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Viel Arbeit für die Saubermänner

Allgemein

Viel Arbeit für die Saubermänner
Nie mehr putzen – mehr als ein Traum? Schmutz haftet an rauhen, mikrostrukturierten Oberflächen häufig weniger als an glatten. Diese verblüffende Erkenntnis fasziniert die Öffentlichkeit seit 1995. Der Weg zu ihrer technischen Umsetzung ist jedoch voller Fallstricke.

Karl Heinz Beckurts-Preis 1997, Nominierung für den Zukunftspreis des Bundespräsidenten 1998, Philip-Morris-Forschungspreis 1999, Deutscher Umweltpreis 1999 – über mangelnde Anerkennung kann sich Wilhelm Barthlott wirklich nicht beklagen. Auch für die Medien war die Forschung des Botanik-Professors von der Universität Bonn ein gefundenes Fressen: Endlich ein Thema aus der Wissenschaft, das jedem anschaulich in wenigen Zeilen geschildert und optisch präsentiert werden konnte. Barthlott hat herausgefunden, warum die Blätter vieler Pflanzen sich selber reinigen können: Sie sind mit regelmäßigen Strukturen von nur wenigen tausendstel Millimetern Größe überzogen, die die Kontaktfläche des Schmutzes vermindern. Wie ein Fakir auf einem Nagelbrett sitzt der Dreck zum Beispiel auf den winzigen Noppen der Lotosblumen-Blätter. Ein darüber rollender Regentropfen reißt die Schmutzteilchen einfach mit. Wesentlich ist dafür neben der Mikrostruktur eine wasserabstoßende – Fachjargon: hydrophobe – Oberfläche. Nachdem Barthlott 1995 ein Patentierungsverfahren eingereicht hatte, vereinbarte er die ersten Kooperationen mit der Industrie, um Oberflächen mit „Lotos-Effekt“ technisch nachzubauen. Autos, die vom Regen wie von einer Waschstraße gesäubert werden, Hausfassaden, die nicht verschmutzen, und selbstreinigende Gartenmöbel schienen in greifbarer Nähe. Doch Alltag ist das bis heute nicht. „In der technischen Anwendung führt die Mikrostrukturierung oft zu Problemen“, sagt Prof. Helmut Schmidt, Direktor des Saarbrücker Instituts für Neue Materialien. Dr. Karsten Reihs vom Chemiekonzern Bayer weist darauf hin, daß schon Ende der achtziger Jahre japanische Unternehmen Patente zu selbstreinigenden Oberflächen veröffentlicht haben. „Technisch ist die Attraktivität solcher Oberflächen schon früh erkannt worden, doch die breite Umsetzung ist bisher ausgeblieben – ein Zeichen dafür, wie schwer ihre Realisierung ist.“ Und Dr. Rüdiger Naß, technischer Leiter der Saarbrücker Firma Nanogate sagt: „ Prof. Barthlott hat den Lotos-Effekt in der Öffentlichkeit sehr gut verkauft – marktfähige Produkte sind allerdings zur Zeit Mangelware.“ Einen einzigen Artikel mit Lotos-Effekt gibt es bislang zu kaufen: eine Fassadenfarbe der Firma Ispo mit dem Namen Lotusan. Erst nach „endlosen Versuchsreihen“ – durchgeführt von zwei Ingenieuren in vierjähriger Arbeit – sei die richtige und zum Patent angemeldete Rezeptur gefunden worden, berichtet Andrea Born, Leiterin der Entwicklungsabteilung bei Ispo. Natürliche Mineralien würden sich beim Trocknen von Lotusan in einer speziellen Feinstruktur anordnen, was zusammen mit der extremen Wasserabstoßung der Farbe den Lotos-Effekt bewirke. Die Konkurrenz sieht das anders: Die gebildete Oberfläche habe „mit der Struktur des Lotosblattes so viel zu tun wie ein Kiesel- mit einem Edelstein“, schreibt der Chemiker Dr. Engin Bagda von der Firma Caparol im Internet. Doch damit nicht genug: Eine eigene, herkömmliche Silikonharzfarbe – Handelsname: Amphisilan – sei in puncto Verschmutzung der Ispo-Farbe mit dem Lotos-Effekt ebenbürtig: „Erste Versuche an neutralen Instituten mit Amphisilan und Ispo-Lotusan zeigen, daß beide Fassadenbeschichtungen doch verschmutzen, wenn auch nur wenig“, behauptet Bagda. Für Barthlott, der Ispo bei der Entwicklung von Lotusan unterstützt hat, sind die Attakken lediglich Ausdruck des wirtschaftlichen Wettbewerbs: „Caparol hat seinerseits inständig um eine Kooperation bei uns nachgesucht – doch da waren die Lizenzen schon an Ispo vergeben.“ Allerdings berichtet ein Experte einer anderen Konkurrenzfirma inoffiziell, daß eigene Tests eher die Caparol-Position stärken würden. Von einem weiteren Produkt mit Lotos-Effekt, einem selbstreinigenden Dachziegel, gibt es bereits Prototypen. Die Firma Erlus hat die Markteinführung des Ziegels noch für dieses Jahr angekündigt. Obwohl das mittelständische Unternehmen mit Hauptsitz in Neufahrn von Barthlott die Lizenz erworben und ihre Entwicklung zum Patent angemeldet hat, will man Details des Herstellungsverfahrens nicht verraten. Das größte Problem war laut Pressesprecher Max Semmelmann, die Mikrostruktur auf eine Ware zu übertragen, die in so großen Mengen wie der Massenbaustoff Dachziegel verkauft wird. Ein Insider dazu: „Diese Schwierigkeit wurde ursprünglich sehr unterschätzt.“ Andere Hürden muß man bei Creavis überspringen. Das Tochterunternehmen des Degussa-Hüls-Konzerns ist mit seinen Forschern angetreten, um in Kooperation mit Barthlott und weiteren Entwicklungspartnern den Lotos-Effekt zunächst auf selbstklebende transparente Kunststoffolien zu übertragen – beispielsweise für Verkehrsschilder, die vom Regen gewaschen werden, oder für sauberere und damit effektivere Solarzellen. „ Die Mikro- und Nanostrukturen auf solchen Folien müssen witterungsstabil sein und auch mechanischen Belastungen widerstehen können – das macht uns noch Kopfzerbrechen“, sagt Projektleiter Dr. Bernhard Schleich. Außerdem könne Creavis die Folien bis jetzt noch nicht als Endlos-Produkte, sondern nur in DIN-A4-Größe herstellen. Barthlott zeigt sich „extrem zufrieden“ damit, was sich aus dem Lotos-Effekt in den letzten fünf Jahren entwickelt hat. Er betont, daß es Ende 1999 schon 30 000 Gebäude mit Lotos-Effekt gegeben habe und kündigt nebenbei „zwei sehr unerwartete High-Tech-Produkte“ für dieses Jahr an. Barthlott weiter: „Bis vor wenigen Jahren hat eine weltweit operierende Industrie Oberflächen in Richtung ultraglatt optimiert. Inzwischen stürzen sich alle auf mikro- oder nanostrukturierte Oberflächen.“ Tatsächlich versuchen sich an der Kombination von rauher und hydrophober Oberfläche auch Unternehmen, die nicht direkt mit Barthlott zusammenarbeiten. Aus juristischen Gründen vermeiden sie es allerdings sorgfältig, das Wort Lotus-Effekt in den Mund zu nehmen. So hat Nanogate herkömmliche Rasterwalzen verbessert, mit denen beim Drucken Farbe übertragen wird. Dank einer wasser- und ölabstoßenden Beschichtung läßt sich die mikrostrukturierte Oberfläche der neuen Walze besonders leicht von Farbresten reinigen. Außerdem hat Nanogate den Prototyp einer nanostrukturierten durchsichtigen und selbstreinigenden Folie entwickelt – starke Konkurrenz für Barthlott-Partner Creavis. Doch der industrielle Wettkampf tobt nicht nur um den werbewirksamen Begriff Lotos-Effekt. Drei Firmen haben fristgerecht Einspruch gegen die Erteilung des Patents an Barthlott eingelegt. Nanogate und der Chemieriese Bayer, bei dem ebenfalls auf dem Gebiet der strukturierten Oberflächen geforscht wird, sind nicht darunter. „Für viele interessante Anwendungen ist das Barthlott-Patent nicht so bedeutsam: Es bezieht sich nur auf Strukturen, die mehrere Mikrometer groß sind. Transparente selbstreinigende Flächen beispielsweise aber sind nur realisierbar, wenn die Strukturen noch kleiner sind“, sagt Bayer-Chemiker Reihs. Kommt irgendwann auch das selbstreinigende Auto? Prof. Helmut Schmidt ist aus Erfahrung skeptisch: „Wir haben schon 1994 zusammen mit BMW entsprechende Versuche mit schmutzabweisenden Beschichtungen gemacht. Regen hat sich auf dem Autolack zwar zu Tropfen zusammengezogen, doch wenn die Sonne schien und die Tropfen verdunsteten, blieben Dreck-Pusteln zurück – das sah schlimmer aus als gleichmäßig verteilter Schmutz.“

Frank Frick

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