb in eine Wagenburg zurückzögen, innerhalb derer man Arbeit und Einkommen nur unter sich verteilt.

Ein paar Sätze später widerlegt er sich selbst, indem er darauf verweist – was wohl ermutigend wirken soll – daß ja Deutschland bisher ein Gewinner der Globalisierung war. Wörtlich: „Die deutsche Wirtschaft verdrängte Konkurrenten, sie wurde reich.“ Und die Konkurrenten? Starbatty hat sicher recht, daß das Weltsozialprodukt durch den Freihandel gestiegen ist. Aber an dem Märchen, daß jeder dabei gewonnen hat, kann sich die deutsche Stahl- und Textilindustrie nicht erfreuen.

Widersprüchlich ist auch die Regierungshaltung der Industrieländer, die einerseits die Globalisierung predigen, andererseits die Grenzen dicht machen. Asylsuchende werden abgewiesen, zum Schutz der heimischen Arbeitnehmer als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet. Dabei nehmen sie nur in Anspruch, dorthin zu gehen, wo sie glauben, daß sie es besser haben könnten. Sind nicht auch die Unternehmer Wirtschaftsflüchtlinge, wenn sie ihre Betriebe dahin verlagern, wo sie sich mehr Gewinn erhoffen?

Eine andere Art von Grenzen stellt die Vielzahl von Protektionen und Subventionen dar: Das deutsche Entsendegesetz soll die Bauindustrie schützen, milliardenschwere Stahl- und Kohlesubventionen entsprechen auch nicht den Regeln des lautstark propagierten freien Wettbewerbs. Grenzen, so muß das Fazit aus Sicht der Starken lauten, sind abzuschaffen, wenn sie die eigene Ausdehnung behindern, Grenzen sind nötig, wenn sie helfen, Vorteile zu bewahren.

Doch natürlich läßt sich der Abbau der Grenzen nicht aufhalten. Schrittmacher war immer die Wirtschaft. So verschmolz die EWG, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, zur EG und dann zur EU, der Europäischen Union, Vorläufer der Vereinigten Staaten von Europa. Die freie Wahl des Wohn- und Arbeitsortes, über die heute bestehenden nationalen Grenzen hinweg, ist die unvermeidbare Folge. Das gilt für Bauarbeiter genauso wie für Fußballspieler.

Eine Illusion ist deshalb das Vorhaben der 1994 aus der Taufe gehobenen nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA (USA, Kanada und Mexiko), bis 2015 zwar alle Schranken für den Handel abzubauen, die Menschen aber in ihren Grenzen einsperren zu wollen. Die Menschenströme folgen den Warenströmen. Auch Eibl-Eibesfeldt weiß, daß keine Barriere einen Menschen aufhalten kann, wenn die Kirschen in Nachbars Garten locken. Natürlich fordert auch von Weizsäcker nicht die Rückkehr zur nationalen Abschottung – nur ein paar Regeln zum fairen Umgang miteinander. Wer aber soll sie schreiben?

Dennoch: Die Welt des 21. Jahrhunderts wird weniger Grenzen haben – trotz national-regionaler Tümeleien ç la Padanien (Norditalien) oder Quebec (Kanada). Es darf aber kein Tabu sein, zu sagen, daß, wenn auch viele vieles gewinnen werden, die Welt durch die Globalisierung gleichzeitig um einiges ärmer wird – um Völker und um Philosophien. Auch viele Menschen werden verlieren, deren Fähigkeiten nicht mehr gebraucht werden, die den Starken nicht mehr nutzen. Daß allerdings die, die heute den Abbau von Grenzen zu ihrem Vorteil forcieren, morgen tatsächlich zu den Gewinnern zählen, ist ihnen nicht garantiert.

Jürgen Nakott

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Misch|pult  〈n. 11; Film, Funk, TV〉 Gerät, an dem die einzeln aufgenommenen Tonspuren von Geräuschen, gesprochenem Text u. Musik auf einem Tonband zu einem einheitl. Klanggebilde vereinigt werden

Hy|per|glyk|ä|mie  auch:  Hy|per|gly|kä|mie  〈f.; –; unz.; Med.〉 vermehrter Blutzuckergehalt; … mehr

Schwer|in|dus|trie  auch:  Schwer|in|dust|rie  〈f. 19; unz.; Sammelbez. für〉 Großeisen– u. Stahlindustrie u. Bergbau … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige