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Verzagte Vegetarier

Allgemein

Verzagte Vegetarier
Fleischverächter sind zwar gesünder, aber unglücklicher als ihre Zeitgenossen.

Lange vorbei sind die Zeiten, da man sich durch das Bekenntnis zur fleischlosen Ernährung den Ruf als heilloser Spinner zuzog. Und wenn es noch irgendwo die leise Unterstellung der Verschrobenheit geben sollte, wird sie heute durch das schlechte Gewissen der Fleischesser übertönt.

Aber: Auch wenn der Verzicht auf Rindswurst und Schweinefilet gesundheitliche und bioethische Vorzüge haben mag, sieht die psychohygienische Diagnose für die Vegetarier anders aus. Zumindest bei weiblichen Vegetariern geht der Griff zu Rohkost und Tofuburgern mit schlechter Laune und einer negativen Sicht der Welt einher.

Vor 20 Jahren bezeichneten sich nur 0,6 Prozent der Deutschen als Vegetarier, heute lehnen nach Schätzung des Vegetarier-Bundes 7 bis 10 Prozent der Bevölkerung die tierische Nahrung ab. Mehrere neue Studien stellen den Fleischverächtern ein vorzügliches Gesundheitszeugnis aus: Im Vergleich zu Otto Normalverbraucher haben sie einen niedrigeren Blutdruck und günstigere Blutfettwerte, und ihre Sterberate an Herzerkrankungen liegt niedriger als bei denen, die Fleisch verzehren.

Dieses beeindruckende Bild wird indes durch ein paar unerquickliche Schönheitsfehler getrübt, gibt die Psychologin Marjaana Lindeman von der finnischen Universität Helsinki zu Protokoll: So sind vegetarische Frauen zum Beispiel übermäßig auf ihre schlanke Linie fixiert. Mit Essstörungen wie Anorexia nervosa liegen sie deutlich über dem Durchschnittswert.

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Bereits Mitte der achtziger Jahre hatte eine amerikanische Studie bei reinen Pflanzenessern eine erhöhte Rate an Depressionen und Angstzuständen aufgespürt. Um die seelische Verfassung der Vegetarier genauer auszuloten, hat die finnische Psychologin nun in zwei Studien über 500 Frauen zwischen 13 und 74 Jahren unter die wissenschaftliche Lupe genommen. Die Beschränkung auf das weibliche Geschlecht war nötig, weil zu wenige männliche Fleischverächter dem Aufruf zum Test gefolgt waren. Kein Wunder, denn die Frauenquote unter den Pflanzenessern beträgt schätzungsweise 90 Prozent.

60 der Befragten waren Vegetarierinnen. 130 wiesen sich durch den Verzicht auf das rote Fleisch von Schwein und Rind als „halbe“ Vegetarierinnen aus. Bei ihnen kam lediglich weißes Fleisch von Geflügel und Fisch auf den Teller. Das Ergebnis ist niederdrückend: Die Gemütsverfassung der Fleischverächter und – mit Abstrichen – der Halb-Vegetarier wird häufig durch depressive Anwandlungen getrübt. Die düstere Neigung zeigt sich unter anderem in Gefühlen der Niedergeschlagenheit und Einsamkeit und in schlechtem Schlaf. Auch das Selbstwertgefühl der Asketen ist messbar angeschlagen. Und die bekannte erhöhte Anfälligkeit für Essstörungen weist auch diese Studie nach.

Bei Frauen, die die tierische Kost ablehnen, hat das ganze Weltbild einen Schlag ins Negative: Sie lesen in den Lauf der Dinge insgesamt mehr Übel und Bösartigkeit hinein, sie halten das Schicksal für weniger kontrollierbar, und sie unterstellen der Welt und den Menschen ein höheres Maß an Ungerechtigkeit.

Die finnischen Befunde geben allerdings keinen Aufschluss über die Richtung der Ursache-Wirkungs-Kette, hält Psychologin Lindeman fest: Fühlen sich bedrückte Zeitgenossen zum Vegetarismus hingezogen, oder ist da irgendetwas an der fleischlosen Ernährung, das den Menschen die gute Laune vergällt?

Vegetarier verkünden oft, dass sich die Stimmung in dem Augenblick verbessert, in dem man dem animalischen „Fraß“ entsagt. Wenn das stimmt, könnte der Vegetarismus für seine Anhänger eine therapeutische Weltanschauung sein, die eine stimmungsaufhellende Funktion hat. Das aber würde bedeuten: Die Vegetarier waren vor dem Fleischverzicht noch depressiver als nach der Läuterung.

Psychologen wissen, dass bestimmte Menschen bestimmten Ideologien verfallen, weil diese einen Schutzwall errichten – gegen die Einsicht in die Endlichkeit und den „Horror“ des Lebens. Um das Leben nicht als gnadenlosen Moloch zu erfahren, der alles Wertvolle in den Dreck zieht, schützen solche Menschen ihr Selbstwertgefühl durch die Bindung an kulturelle Weltanschauungen. Die vermitteln ihnen eine stabile und sinnhafte Konzeption ihres Daseins und stiften Rituale, die im Alltag Rückhalt geben. Nach der einflussreichen „ Terror-Management-Theorie“, die der Psychologe Tom Pyszczynski von der University of Colorado entwickelt hat, können alle erdenklichen Rituale, Mythen und Religionen diesen Zweck erfüllen.

Die Alternative zu dieser Interpretation wäre: Den Pflanzenessern geht irgendein antidepressiver Inhaltsstoff in der tierischen Nahrung durch die Lappen. Ein denkbarer Kandidat dafür ist das Cholesterin, auch wenn es wegen seiner arterienverhärtenden Wirkung einen schlechten Ruf hat.

Andererseits: Nach neueren Untersuchungen, die Prof. Thomas Bronisch und Dr. Jürgen Brunner vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie im Fachblatt „Nervenarzt“ zusammenfassen, begünstigt eine Unterversorgung mit dem „bösen“ Fettbestandteil impulsives, aggressives und selbstschädigendes Verhalten, das im Suizid enden kann. Das betrifft sowohl Menschen, die von Natur aus eine geringe Konzentration des Fettbestandteils haben, als auch jene, bei denen der Cholesterinspiegel aus therapeutischen Gründen verringert wird. Auch die Gemütskrankheit Depression, die selbstzerstörerische Elemente enthält, tritt bei einem niedrigen Cholesterinspiegel sehr viel häufiger auf. Die Verbindungslinie: Die Cholesterinwerte von Vegetariern liegen um 19 Prozent unter denen nicht-vegetarischer Probanden.

Vegetarier haben auch einen verringerten Blutspiegel der hoch ungesättigten Omega-3-Fettsäuren, die hoch dosiert fast ausschließlich in Fisch vorkommen. Fisch-öl scheint einen anti-depressiven Effekt zu haben: Wer mindestens einmal in der Woche Fisch isst, so zeigt eine Studie der finnischen Universität von Kuopio, hat seltener mit Schwermut zu kämpfen. In kontrollierten Versuchen wurden bestehende Depressionen sogar durch die Gabe von Fischöl-Kapseln gelindert.

Schließlich kann der Körper nur aus Fleisch und anderen proteinreichen Speisen die Aminosäure Tyrosin gewinnen. Tyrosin dient als Vorstufe für die Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin, die uns konzentriert, wach und vital sein lassen und eine unverzichtbare Rolle für positive Gefühlszustände spielen.

Allen modernen Vorurteilen zum Trotz belegt übrigens keine einzige Studie überzeugend, dass Vegetarier älter werden als Fleischesser. Das Europäische Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften in Hochheim am Main kam nach der Auswertung von fünf internationalen Studien zu dem ernüchternden Ergebnis: „Vegetarier leben nicht generell länger. Sie sterben höchstens anders.“ In der deutschen Studie etwa hatten die Vegetarier eine um 55 Prozent niedrigere Herzinfarktrate. Dafür traten bei ihnen um 69 Prozent mehr Schlaganfälle auf. Außerdem starben sie etwa doppelt so oft wie Fleischesser an Magen- und Prostatakrebs.

Rolf Degen

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