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Unser Pazifismus ist nicht mehr gefragt

Allgemein

Unser Pazifismus ist nicht mehr gefragt
Prof. Dr. Dirk Kaesler studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der London School of Economics. Nach einer Zeit als Gastprofessor an der University of Chicago arbeitete er von 1984 bis 1995 als Professor für Allgemeine Soziologie in Hamburg. Seit 1995 ist er Lehrstuhl-inhaber für Allgemeine Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Kaesler (Jahrgang 1944) ist gefragter Gastprofessor in der Alten wie in der Neuen Welt und arbeitet derzeit an einer Biografie über den großen deutschen Soziologen Max Weber.

bild der wissenschaft: Nach dem 11. September 2001 befürchteten Sie im bdw-Interview weitere tödliche Anschläge. Leider gibt Ihnen die Entwicklung Recht, Herr Prof. Kaesler.

Kaesler: Für mich ist es schrecklich, dass ich Recht hatte. Damals debattierten wir allerdings noch darüber, ob Präsident Bushs Satz „Wir befinden uns im Krieg“ eine der Situation angemessene Begrifflichkeit sei oder nicht. Inzwischen haben die Amerikaner Kriege gegen Afghanistan und gegen den Irak geführt. Sogar die Überschrift des Interviews in der Novemberausgabe 2001 von bild der wissenschaft, die auf die Terroristen bezogen war, können wir hernehmen und sie jetzt auf die Amerikaner anwenden: „ Sie handeln im Glauben an eine gute und gerechte Sache“. Viele Motive, die ich damals den Terroristen nachgesagt habe, können Sie jetzt auf die USA anwenden.

bdw: Nennen Sie die Motive bitte noch einmal.

Kaesler: Damals habe ich gesagt, dass Menschen im Westen ihr Leben nicht mehr willentlich für eine höhere Sache weggeben. Doch die USA und Großbritannien, aber auch Deutschland – wie der Anschlag auf Soldaten der Bundeswehr in Kabul gezeigt hat – opfern Menschen im Interesse der Menschheit als Ganzes.

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bdw: Welche Rolle spielt dabei die Regierung von George W. Bush?

Kaesler: Es ist eine ebenso schlimme wie häufig benutzte Verkürzung in den Medien, stets auf den intellektuell wenig bedarften Cowboy aus Texas zu verweisen und alle Aktionen so zu erklären. George W. Bush ist für die US-Amerikaner ein sehr überzeugender Darsteller einer Politik der Weltherrschaft amerikanischer Prägung. Um den Präsidenten gibt es eine Gruppe von neokonservativen Globaldenkern, die ein Konzept entwickelt haben, das aus zwei wesentlichen Komponenten besteht: Erstes Ziel ist die langfristige Positionierung der USA als einzige Macht, die in der Welt für Frieden, Ordnung und Recht unter den Bedingungen des Kapitalismus sorgt.

bdw: Notfalls auch durch Krieg?

Kaesler: Notfalls auch durch Krieg, dort wo militärischer Widerstand gegen diese Durchsetzung zu erwarten ist.

bdw: Und die zweite Zielsetzung?

Kaesler: Das Ganze geschieht unter dem Gesichtspunkt des Patriotismus, der die USA wie eine große Zivilreligion einhüllt. Der Kernpunkt hierbei ist, dass es sich nicht um so etwas Vordergründiges wie Vaterlandsliebe handelt, sondern um – ich wiederhole mich – den Glauben an eine gute und gerechte Sache, die die US-Amerikaner um der Menschheit Willen vertreten.

bdw: Dann ist die Hoffnung zwecklos, dass ein anderer US-Präsident vom jetzigen Kurs abweichen wird?

Kaesler: Die USA sind eine Weltmacht und haben derzeit keine Konkurrenten – und das soll so bleiben. An diesem hoch konsensfähigen Satz muss sich jeder amerikanische Präsident orientieren. Der weit und breit einzig erkennbare Gegenspieler könnte China werden. Doch ehe dieses Land zu mächtig wird, wollen die USA die Welt so ordnen, dass sich China eher in die bestehende Weltordnung einpassen muss, als Alternativen entwickeln zu können. Dies gilt weniger in politischer als in ökonomischer Hinsicht.

bdw: Politik und Wirtschaft sind in den USA zwei Seiten derselben Medaille. Das zeigt ein Blick auf die frühere Tätigkeit hochrangiger Mitglieder der derzeitigen US-Regierung.

Kaesler: Die US-amerikanische Politik und die Wirtschaft haben das gleiche Interesse: Beherrschung der Welt. Welche Motive nun was bewegen, ist im Einzelnen gar nicht so exakt zu klären. Natürlich haben die USA das politische Interesse, den Irak in ihrem Sinne zu reformieren. Und natürlich haben die USA das wirtschaftliche Interesse an der Beherrschung des Weltölmarktes – sie wollen Zugriff haben auf die riesigen Lagerstätten im Irak. Beides können Sie nicht trennen, beides funktioniert – wie die Amerikaner sagen, hand in glove, so innig, wie sich ein Handschuh um eine Hand legt.

bdw: Rechnen Sie mit weiteren Kriegen, an denen die Amerikaner beteiligt sind?

Kaesler: Die USA werden zwar keine Kriege provozieren, aber alle Länder, die sich ihren Plänen massiv entgegenstellen, müssen mit ihrer militärischen Intervention rechnen. Kandidaten, die sich in Acht nehmen müssen, sind Israel/Palästina und Iran. Beide Regionen sind ein ständiger Unruheherd, der die US-Interessen stört. So lange wie bisher – auch wie beim Irak – werden sich die USA nicht mehr nur mit Appellen begnügen. Bush betont ständig, dass er in beiden Fällen zu einer robusten Intervention bereit ist, wenn sich da nichts im Sinne der USA bewegt. Das gilt für die Konfliktparteien in Palästina. Das gilt aber auch für das Atomprogramm des Iran, wenn sich das Land nicht bereit erklärt, auch kurzfristig anberaumte internationale Inspektionen zuzulassen.

bdw: Eine Rechtfertigung für den Irakkrieg war die angebliche Existenz großer Mengen an Massenvernichtungswaffen. Doch sie wurden nicht gefunden!

Kaesler: Der Grund der USA für den Irakkrieg war der – jetzt – gescheiterte Versuch, Macht in Herrschaft zu transferieren. Macht ist die entscheidende Größe, weil sie die Fähigkeit zeigt, seinen Willen gegen den Widerstand anderer durchzusetzen. Herrschaft ist jene soziale Beziehung, in der es eine Seite gibt, die sie beansprucht, eine zweite Seite aber – die der Herrschaft unterworfen ist –, die sie akzeptiert. Wie wir seit dem berühmten Soziologen Max Weber wissen, ist jede Macht bestrebt, sich in Herrschaft zu transferieren. Obwohl im Falle des Irakkriegs amerikanische Macht nicht in Herrschaft umgemünzt werden konnte, so wurden doch dort die geopolitischen und ökonomischen Ziele der USA erreicht und ihre Macht untermauert.

bdw: Wird die Weltpolizei USA nunmehr ihre Macht entfalten, ohne lange um Herrschaft zu buhlen?

Kaesler: Die USA sind weit mehr als eine Weltpolizei. In zivilisierten Staaten greift die Polizei nur mit reduzierter Gewalt ein. Schauen Sie sich die englischen Bobbies an: Wo ist da Gewalt? Die USA agieren dagegen eher wie ein Weltsoldat, der Gewalttäter nicht mit der Trillerpfeife bekämpft, sondern mit Panzern und Bombern, und schicken schwerst bewaffnete Spezialeinheiten, um einen ihrer Sache gemäßen Grundfrieden herzustellen.

bdw: Die USA werden auch in Nordkorea einmarschieren?

Kaesler: Wenn Nordkorea Anstalten machen sollte, dass es ihm ernst ist mit einem Angriff auf die USA, werden diese nicht lange fackeln. Eine zynische Interpretation der nordkoreanischen Atombedrohung ist freilich, dass das Land lediglich mehr Geld will. Bisher war Nordkorea noch stets durch Dollars zu befriedigen. Für ein Abkommen, etwas zu unterlassen, bekam Nordkorea schon mehr als einmal Geld und Nahrungsmittel von den USA oder der Weltbank.

bdw: Wenn die Welt sich so entwickelt, wie Sie es erwarten, werden die USA auf jeden Fall ihren Weg gehen. Einlassungen aus Deutschland werden daran nichts ändern. Wie beurteilen Sie Deutschlands politische und ökonomische Stellung in der Welt nach dem Irakkrieg?

Kaesler: Wir sind – nicht zuletzt unter dem Einfluss der USA – zu einer außerordentlich pazifistischen Gesellschaft geworden: so pazifistisch, wie Deutschland das nie zuvor in seiner langen Geschichte war, und pazifistischer als alle unsere Nachbarn, mit Ausnahme vielleicht der Niederlande. Doch die Länder um uns herum sind wieder mehr als vor einigen Jahrzehnten bereit, militärische Gewalt zur Durchsetzung ihrer geopolitischen und ökonomischen Interessen einzusetzen. Das trifft uns Deutsche besonders, weil wir geglaubt haben, dass unser pazifistischer Weg nach dem Zweiten Weltkrieg der Weg der Menschengesellschaft werden könnte. Was diese Position angeht, sehe ich uns Deutsche weltpolitisch isoliert. Das ist bedauerlich, aber den Tatsachen entsprechend.

bdw: Was folgt daraus für die deutsche Politik?

Kaesler: Nach innen wird es schwierig bis unmöglich sein, unsere pazifistische Grundstimmung nicht zu bedienen. Militaristische Grundpositionen sind hierzulande nicht gesellschaftsfähig. Nach außen – wenn wir weltpolitisch weiter mitspielen wollen –, müssen wir dennoch zu einem neuen Verhältnis zu militärischer Gewalt kommen. Unsere Position zu den USA vor dem Irakkrieg hat dazu geführt, dass wir uns heute vorkommen müssen wie eine Maus, die die Stellung eines Elefanten verändern wollte. Sicherheitspolitische Überlegungen der Deutschen entlocken Amerikanern bestenfalls noch ein mildes Lächeln.

bdw: Befürchten Sie auch längerfristige wirtschaftliche Störungen zwischen den USA und Deutschland?

Kaesler: Hier bin ich nicht völlig im Bilde. Doch ich höre immer wieder, dass jene deutschen Unternehmen, die in den USA produzieren, keine Probleme haben. Offenbar sehen die Amerikaner beispielsweise Automobile, die in den USA gefertigt werden, als heimische Produkte an – selbst wenn es sich um ausländische Marken handelt. Bei Firmen, die den Amerikanern als typisch deutsch erscheinen, befürchte ich dagegen mittelfristig Absatzeinbußen.

bdw: Ähnlich wie Deutschland hat die UNO im Vorfeld des Irakkriegs Image bei den Amerikanern eingebüßt. Wird die UNO zum Papiertiger?

Kaesler: An einem Punkt sind die Vereinten Nationen von zentraler Bedeutung: bei der Menschenrechtsdiskussion. Die können die USA schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht alleine vorantreiben. Schauen Sie nur einmal auf den Diskurs über Religionsfreiheit oder die Gleichstellung der Frau. Nirgendwo sonst könnten hier weltweit größere Fortschritte erzielt werden als auf der Ebene der Vereinten Nationen. Ich denke, zwischen den USA und der UNO wird es zu folgender Aufgabenverteilung kommen: Die USA sind die große hegemoniale Weltmacht. Doch die Ziele, für die sich dieser Hegemon einsetzt, werden in den Vereinten Nationen ausgehandelt. Das heißt: Die USA brauchen die UNO, und die UNO braucht die USA. Genau dies hat der Irakkrieg auch gezeigt: Die Resolution, die den Krieg begründete, war eine Resolution der Vereinten Nationen.

bdw: Kommt es demnach doch zur Zivilisierung der Menschen, wie das der Soziologe Norbert Elias 1933 am Beispiel der geschichtlichen Entwicklung Frankreichs dargestellt hat?

Kaesler: Elias hat in seinem Hauptwerk der Soziologie gezeigt, wie es gelungen ist, ein mächtiges Reich aus einem Flickenteppich kleiner Machtterritorien zu entwickeln. Im Buch „Über den Prozess der Zivilisation“ entwirft Elias ein Modell dafür, wie man die ganze Menschheitsgesellschaft hin zum Positiven entwickeln kann.

bdw: Max Weber beurteilte die Entwicklung weit negativer.

Kaesler: Weber hat ähnliche Prozesse auf uns zukommen sehen wie Elias, zog aber einen pessimistischen Schluss. Er sagte den Siegeszug zweier Mächte voraus: des Kapitalismus und der Bürokratie, mit der Folge einer immer stärkeren Beschränkung des Individuums. Insofern können Sie sich die Entwicklung der Welt aussuchen, je nachdem, ob Sie positiver oder pessimistischer Stimmung sind. Auch wenn die Schlussfolgerung unterschiedlich sein kann, ist an einem nicht zu rütteln: Die Soziologie hält Wissen über wesentliche Zusammenhänge der Welt parat, die Sie sich durch noch so intensive Lektüre der Tageszeitung nie erschließen können.

Prof. Kaeslers vier Szenarien für das Jahr 2010

1. Die ultrastabile Gesellschaft Unter Führung der USA wächst die Menschheit zusammen Annahmen: Strategisch kluge Feldzüge der USA und ihrer Verbündeten gegen den internationalen Terror. Trotz letzter Terroranschläge allmähliche Zerschlagung dieser Netze. Der islamische Fundamentalismus wird isoliert. Der Nahostkonflikt endet im Friedensschluss. Die wesentlichen ethnischen Konflikte werden befriedet. Wirtschaftlich kommt es zu Belastungen. In den reichen Staaten des Westens wird eine Sondersteuer für die armen islamischen Länder eingeführt.

2. Kampf der Kulturen Das Zeitalter des weltweiten Niedergangs Annahmen: Weltweite Eskalation der gegenwärtigen Konflikte. Truppen des Westens geraten in permanente kriegerische Auseinandersetzungen. Die weltweite Anti-Terror-Koalition zerbricht. Die EU entfernt sich von den USA. In der Weltwirtschaft beginnt eine Abwärtsspirale: Zusammenbruch des transatlantischen Reiseverkehrs und steigende Militarisierung des öffentlichen Lebens.

3. Zerfall in Wohlstandsinseln Das Ende der Globalisierung Annahmen: Nach weiteren Terroranschlägen gegen die USA schlagen diese ohne Rücksicht auf Verbündete zurück: Die USA schlittern in eine Rezession, Investoren weichen auf Europa und China aus, das ab 2010 die Führung in der Welt übernimmt. Der internationale Flugverkehr halbiert sich. Es bilden sich Wohlstandsinseln (Schweiz, Skandinavien, Japan, China, Osteuropa). Ihnen stehen ein deklassiertes US-Amerika mit verbündeten Ländern gegenüber.

4. Das Hochsicherheits-Zeitalter Abgeschotteter Wohlstand trotzt Terror Annahmen: Die islamischen Staaten isolieren sich. Die USA und ihre Verbündeten – inklusive Russland und China – entwickeln angesichts stets gegenwärtiger Terrorakte eine globale Geheimpolizei. Im Westen entsteht eine Welt mit täglichen scharfen Kontrollen. Geheimdienste werden zu Mega-Institutionen. Das arabische Öl wird durch moderne Alternativtreibstoffe substituiert.

Dirk Kaesler privilegiert Szenario 1.

Wolfgang Hess

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