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Titelthema – Mörderische Forschung: Tot oder berühmt

Allgemein

Titelthema – Mörderische Forschung: Tot oder berühmt
Was Forscher wagen, um ihre Thesen zu beweisen. In Medizin und Pharmazie sind zahlreiche Entdeckungen Menschen zu verdanken, die für ihre Überzeugungen bis zum Äußersten gingen: Todesverachtende experimentierten sie am eigenen Körper.

Der Mann war sich wohl bewußt, welches Risiko er einging. „Es konnte meinen Tod bedeuten, und deshalb zögerte ich lange, bevor ich meine Theorie in die Praxis umsetzte“, schrieb er. „Aber die möglicherweise bevorstehende Entdeckung war so einzigartig und bedeutend, daß ich alle Mahnungen zur Vorsicht in den Wind schlug.“

Eines Nachts mischte er die nötigen Ingredienzien zusammen und kippte den Trank mit Todesverachtung hinunter. Der Preis, den er für die gewonnene Erkenntnis zahlte, war hoch: Um seine Mitmenschen vor dem Wesen zu schützen, das er höchstpersönlich ins Leben gerufen hatte, blieb ihm nur die Selbstvernichtung.

Diese Schilderung eines wissenschaftlichen Selbstversuchs wurde weltberühmt: Es ist die fiktive Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die Robert Louis Stevenson 1886 niederschrieb. Doch für tragisch endende Selbstversuche hätte der Schriftsteller aus Edinburgh genausogut auf die Realität seiner Zeit zurückgreifen können. Im 19. Jahrhundert war es in Medizinerkreisen fast an der Tagesordnung, gefährliche Ex-perimente zuerst an sich selbst vorzunehmen.

1802 infizierte sich der englische Arzt Andrew White in einem ägyptischen Krankenhaus in voller Absicht mit Malaria. Damit nicht genug: Anschließend steckte er sich mit Sekret aus dem Geschwür eines Pestkranken gezielt mit dem Schwarzen Tod an. White vermutete Zusammenhänge zwischen den beiden Krankheiten und wollte – durch Reaktion seines Körpers auf die Malaria-Infektion – den Effekt einer Pest-Schutzimpfung erzielen. Doch seine Theorie hätte nicht falscher sein können. Innerhalb von sechs Tagen starb Andrew White in schwerem Delirium.

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Einem ebenso folgenschweren Irrtum fiel Eusebio Valli, Professor aus Pisa, im Jahr 1816 zum Opfer. Überzeugt, daß das Gelbfieber nicht ansteckend sei, rieb er sich demonstrativ mit dem beschmutzten Hemd eines soeben daran Verstorbenen ein und legte sich noch dazu neben den Leichnam aufs Totenbett. Zwar kann sich Valli, wie man heute rekonstruiert hat, bei diesem makabren Experiment tatsächlich nicht angesteckt haben. Und doch starb er drei Tage nach seinem Selbstversuch an Gelbfieber: Er muß bereits zuvor durch infizierte Mücken gestochen worden sein.

Ob Syphilis oder Malaria, ob Lepra, Schlafkrankheit oder Fleckfieber: Jede dieser Krankheiten brachte im vorigen Jahrhundert ihre medizinischen Heroen hervor, die ihre Hypothesen nicht nur – wie damals allgemein üblich – an Soldaten, Sklaven, Gefangenen oder Mitgliedern der eigenen Familie testeten, sondern auch an sich selbst.

Da ließen sich Ärzte von Malariamücken und Tsetsefliegen stechen, um die Übertragungswege dieser Krankheiten zu beweisen. Da nahm der russische Nervenarzt Ossip Motschutkowski über 40 Grad Fieber, Delirium, Koma und lebenslange Herzrhythmus-Störungen in Kauf, um zu belegen, daß Typhus durch Bluttransfer übertragen werden kann.

Der deutsche Mediziner Lindemann ließ sogar den eigenen Körper durch Schankergeschwüre zerfressen, um eine Irrlehre über die Entstehung der Syphilis zu widerlegen. Die Pariser Akademie der Wissenschaften, die diese Versuche kontrollieren sollte, flehte ihn an, das Experiment sofort abzubrechen – er könne sonst sterben.

Lindemanns Antwort: „Um so besser. Mein Tod wird beweisen, daß die Lehre von der Syphilisation ein schrecklicher Irrtum ist, und neues Unglück verhüten.“ Der Wagemutige hatte zwar recht mit seiner These – aber trotz seiner Selbstaufopferung blieb der Großteil der Ärzteschaft bei der herrschenden Irrmeinung.

Nicht selten sind Selbstversuche von Ärzten das letzte, verzweifelte Mittel, um andere zu überzeugen. Dies gilt beileibe nicht nur für wissenschaftliche Außenseiter. Auch der berühmte Münchener Hygieniker Max Pettenkofer schluckte im Alter von 74 Jahren furchtlos ein Glas Wasser mit rund einer Milliarde Cholerabakterien, um zu beweisen, daß die Erreger alleine nicht ausreichen, die Krankheit hervorzurufen. Er behauptete, es müßten eine „zeitlich-örtliche Komponente“ und eine „individuelle Disposition“ hinzukommen.

Der mutige Schritt brachte allerdings keine neuen Erkenntnisse. Pettenkofer bekam eine Darmverstimmung mit allen Zeichen einer leichten Cholera. Doch warum diese Krankheit beim einen Menschen leicht und beim anderen tödlich verläuft, ließ sich so nicht klären – ebensowenig bei rund 40 weiteren Selbstversuchen.

Die meisten jedoch unternahm der russische Immunologe und Zoologe Ilja Metschnikow, der 1908 für seine Arbeiten über Immunität mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt wurde.

Auch der Entdecker der Cholera-Bakterien, Robert Koch, riskierte 1890 einen Selbstversuch. Er injizierte sich ein Mittel gegen Tuberkulose und hatte danach mit starken Nebenwirkungen zu kämpfen. Jonas Salk, Entdecker des ersten Impfstoffs gegen Kinderlähmung, testete 1953 seine abgetöteten Polioviren ebenfalls zuerst an sich selbst.

„Es sind oft gerade die idealistischen Ärzte, die zum Selbstversuch greifen, wenn sie nicht mehr weiterwissen“, sagt Gunther Schmidt. Er ist Psychotherapeut, Klinikchef und Leiter des Milton-H.- Erickson-Instituts in Heidelberg, das sich auf die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsexperten sowie die entsprechende Beratung von Firmen spezialisiert hat. Der Psychotherapeut ist überzeugt: Bei den medizinischen Hasardeuren ist nicht Ruhmsucht das handlungsbestimmende Element, sondern das sichere Gefühl, einem höheren Ganzen dienen zu müssen.

„Solche Personen haben ein geradezu missionarisches Sendungsbewußtsein. Abwertend könnte man es auch als Größenwahn bezeichnen, aber so negativ möchte ich es nicht sehen. Diese Ärzte setzen das eigene Wohlergehen erst an die zweite Stelle – hinter die Pflicht, sich notfalls für das Allgemeinwohl zu opfern“, erläutert Schmidt.

Solche Menschen seien auch durchaus nicht naiv, sondern sich des Risikos sehr bewußt – „sogar so sehr, daß sie sagen: Das kann ich keinem anderen zumuten, das kann ich nur an mir selbst testen.“ Der Selbstversuch gebe ihrem Leben Erfüllung und einen höheren Sinn. Doch mitunter könnten die Experimente auch einem pragmatischen Ziel dienen.

Schmidt hat entsprechende Erfahrungen: „Ich habe einmal an mir selbst ausprobiert, wie chemische Neuroleptika auf den Organismus wirken, um einschätzen zu können, wie sich Patienten dabei fühlen“, berichtet er. Er verfolgt das psychotherapeutische Konzept der Verhaltensintervention, um beispielsweise Patienten aus Angstzuständen herauszuhelfen – etwa durch Neuroleptika. Im Vorfeld dieser Interventionen setzt Schmidt sogar regelmäßig auf Selbstversuche.

Auch bei homöopathisch arbeitenden Ärzten sind Experimente am eigenen Körper ein natürlicher Bestandteil ihrer Berufspraxis. Dies geht auf die Selbstversuche von Samuel Hahnemann – dem Begründer der Homöopathie – mit Chinarinde und zahlreichen anderen Stoffen zurück. 1796 formulierte er sein Fazit, wonach „Arzneimittel ähnliche Krankheiten heilen, wie sie bei Anwendung am gesunden Menschen hervorrufen können“.

Um einen Arzneistoff zu finden, der den Organismus des Kranken zu einer Reaktion befähigt, sollen homöopathisch arbeitende Ärzte zunächst ein möglichst ganzheitliches Bild des Patienten und seiner Krankheit erstellen. Dieses Bild wird in Ähnlichkeit zu der Wirkung gesetzt, die ein Arzneistoff bei einem Gesunden verursacht.

Wenn der homöopathisch arbeitende Arzt in der Literatur keine Entsprechung findet, ist er auch heute noch angehalten, sie im Selbstversuch herauszufinden. Er soll jede Veränderung, die er nach Einnahme der verdünnten Medikamente an sich bemerkt, notieren und die gewonnenen Erkenntnisse an andere weitergeben. Auf diese Weise ist in über 200 Jahren eine sehr umfangreiche homöopathische Literatur mit den Wirkungen der verschiedensten Substanzen entstanden.

Doch bei Selbstversuchen geht es nicht immer nur um die Wirkung von Medikamenten oder die Entstehung von Krankheiten. So entdeckte zum Beispiel Horace Wells 1844 im Selbstversuch mit einem chemischen Mittel etwas, das ihm die Dankbarkeit von Millionen Menschen sicherte: die betäubende Wirkung von Lachgas. Der amerikanische Zahnarzt ließ sich unter Lachgas-Narkose einen Zahn ziehen und verwendete das Gas von da an regelmäßig in seiner Praxis.

Auch die Wirkung eines weiteren chemischen Stoffes wurde im Selbstversuch ermittelt: In den Jahren 1938 bis 1943 unternahm Albert Hofmann in den Labors der Sandoz AG in Basel zahlreiche Experimente mit künstlich veränderten Abkömmlingen des Mutterkorngifts, um ein Mittel zur Kreislauf-Stimulierung zu finden. Was er entdeckte, war etwas völlig anderes: Lysergsäure-Diethylamid (LSD).

Als Hofmann ein wenig davon schluckte, waren die Folgen phänomenal. In seinen Erinnerungen beschreibt er, daß er auf dem Fahrrad kaum noch den Weg nach Hause fand. Die Lichterscheinungen und die Wahnvorstellungen waren so überwältigend, daß er sicher war, sterben zu müssen oder doch zumindest verrückt zu werden.

Heute ist klar, daß Hofmann großes Glück hatte. Zwar hatte er nur die minimale Menge von 0,25 Tausendstelgramm eingenommen, aber die Wirkung von LSD völlig unterschätzt. Seine künstlich erzeugte Droge ist mindestens 5000mal stärker als das vom Effekt vergleichbare Pilz-Halluzinogen Mescalin.

Einen ebenso spektakulären Selbstversuch, der am Ende Medizingeschichte schreiben sollte, unternahm 1929 Werner Forssmann – ein 25jähriger Chirurg in einem kleinen Krankenhaus in Eberswalde bei Berlin: Er betäubte seinen Ellbogen und schob sich einen gut geölten Katheter in die eigene Armvene, bis in die Herzkammer.

Mitsamt dem herabhängenden Katheter ging er zur Röntgenabteilung, wo er anhand der Aufnahmen bewies, daß es möglich war, einen Katheter sicher ins Herz einzuführen – was sämtliche Fachleute bis dahin verneint hatten, weil sie fürchteten, die Wand des Herzens zu durchstoßen. Für seine wegweisenden Forschungen – es blieb nicht sein einziger Selbstversuch – erhielt Forssmann 1956 den Nobelpreis.

Die späte Ehrung konnte ihn jedoch kaum über die schmerzlichen Folgen seines Experiments hinwegtrösten: Forssmann war 1929 sofort aus der Klinik entlassen worden, und trotz der begeisterten Reaktionen der Presse hielten ihn seine Kollegen mehr als ein Jahrzehnt lang für verrückt. Entmutigt über die fehlende Akzeptanz, wechselte er zur Urologie und wurde schließlich Landarzt.

Auch Barry Marshall hatte lange zu kämpfen, bis die Ergebnisse seiner Versuche von der Ärzteschaft akzeptiert wurden. Der australische Facharzt für Magen-Darm-Krankheiten ist der berühmteste Fall eines Selbstversuchs aus der jüngsten Vergangenheit.

Zusammen mit seinem Kollegen Robin Warren behauptete er Anfang der achtziger Jahre, daß die herrschende Lehrmeinung über die Entstehung von Magengeschwüren – zuviel Magensäure, oft verbunden mit Streß – falsch sei. In den meisten Fällen sei statt dessen ein Bakterium schuld, das Warren im Magen gefunden und Helicobacter pylori getauft habe.

Marshall gelang es, ein wismuthaltiges Antibiotikum zu entwickeln und einige Patienten erfolgreich zu behandeln. Dennoch wurden seine Vorträge auf internationalen Konferenzen nur mit Kopfschütteln oder sogar mit Gelächter quittiert.

Schließlich beschloß der Australier, sich selbst gezielt zu infizieren, um den Beweis seiner Theorie zu erbringen. Wie die literarische Figur Dr. Jekyll trank er seinen scheußlich schmeckenden Cocktail aus Helicobacter-pylori-Bakterien in einem Zug. Als Folge trat ein, was Marshall erwartet hatte: Er konnte kaum essen und hatte starke Magenschmerzen.

„Am achten Tag schließlich“, erinnert er sich in einem Interview, „wachte ich frühmorgens auf, rannte ins Bad und mußte mich übergeben. Die Bakterien, von denen es in meinem Magen geradezu wimmelte, hatten dafür gesorgt, daß die ganze Magensäure verschwunden war.“ Seine Theorie war damit bestätigt, und nicht nur das: Mit Hilfe der Antibiotika war er binnen kurzem wieder geheilt.

Dennoch dauerte es noch Jahre, bis Marshalls Ideen sich weltweit durchsetzten. Heute ist der Verdacht auf eine Infektion durch Helicobacter pylori oft eine der ersten Untersuchungen, die bei Magenerkrankungen angeordnet wird.

Barry Marshall wurde Professor in Virginia und leitet die internationale Helicobacter Foundation. Er kann sich „Ende gut, alles gut“ ins Wappen setzen lassen: Anders als bei vielen seiner Vorgänger hat sich sein Selbstversuch rundherum ausgezahlt.

Ulrich Eberl

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