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Von Irrtümern und Fehlurteilen

Allgemein

Von Irrtümern und Fehlurteilen

Als weiteres Merkmal zur Altersschätzung nutzen Forensiker das Entwicklungsstadium der Weisheitszähne. Bei Zähnen bildet sich zuerst die Krone aus und zuletzt die Wurzel. Wie rasch die Weisheitszähne wachsen, hängt von der Ernährung, der Herkunft und vom Grad der medizinischen Versorgung ab. „Bei Schwarzafrikanern reifen die Zähne am schnellsten, bei Mongoliden ist die Entwicklung sehr langsam, Kaukasier und Europide, zu denen wir zählen, nehmen eine Mittelstellung ein“, erklärt Schmeling. Doch sogar innerhalb eines Landes gibt es erhebliche Schwankungen.

Als chinesische Forscher von der Jiaotong-Universität in Xi’an die Zahnentwicklung bei 3212 Nordchinesen analysierten, waren sie verblüfft: Verglichen mit Japanern, die derselben Ethnie angehören, wich das Alter beim selben Zahnstadium um bis zu fünf Jahre ab. Und ­sogar bei den eigenen Landsleuten im ­Süden stellten die Forscher Unterschiede von ein bis zwei Jahren fest – nach oben wie nach unten. „Das ist kein schlüssiges Bild und bedarf der Erklärung“, urteilen die Forscher selbstkritisch.

Wie gut lässt sich also am Zahnstadium ablesen, ob jemand volljährig ist oder nicht? Der Mediziner Tim Cole hat dazu sieben Studien aus verschiedenen Ländern ausgewertet. Er beziffert die Genauigkeit auf 32 bis 76 Prozent. Die große Schwankungsbreite erklärt Cole damit, dass die Methode bei Probanden über 18 Jahren unzuverlässig ist und dass die mangelnde Genauigkeit immer wieder zu Fehlurteilen führt.

Im Zweifel für den Flüchtling?

Unstrittig ist, dass die forensische Altersdiagnostik keine exakten Ergebnisse liefern kann, sondern nur einen Schätzwert. Wenn ein Gutachter das Zahnalter zum Beispiel auf mindestens 18,2 Jahre festlegt, eine Untersuchung der Handknochen mindestens 19,6 Jahre ergibt und des Schlüsselbeins mindestens 17,1 Jahre, soll laut der Arbeitsgemeinschaft für ­Forensische Altersdiagnostik das „Minimalalterskonzept“ angewendet werden. Das heißt für Zuwanderer: Das höchste Minimalalter ist gültig, hier also 19,6 Jahre. Der Flüchtling würde somit als volljährig eingestuft. Zwar betont die Fachgesellschaft, dass die Gutachter den Grundsatz „im Zweifel für den Flüchtling“ beherzigen, dennoch bestimmt das höchste Minimalalter die Bewertung. „Weil es praktisch nie vorkommt, dass ­eine Person tatsächlich jünger ist“, erklärt Andreas Schmeling.

Entscheidend ist, ob durch die Kombination von drei Tests das Mindestalter richtig ermittelt werden kann – und ob es einer Überprüfung Stand hält. Das ist die größte Schwäche der wissenschaftlichen Altersschätzung. Sie wird praktisch nie auf die Probe gestellt. Und die Erfahrungen der Behörden fließen nur tröpfchenweise an Forscher und Gutachter zurück.

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Schmeling erklärt dieses Manko damit, dass Röntgenuntersuchungen an Gesunden zu Forschungszwecken in vielen Ländern nicht erlaubt sind – wegen der Strahlenbelastung. Es existiert lediglich eine Studie aus dem Jahr 2003: Bei 45 Personen, bei denen das Alter forensisch bestimmt wurde, konnte später anhand von Gerichtsakten das tatsächliche Alter festgestellt werden. Im Nachhinein zeigte sich, dass die Forensiker nie mehr als ein Jahr daneben gelegen hatten. Eine gute Trefferquote – aber es stellte sich auch heraus, dass mancher Minderjährige irrtümlich als volljährig klassifiziert wurde.

„Ich will nur meinen Frieden“

Ein Fehlurteil ist umso wahrscheinlicher, wenn der Betreffende an einer chronischen Erkrankung leidet, etwa an einer Schilddrüsenunterfunktion oder an einer Stoffwechselkrankheit, die das Wachstum der Knochen hemmt. Dann lässt sich das Knochenalter nicht beurteilen. Zudem beruhen alle Verfahren auf Röntgen­bildern. Und selbst erfahrene Gutachter interpretieren die Schwarz-Weiß-Aufnahmen unterschiedlich, wie Studien zeigen. Schmeling gibt sogar zu bedenken, dass „nur wenige Gutachter über die erforderliche Sachkenntnis verfügen“.

Makeba erfährt in einem Brief der ­Senatsverwaltung Berlin, dass sie 19 Jahre statt 16 Jahre sei. Innerhalb eines Tages soll sie die Jugendhilfeeinrichtung verlassen, in der sie lebt. Das Gutachten der Charité erhält sie nicht. Sie weiß also nicht, auf welcher Datengrundlage die Schätzung erfolgte. Dabei hat der Behördenentscheid weitreichende Folgen für Makeba: Sie gilt als volljährig, muss ­daher einen Asylantrag stellen und wird – sollte ihr Antrag abgelehnt werden – abgeschoben. Außerdem muss sie in einem Asylbewerberheim unterkommen. Sie erhält keine finanzielle Krankenhilfe, keinen Unterhalt. Eine Ausbildungsstätte kann sie nicht ohne Weiteres besuchen, wie es bei Minderjährigen Pflicht ist. 2013 war sie sich dieser Konsequenzen nicht bewusst. Heute sagt sie sichtlich ­resigniert und erschöpft: „Das ist nicht mein Problem, ich kenne mein wahres ­Alter. Ich will nur meinen Frieden.“

Weiterlesen

Teil I Sag mir erst, wie alt du bist

Teil II Das Alter an den Knochen ablesen

Teil III Von Irrtümern und Fehlurteilen (Sie sind hier)

Teil IV Was die Psyche verrät

Der Beitrag ist in bild der wissenschaft 10/2016 erschienen.

© wissenschaft.de – Susanne Donner
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Ta|pir  〈m. 1; Zool.〉 Angehöriger einer Familie von Pflanzenfressern, die den Schweinen ähneln: Tapiridae [<Tupi–Sprache tapira … mehr

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