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Unter Zugzwang

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Unter Zugzwang
Japan verordnet den Grundlagenforschern mehr Dynamik. Die japanischen Forschungsausgaben sollen in den kommenden vier Jahren verdoppelt werden. Ziel ist, den Abstand zu den westlichen Forschungshochburgen endlich zu verringern.

Ob es sich um Videorecorder handelt oder um Faxgeräte, ob es Flüssigkristall-Bildschirme sind oder Fotoapparate: Daß Unterhaltungselektronik längst für fast jeden erschwinglich ist, verdanken wir der pragmatischen japanischen Firmenforschung. Annähernd 80 Prozent der gesamten nationalen Ausgaben für Forschung und Entwicklung finanzieren Unternehmen. Das Geld wird in erster Linie dafür ausgegeben, um aus guten Ideen wirtschaftlich erfolgreiche Produkte zu machen.

In Deutschland trägt die Privatwirtschaft dagegen nur zwei Drittel der nationalen Ausgaben für Forschung und Entwicklung. In den für ihren Unternehmergeist so häufig gerühmten Vereinigten Staaten bringen Firmen und Konzerne sogar nur etwa 40 Prozent der nationalen Forschungsausgaben auf.

Kosten senken, die Fertigung vereinfachen, die Fehlerrate verringern – darin haben die Japaner dem Rest der Welt eine Lektion erteilt. Allegorisch ausgedrückt steht Japans Technologiebaum in vollem Saft und trägt auf starken Ästen viele bunte Früchte. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich jedoch ein Bonsai, ein Zwergbaum, dessen Wurzeln sich aus einem sehr engen Topf nähren. Denn bis zum heutigen Tage ist die Grundlagenforschung in Japan unterentwickelt. Der Vorwurf, daß Japaner nur Entwickler und keine Erfinder sind, ist berechtigt. Denn in der Tat sind begeisterte und begeisternde Grundlagenforscher in Japan Mangelware. Wesentlicher Grund ist der Universitätsbetrieb, der wenig dazu beiträgt, bei Studenten Begeisterung an naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung zu wecken.

So ist es für die meisten Hochschullehrer wichtiger, ihre Zöglinge in angesehenen Firmen unterzubringen, als sie zum eigenständigen wissenschaftlichen Arbeiten zu animieren. Deshalb messen viele Studenten die Universitäten daran, wie „effizient“ sie Akademiker in Wirtschaft oder Verwaltung überführen. Weil die Studenten an den angesehensten Universitäten eine sehr schwierige Aufnahmeprüfung bestehen müssen, versammelt sich in solchen Hochschulen aber doch die künftige Elite des Landes.

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An den Studienleistungen sind die japanischen Unternehmen dagegen kaum interessiert. Sie orientieren sich bei der Einstellung vielmehr am Charakter und der Anpassungsfähigkeit des Kandidaten. Folge ist, daß gute Vorlesungen selten sind. Und die vielen schlechten Vorlesungen sind auch schlecht besucht.

Den naturwissenschaftlichen Studenten steht es frei, auf einen Master- (der unserem Diplom entspricht) oder einen Doktortitel hinzuarbeiten. Doch wer sich für diese Profilierung entscheidet, riskiert schlechtere Einstellungschancen: Die Personalabteilungen der meisten japanischen Firmen gehen davon aus, daß sich ein Bewerber, der eine zu ausgeprägte Individualität und Selbstsicherheit besitzt, nur schwer in eine Gruppe integrieren läßt. Deswegen ist eine naturwissenschaftliche Doktorarbeit gleichsam eine Entscheidung gegen die Industrie.

Wie es mit der öffentlichen Wertschätzung des Universitätsbetriebs bestellt ist, verrät schon der erste Blick auf Bausubstanz und Infrastruktur der Institute: Trotz steigender Studentenzahlen und Inflation hat sich am Budget zur Instandhaltung der Gebäude seit 20 Jahren nichts verändert. Ein Besuch bei den „besten“ Universitäten – den ehemaligen kaiserlichen – zeigt mitunter eine Trostlosigkeit, die der zweiten Wirtschaftsmacht der Welt unwürdig ist. Diese Feststellung ist nicht böse ausländische Kritik – selbst viele japanische Akademiker sehen das so.

Auch mit den administrativen Mitteln und der technischen Ausstattung liegt es im argen. Selbst die wenigen weltbekannten Professoren der Universität Tokio müssen ihre Korrespondenz oft selbst erledigen: Die meist nur als Teilzeitarbeitskraft zur Verfügung stehende Sekretärin ist vielfach nicht in der Lage, einen Brief in englischer Sprache zu schreiben.

Mangel herrscht allerorten: Nicht nur jeder Assistent, sondern auch jeder Assistenz-Professor muß seine Gerätschaften selber warten – egal, ob es sich um den Ölwechsel einer Vakuumpumpe oder um die Fehlersuche in elektronischen Systemen handelt. Darüber hinaus herrscht ein chronischer Mangel an Gütern des täglichen Institutsbedarfs.

„Wer als Professor oft Lehrmaterial für seine Studenten kopiert, verbraucht dadurch Haushaltsmittel, die in der Forschung fehlen“, schimpft Yotaro Hatamura, Wissenschaftler am Engineering Department der Universität Tokio.

Haben es japanische Lehrstuhl-Inhaber schon nicht leicht, so geht es den ihnen untergeordneten Assistenz-Professoren erst recht schlecht.

Deren Karrierehoffnung konzentriert sich auf die Nachfolge als Lehrstuhl-Inhaber. Da Lehrstuhl-Inhaber nur selten auf einen anderen Lehrstuhl wechseln, müssen die Assistenz-Professoren wie Kronprinzen warten, bis ihr Chef 60 wird und zwangsläufig in Rente geht. Daß bei dieser Berufungspraxis die besten japanischen Nachwuchsforscher kaum im Lande zu halten sind, versteht sich von selbst.

„Ich habe die Forschungslabors japanischer Universitäten besucht. Die Bedingungen, unter denen unsere Forscher dort arbeiten, sind abschreckend“, beklagte sich Gaichi Hiraiwa, Vorsitzender des mächtigen Verbands der Großindustrie, und bat die Regierung, den nationalen Forschungsetat beträchtlich zu erhöhen, „weil sonst die internationale Konkurrenzfähigkeit der japanischen Wirtschaft beeinträchtigt ist“.

Seine Befürchtungen äußerte Hiraiwa 1989. Doch erst vor einem Jahr – nach langatmigen Diskussionen und einem typischen Konsens à la japonnaise – präsentierte die Regierung ein Konzept, das der japanischen Grundlagenforschung mehr Durchschlagskraft geben soll. Das Ende 1995 verabschiedete „Science and Technology Basic Law“ erklärt den Ausbau der Grundlagenforschung zu einem nationalen Ziel.

Die Medien zeigten sich anläßlich des neuen Forschungsgesetzes euphorisch. Schlagzeilen wie: „Jetzt doppelt investieren und später 4000 Prozent kassieren“, verraten viel über die japanische Zukunftsgläubigkeit. Dabei handelt es sich hier noch nicht einmal um die journalistische Übertreibung eines Boulevardblattes.

Die Zahlen entstammen schlicht der Modellberechnung des Wissenschafts- und Technologie-Amtes. Sie besagt, daß eine heutige Verdopplung des staatlichen Forschungshaushalts das Bruttosozialprodukt künftig um einen ganzen Prozentpunkt wachsen lassen könnte. Die Vervierzigfachung (4000 Prozent) bezieht sich auf den statistisch ermittelten zusätzlichen volkswirtschaftlichen Umsatz, der acht Jahre nach einem Forschungsschub zu erreichen ist. So lange dauert es, japanischen Studien zufolge, ehe aus einem erfolgreichen Forschungsprojekt auch ein marktfähiges Produkt wird.

Seit dem Finanzjahr 1996 greift der Staat tief in die Tasche: Bis zum Jahr 2000 sollen die japanischen F&E-Ausgaben der Regierung verdoppelt werden – und damit insgesamt 17 Billionen Yen (rund 230 Milliarden Mark) in staatliche Wissenschafts- und Technologie-Programme fließen.

In absoluten Zahlen ist das tatsächlich eine enorme Summe. Beängstigend hoch ist dieser Betrag andererseits nicht. Denn auch in der deutlich kleineren deutschen Volkswirtschaft strömen binnen fünf Jahren fast 150 Milliarden Steuermittel in Forschung und Entwicklung.

Bemerkenswert an der Initiative ist die Kooperation der drei wichtigsten Ministerien: Das Erziehungsministerium, das Amt für Wissenschaft und Technologie sowie das MITI wollen an einem Strang ziehen. Bisher taten sich die drei Institutionen in der Regel eher als Konkurrenten denn als Kombattanten hervor. Geplant ist, den Austausch von Forschern zwischen verschiedenen Institutionen anzukurbeln. Dadurch soll eine ähnliche Mobilität unter den Forschern erreicht werden, wie sie in den USA nicht nur unter Universitäten, sondern auch zwischen Instituten und der Industrie üblich ist.

Diese staatliche Weichenstellung ist allerdings noch längst kein Garant dafür, daß nun die Grundlagenforschung in Japan erblüht. Mindestens genauso wichtig ist, daß die japanischen Unternehmen ihre Einstellungspraxis ändern, indem sie selbständige und auch selbstbewußte Forscher aufnehmen.

Die japanischen Konzerne halten zwar durchaus etwas von einer wissenschaftlichen Tätigkeit ihrer Mitarbeiter. Doch bisher bevorzugen sie die von Unternehmen kontrollierte akademische Weiterbildung. Nur ausgewählte Angestellte dürfen in japanischen Universitäten promovieren. Einige Glückliche können sich sogar an US-Universitäten weiterbilden, was sie in der Vergangenheit freilich nicht stets im Sinne ihres Unternehmens taten. Eine beachtliche Anzahl der Stipendiaten fand Gefallen am Wissenschaftsleben der USA und kehrte seinem bisherigen Arbeitgeber – ganz unjapanisch – schnöde den Rücken.

Japanische Universitäten sind andererseits in den letzten Jahren für Ausländer insgesamt attraktiver geworden – allerdings fast nur für Asiaten. So arbeiten an den japanischen Ingenieur-Hochschulen inzwischen mehr ausländische asiatische Assistenten (vor allem Chinesen, Koreaner, Taiwanesen) als Japaner. Gastforscher aus den großen Industrienationen sind dagegen immer noch rar.

Auf sechs japanische Forscher, die in den USA oder in Europa arbeiten, kommt gerade ein Amerikaner oder Europäer, der in Japan forscht. Die Gründe für die westliche Zurückhaltung sind ganz unterschiedlich: Angst vor dem Kulturschock, die geringe Zahl bekannter japanischer Forscher und der schwache Imagewert eines Forschungsaufenthalts in Japan.

Japans Kraftakt, das zu ändern und jetzt auch eine wesentliche Rolle in Sachen Grundlagenforschung zu spielen, ist dennoch ernst zu nehmen. Daß ihr Land zu grundsätzlichen Änderungen fähig ist, haben die Japaner schon mehrfach bewiesen. Sie haben deshalb durchaus gute Chancen, die dritte Spitzenkraft in der Welt der Wissenschaft zu werden – zusammen mit den US-Amerikanern und den großen europäischen Forschungsnationen.

Ivan Botskor

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