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Von einem, der auszog, die Welt aufzuklären

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Von einem, der auszog, die Welt aufzuklären
Edward Osborne Wilson: Kämpfer für die Natur des Menschen. Wie gerät ein Evolutionsbiologe und Ameisenforscher auf die Lister der 25 einflußreichsten Personen der USA? Die Thesen von Edward O. Wilson rütteln am Selbstbild des Menschen – und bescheren dem Wissenschaftler prominente Gegner.

An der Wand auf der rechten Seite des Schreibtisches im Büro von Prof. Edward O. Wilson hängen vier Bilder. Eines zeigt in knalligen Farben einen metallisch blau-grünen Käfer, der auf dem Dach des Amazonas-Regenwaldes herumläuft. Es ist der Agra eowilsoni. Ein befreundeter Insektenkundler hat ihn zu Wilsons Ehre so genannt. Links daneben hängt das Porträt eines Admirals, weniger auffällig zwar, doch es erzählt viel über einen Mann, den die Zeitschrift Time 1996 zu den 25 einflußreichsten Personen in den USA gezählt hat, und dessen Ideen die Titelseiten der meistgelesenen amerikanischen Nachrichtenmagazine erobert haben.

Der Offizier auf dem Bild heißt James Stockdale, ein Held des Vietnam-Krieges. Er entwickelte als Gefangener des Vietcong eine Art Morse-Kode, der es den im Feindesland isolierten Amerikanern ermöglichte, miteinander in Kontakt zu treten. Auf Stockdales offiziellem Porträt liegt auf dem Tisch das Buch, das den Harvard-Professor Wilson berühmt gemacht und ihm vor jetzt 20 Jahren seinen ersten Pulitzer-Preis eingebracht hat: “On Human Nature – Über die Natur des Menschen”. Die Tatsache, daß diese Auszeichnung sonst nur für herausragende journalistische Leistungen verliehen wird, zeigt, daß der Wissenschaftler seine Botschaften griffig zu formulieren versteht. 1991 erhielt er den Preis zum zweiten Mal, zusammen mit dem Würzburger Insektenforscher Prof. Bert Hölldobler für ihr gemeinsames Monumentalwerk “Die Ameisen”. Hölldobler und Wilsons Vater sind die Personen auf den beiden anderen Bildern.

Wilson selbst hat nie eine Uniform getragen. Er hätte es aber gern. Am nächsten kam er ihr in dem weiß-grauen Anzug der Militärakademie von Gulfport, Mississippi. Dorthin wurde er als Knabe von seinem Vater geschickt, mit dem Versprechen, man werde aus ihm einen echten Mann machen, was im amerikanischen Süden hieß, einen ritterlichen Offizier.

1946 versuchte Wilson vergeblich, der Armee im heimatlichen Alabama beizutreten. Er wurde abgelehnt, weil er seit einem Angelunfall auf dem rechten Auge blind ist. An jenem Tage bitterer Enttäuschung hat Wilson geweint – und sich selbst versprochen, dann wenigstens ein berühmter Wissenschaftler zu werden.

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Ein halbes Jahrhundert später kann er zu Recht behaupten, dieses Ziel erreicht zu haben: Er erhielt 24 Preise für seine wissenschaftlichen Leistungen, 16 für Literatur, 7 für seine Aktivitäten im Umweltschutz. Er trägt 22 Ehrendoktor-Titel und war an Forschungsprojekten in 16 Nationen beteiligt. Er schrieb 370 wissenschaftliche Artikel und 22 Bücher. Einige dieser Werke sind mehr als in Papier gebundene Gedanken. Es sind schwere Waffen, mit denen Wilson immer wieder wissenschaftliche Kämpfe ausficht, wie jetzt gerade mit dem Titel “Consilience – The Unity of Knowledge”. Unter dem Titel “Die Einheit des Wissens” ist es soeben auch in Deutschland erschienen.

Mehrere Wochen stand das Buch auf der Bestseller-Liste der New York Times. Das überrascht nicht, denn E. O. Wilson ist ein Name, der mit den heftigsten Auseinandersetzungen und den umstrittensten Begriffen der Biowissenschaften in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts verknüpft ist: mit der Soziobiologie und der Debatte um die Biodiversität.

Die Soziobiologie interpretiert das Verhalten des Menschen, ob Staatenbildung oder Paarbindung, ob Wettbewerb oder Altruismus, als Folge seiner Entwicklungsgeschichte. Kritiker warfen Wilson vor, nicht zwischen Menschen und Tieren zu unterscheiden. Inzwischen ist die Einsicht, daß der Mensch keine Ausnahme in der Natur ist, wenigstens unter Biologen weitgehend akzeptiert.

Der Gedanke vom Wert der Artenvielfalt, der biologischen Diversität, die es zu erhalten gilt, wenn der Mensch sich selbst nicht in Gefahr bringen will, brauchte ebenfalls lange, um sich durchzusetzen. Beim Weltgipfel von Rio 1992 wurde die Vielfalt der Lebensformen auf der Erde gleich hinter dem Klimaschutz eingeordnet.

Die nun in “Consilience” beschriebene Idee hat gute Aussichten, Wilsons dritter Streich zu werden. Das Buch provoziert. Der Ameisen-Forscher hat entschieden, es sei höchste Zeit, sich dem chaotischen Relativismus und der Zersplitterung des Wissens zu widersetzen. Für einen Relativisten gibt es keine allgemeingültigen Erkenntnisse, jedes Wissen ist subjektiv und vom Standpunkt des Betrachters abhängig.

Dagegen setzt Wilson den Traum von der Wiedervereinigung der Wissenschaften, angeführt von der Biologie. Sie könne es dem Menschen ermöglichen, in dieser Zeit der naturwissenschaftlichen Revolutionen und der geistigen Orientierungslosigkeit eine neue, alles verbindende Ethik zu finden.

Für seine Überzeugung, daß es trotz aller kulturellen Errungenschaften die allen Lebewesen gemeinsame Natur sei, die den Menschen und sein Handeln bestimme, erklärt Wilson auch intellektuellen Stars wie dem Biologen Stephen Jay Gould oder dem Philosophen Richard Rorty den Krieg. Das alte, selten benutzte Wort “Consilience”, das er sich dazu auf die Fahne geschrieben hat, meint so etwas wie die beratende Versammlung verschiedenster Forschungsfächer.

Eine gleichsam alchemistische Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaften – Ethik, Kunst und Religion eingeschlossen – soll, ausgehend von den darwinistischen Evolutionsthesen und katalysiert von der Biologie, das geistige Fundament bilden, auf dem der Mensch das Gebäude seiner Kultur errichtet.

Bei seiner Theorie von der alle Wissenschaften umfassenden Wissenschaft geht Wilson von zwei Voraussetzungen aus: Zum einen, daß die Naturwissenschaften tatsächlich erklären und beschreiben können, was objektiv in der Welt geschieht. Zum zweiten, daß jede Äußerung von Kultur auf ihren biologischen Ursprung reduziert werden kann und muß: Keine Kultur ohne Gehirn, kein Gehirn ohne Evolution.

Genauso wie die Genetik sich auf die Molekularbiologie stützt, müssen die Grundlagen der Geisteswissenschaften in der darwinistischen Biologie gesucht werden, behauptet Wilson. Die Philosophie werde ewig in einem See gescheiterter Geistesmodelle treiben, wenn sie sich nicht auf den festen Boden des Darwinismus begebe. Auch für den im amerikanischen akademischen Milieu zur Zeit herrschenden Hang zum Relativismus hat er eine Erklärung: Schuld seien Denkfaulheit und Disziplinlosigkeit der Wissenschaftler.

Man merkt: Wilson legt viel Wert auf Ordnung und Geradheit. Auch wenn er im Institut ein Tweedsakko zum Jeanshemd trägt und selbst bei harten verbalen Attacken immer etwas schüchtern wirkt – geistig scheint er die Uniform zu tragen, die sein Land ihm verweigerte. Seine bequeme Kleidung sollte der Besucher nicht als Zeichen der Entspannung verstehen. Obwohl er seit 1997 offiziell im Ruhestand ist, arbeitet Wilson 60 Stunden pro Woche. Davor waren es 80 bis 90. Auch in dieser Hinsicht scheinen seine Lieblingstiere, die Ameisen, sein Vorbild zu sein.

Wilson macht kein Geheimnis aus seiner Verachtung von Intellektuellen, die die genetisch festgeschriebene menschliche Natur nicht akzeptieren. “Unfähig” nennt er sie, “Post-Modernisten”, was bei ihm ein Schimpfwort ist. Seine Enttäuschung darüber, mit welchem Eifer die amerikanischen Wissenschaftler ihre akademischen Mikroterritorien, ihre immer spezieller werdenden Spezialgebiete verteidigen, scheint die Folge einer Sehnsucht zu sein nach verlorener Ordnung, nach einer strengeren Hierarchie, wie man sie in seinen geliebten Ameisennestern findet. Für Wilson gibt es keinen Zweifel an der genetischen Grundlage des Verhaltens, von Konflikt und Kooperation, von Selbstlosigkeit und Eigennutz. Mit der Evolution seien die Programme nur vielfältiger, flexibler geworden.

Vor zwei Jahrzehnten wurde der erste Versuch, auch das Sozialverhalten des Homo sapiens als weitestgehend genetisch bestimmt zu erklären, von vielen Forschern und Medien als Kriegserklärung gegen die Unabhängigkeit des Menschen verstanden. Die gewaltigsten Gegenattacken kamen von zwei Universitäts-Nachbarn: Dem Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould, damals gerade in den Startlöchern auf dem Weg zum Ruhm als Wissenschaftsautor, und dem Genetiker Richard Lewontin, den Harvard dank Wilsons begeisterter Unterstützung angestellt hatte.

Im November 1975 waren alle drei Büronachbarn im Institut für Verglei- chende Zoologie. Dennoch erfuhr Wilson von einem für ihn verheerenden Brief erst, als er bereits in einem New Yorker Journal erschienen war. Zusammen mit 15 Professoren und Studenten der Gruppe ,,Wissenschaft fürs Volk” verglichen Gould und Lewontin die Ideen der Soziobiologie mit dem Nationalsozialismus. Die Soziobiologie würde der Menschheit die Entwicklungsfähigkeit absprechen und sie verpflichten, nach den Gesetzen der Natur, dem Recht des Stärkeren zu leben.

Das war zwar nicht das, was Wilson geschrieben hatte, löste aber eine Woge von Demonstrationen aus. Studenten verlangten Wilsons Entlassung, keine Vorlesung, kein Seminar konnte der Professor ungestört zu Ende bringen, ohne von aggressiven Parolen unterbrochen zu werden. Die Polemik wurde immer heftiger. Noch zwei Jahre später, als Wilson an einer öffentlichen Diskussion teilnahm, goß ihm eine Studentin einen Kübel Wasser über den Kopf.

Diese Proteste sind Geschichte. Alle drei Professoren arbeiten noch heute in Cambridge – und alle drei lehren unterschiedliche Auffassungen der Evolution. Öffentliche Debatten organisiert keiner mehr, diskutiert wird nur noch in geschlossenen Konferenzen der Biologie-Abteilung. Außerhalb davon sind Wilson, Gould und Lewontin angeblich nie im selben Zimmer zu finden.

Die Soziobiologie und einer ihrer Ableger, die Evolutionäre Psychologie sind weitgehend anerkannt, auch dank der Fortschritte im Feld der Hirnforschung. Die Möglichkeiten, mit bildgebenden Verfahren dem Gehirn beim Denken zuschauen zu können, haben die biologischen Grundlagen vieler Verhaltensweisen sichtbar gemacht.

Aber auch Wilson selbst hat seine Thesen verfeinert. In seinem aktuellen Werk “Consilience” schreibt er nicht mehr über Homosexualitäts- oder Selbstlosigkeitsgene, sondern über “epigenetische Regeln”: Statt strikter Programmierung des Verhaltens soll das genetische Erbe bei individuellen Menschen lediglich die Anlagen vorgeben. Ihr tatsächliches soziales Verhalten würde dann durch das Zusammenwirken der Gene mit Tradition und Umwelt geprägt.

Was bleibt, ist Wilsons Überzeugung, daß der freie Wille des Menschen eine Illusion ist, eine Selbsttäuschung, der die Biologie – zunächst Evolutionslehre und Genetik, dann die Hirnforschung – den Boden entzogen habe. Am Ende sollen Menschen doch Maschinen sein – sehr, sehr komplizierte zwar, aber trotzdem verstehbare Maschinen. Selbst die Vorstellungen eines Gottes und des freien Willens wurden von der Evolution in ihre Programme geschrieben, als Hilfe zum Überleben. Nichts Menschliches kann verstanden werden ohne die Biologie. Sagt Wilson.

Im Gegensatz zu früher verbietet er es sich aber, über die gesellschaftspolitischen Konsequenzen seines Denkens zu reden. Noch sei es zu früh, sagt er, für eine objektive, in der Biologie gegründete Ethik. Deshalb hat er – “Consilience” war noch nicht gebunden – eine andere Aufgabe wieder aufgenommen, nämlich die wissenschaftliche Beschreibung von 315 Ameisenarten der Gattung Pheidole. Das bedeutet rund 1000 Stunden am Mikroskop, um jedes einzelne Haar der Insekten auf Millimeterpapier zu zeichnen.

Wenn Wilson von dieser Arbeit erzählt, leuchten seine Augen, und stolz präsentiert er seine Skizzen der Dinoponera grandis, einer Ameisenart, die ihm Insektenforscher aus Sïo Paulo in Brasilien geschickt haben. Der Name paßt, denn Dinoponera grandis sind echte Saurier unter den Ameisen – ihre Soldaten werden drei Zentimeter lang. Dann beschreibt der Harvard-Mann, wie Arbeiterinnen der winzigen Art Pheidole dinophila ihre Nahrung aus den Nestern größerer Ameisenarten stibitzen. Wilson lacht als er den Namen dinophila erklärt: “Freunde der Monster”. Das hier macht ihm Spaß. Dabei kann er seine selbstgestellte Aufgabe, die Welt aufklären zu müssen, eine Weile vergessen.

Marcelo Leite / Edward O. Wilson

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♦ Die Buchstabenfolge mi|kr… kann in Fremdwörtern auch mik|r… getrennt werden.

♦ Mi|kro|wel|len|herd  〈m. 1〉 = Mikrowellengerät

♦ Die Buchstabenfolge mi|kr… kann in Fremdwörtern auch mik|r… getrennt werden.
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